Frauenkampf in den ehemaligen IS-Gebieten

Die Frauenunion Zenobiya führt in den ehemaligen IS-Gebieten Minbic, Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor den Frauenkampf an. Insbesondere Deir ez-Zor ist eine extrem schwierige Region für den Frauenbefreiungskampf.

„Frauen gewannen die Kraft, ihre Existenz zu verteidigen“

Deir ez-Zor ist eine traditionell von Stämmen geprägte Region im Osten Syriens. Die Menschen in dem selbstverwalteten, eher konservativ geprägten Gebiet um die Metropole Deir ez-Zor bis hin zur irakischen Grenze leiden bis heute unter dem Terror von IS-Schläferzellen und Angriffen des Assad-Regimes. Frauen sind gleich auf mehreren Ebenen Angriffsziel, einerseits durch patriarchale Familienstrukturen, andererseits durch den Terror des IS. Auch die Regionen Minbic, Tabqa und Raqqa haben ähnliche Probleme. Doch seit der Befreiung von der Herrschaft des IS verändert sich die Region. Frauen kämpfen für Freiheit. Eine wichtige Rolle spielt dabei ist die Frauenunion Zenobiya. Ihre Sprecherin Shahrazat al-Jasim beschrieb im ANF-Gespräch die Entwicklungen für Frauen in der Region und den Kampf der Frauenunion.


Sie führte aus: „In den vom IS besetzten Regionen Tabqa, Raqqa, Minbic und Deir ez-Zor lebten die Frauen fünf Jahre lang in Finsternis und waren zahlreichen Formen der Unterdrückung ausgesetzt. Der IS versuchte, Frauen den Willen zu nehmen und ihre Verbindung zum Leben zu unterbrechen. Die Frauen in diesen Regionen durchlebten schwere Zeiten. Die menschenfeindliche Gesinnung des IS verschlimmerte die Zwänge gegenüber Frauen auf allen Ebenen. Dank des Kampfes gegen die IS-Barbarei, der in Kobanê begann und in al-Bagouz endete, hatten die Frauen jedoch nach fünf Jahren die Möglichkeit, ein freies Leben zu führen. Dank dieser von den YPG und YPJ angeführten Aktionen konnte sich die Region von der Barbarei befreien. Insbesondere der von den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) geführte Kampf gab den Frauen, die jahrelang tyrannisiert worden waren, große Hoffnung und Kraft.

Nach der Befreiung dieser Regionen wurde ein Organisierungsprozess in die Wege geleitet, damit die Frauen wieder einen festen Platz im gesellschaftlichen Leben einnehmen und ihren eigenen Willen verwirklichen konnten. Die Frauen begannen, sich an gesellschaftlichen Institutionen zu beteiligen. Frauen, die sich in der Gefangenschaft des IS befunden hatten, waren zahlreichen Schikanen ausgesetzt gewesen; Praktiken wie Entführung, Vergewaltigung, Mord, Folter und willkürliche Einkerkerung hatten bei den Frauen eine tiefe Furcht ausgelöst und ein schweres Trauma verursacht. Die Frauen begannen allmählich, sich an den sozialen Einrichtungen zu beteiligen, um diesen Zustand zu überwinden. Natürlich war dieser Prozess nicht einfach; das vom IS im gesellschaftlichen Bereich verbreitete Verständnis, die traditionelle Mentalität der Gesellschaft und die auf dem Patriarchat basierenden staatlichen Systeme haben die Region und ihre Menschen geprägt und eine Politik des Ausschlusses von Frauen aus dem Leben und der Gesellschaft forciert.

Gleichzeitig war die Gesellschaft in dieser Hinsicht sehr starr und akzeptierte die Beteiligung der Frauen nicht. Als Vorreiterin der Revolution war Kobanê auch Vorreiterin bei der Gründung von Fraueninstitutionen. Denn Kobanê war der Ort, der im Krieg gegen IS den höchsten Preis zahlen musste. In diesem Sinne wurden dort, nachdem Kobanê befreit worden war, die ersten Fraueneinrichtungen eröffnet. Nach Kobanê wurde auch Minbic befreit. Minbic ist ein Gebiet an der Grenze, das ständig angegriffen wurde; daher war eine starke Organisierung erforderlich, damit die Frauen hier die Führung übernehmen konnten. So konnten die Frauen bis zu einem gewissen Grad verhindern, was man in diesem Gebiet vorhatte. Auch in Minbic fruchteten die Bemühungen, Frauen, die sich aufgrund der traditionellen Mentalität der Gesellschaft zurückgezogen hatten, in diese Aktivitäten einzubeziehen. In Minbic gab es durch die Bildungsarbeit für Frauen, die Hausbesuche und die Arbeit im Allgemeinen wichtige Fortschritte. Raqqa hatte der IS als seine Hauptstadt auserkoren, und Frauen waren dort besonders schweren Sanktionen unterworfen. Als die Stadt befreit wurde, begrüßten die Frauen von Raqqa die YPJ, die YPG (Volksverteidigungseinheiten) und die QSD (Demokratischen Kräfte Syriens) daher mit großer Freude.

Der Frauenkampf in Deir ez-Zor ist besonders hart

Heute haben die Frauen hier große Schritte unternommen, um sich im Zuge des Projekts der Demokratischen Nation und der Selbstverwaltung ein freies Leben aufzubauen. Die letzte Region, die befreit wurde, war Deir ez-Zor. Allerdings war Deir ez-Zor das Gebiet, in dem die meisten Schwierigkeiten und Probleme auftraten. Die traditionelle Struktur ist hier sehr tief verwurzelt und auf einem Stammessystem aufgebaut. Aus diesem Grund wurde nicht akzeptiert, dass Frauen das Haus verlassen und in Institutionen arbeiteten. Hinzu kommt, dass die andere Seite des Flusses [Euphrat] in der Region Deir ez-Zor unter der Kontrolle der Regierung in Damaskus steht. Einige der Stämme sind auf unserer Seite, andere auf der anderen. Diese Stämme haben weiterhin Verbindungen zueinander. Diese Situation hat unmittelbare Auswirkungen auf jegliche Arbeit und Entwicklung, insbesondere für Frauen. Daher erfordert die Organisierung der Frauen in Deir ez-Zor, die Annäherung der Frauen an die Institutionen und deren aktive Beteiligung in anderen Lebensbereichen, einen großen Kampf und mutige Schritte.“

Kampf gegen die traditionelle Mentalität

Al-Jasim beschrieb den Kampf gegen die patriarchale Mentalität als schwierig und erklärte: „Die Frauen haben gezeigt, dass dieses System mit seiner gegen sie gerichteten Mentalität dennoch keinen Erfolg haben wird. Denn sie haben allem zum Trotz Fraueninstitutionen gegründet, ihre eigenen autonomen Systeme in diesen Gebieten auf organisierte Weise aufgebaut und alle Frauen in dieses System einbezogen. Die Frauen in Tabqa, Minbic, Deir ez-Zor und Raqqa haben bis 2021 am Aufbau ihrer autonomen Organisationen gearbeitet. Im Jahr 2021 gründeten Frauen in diesen Regionen die Frauenunion Zenobiya, mit dem Ziel, ihre Organisierung systematisch auszuweiten und noch mehr Frauen zu erreichen. Der Name Zenobiya wurde gewählt, weil Zenobiya als eine wichtige Figur und Wegbereiterin für Frauen in dieser Region gilt. In diesem Sinne war es für uns sehr wichtig, dass Frauen, die aus den besetzten Gebieten befreit wurden, dies repräsentieren. Wir waren alle der Meinung, dass wir nicht nur die Persönlichkeit einer freien Frau in uns selbst schaffen sollten, sondern auch, dass die Frauen im ökologischen, sozialen und geschlechterbefreienden Kampf eine größere Vorreiterinnenrolle einnehmen müssten und dies vor allem auch in sich selbst verwirklichen sollten. Die Frauen in diesen Regionen waren der Mentalität des IS am stärksten ausgesetzt, sie haben seine Tyrannei bis in die letzte Faser hinein erlebt und am stärksten gelitten. Aus diesem Grund hat jede von uns bei sich selbst angefangen; wir wollten zu uns selbst finden, diese Mentalität durchbrechen und unseren Willen zurückgewinnen. Danach wurde es unsere Hauptaufgabe, diesen Kampf auf den gesellschaftlichen Bereich auszuweiten. Wie wir heute sehen können, ist die Frauenunion Zenobiya in allen aus den Händen des IS befreiten Gebieten führend. Besonders in diesen Gebieten kämpft Zenobiya entschlossen gegen die Mentalität und die Kräfte, die versuchen, Verwirrung, Aufruhr und Konflikte in der Gesellschaft zu stiften. Während der jüngsten Angriffe auf Deir ez-Zor spielte Zenobiya eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung der Gesellschaft gegen diese Überfälle und die Versuche der Angreifer, Konflikte zu schüren. Unter der Führung von Zenobiya wurden die angegriffenen Gebiete aufgesucht und den geschädigten Zivilistinnen und Zivilisten geholfen. Alle Aktionen gegen diese Angriffe wurden von Frauen angeführt. Wir werden auch in Zukunft mit der gleichen Entschlossenheit gegen die Angriffe kämpfen. Wir stützen uns dabei auf die Linie der freien Frau. Wir werden den notwendigen Kampf führen, um unsere Freiheit, die uns vor Tausenden von Jahren genommen wurde, wiederzuerlangen und zu verteidigen. Während Frauen in der Menschheitsgeschichte der grundlegendste Teil des Lebens waren, wurden sie zu einem machtlosen und aller Rechte beraubten Wesen gemacht. Auch der IS war ein Teil dieser Geisteshaltung. Dagegen kämpfen wir heute an. Um zu verhindern, dass sich die IS-Mentalität weiter fortsetzt, müssen wir unseren Kampf von Tag zu Tag verstärken. Die IS-Zellen in der Region haben negative Auswirkungen auf die Arbeit der Frauen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir unseren Kampf aufgeben werden. Im Gegenteil, wir versuchen dieses Problem zu überwinden, indem wir unseren Kampf verstärken und unsere Bildungsprogramme ausweiten. Wir haben trotz aller Probleme und aller Angriffe und Hindernisse, die uns den Weg versperren, große Erfolge erzielt. Natürlich wurde unsere Arbeit von Zeit zu Zeit blockiert oder gestört, aber wir haben nie aufgegeben.“

Arbeitsmethoden im Frauenkampf

Shahrazat al-Jasim beschrieb die Arbeits- und Organisierungsmethoden der Frauenunion Zenobiya wie folgt: „Unser Hauptsitz befindet sich in Raqqa. Diesem Zentrum sind vier Räte angeschlossen, denn Zenobiya ist auf vier Regionen aufgeteilt: Raqqa, Tabqa, Minbic und Deir ez-Zor. Jede dieser Regionen hat einen eigenen Rat. Diese vier Räte sind Raqqa angeschlossen und werden dort koordiniert. Darüber hinaus hat jede Region ihr eigenes Zentrum. In den Bezirken, Städten und Dörfern gibt es Komitees, die dem Zentrum der jeweiligen Region unterstellt sind. Jede Region hat eine Sprecherin, die für alle Arbeiten verantwortlich ist. Es gibt Abteilungen wie Bildung, Gesundheit, Soziales und Gerechtigkeit. Es gibt auch ein Frauenhaus, das Zenobiya angegliedert ist.

Zenobiya kämpft für alle Frauen

Fünf Zentren arbeiten unter dem Dach von Zenobiya in Deir ez-Zor, und auch das Lager Abu Ghashab ist der Union angeschlossen, aber die Zahl der Zenobiya-Frauenzentren wird auf Vorschlag der Frauen im östlichen Teil von Deir ez-Zor erhöht werden. Zwischen Kongra Star und Zenobiya gibt es ein starkes System der Zusammenarbeit. Es gibt gemeinsame Treffen und gemeinsame Arbeitsabläufe, und beide haben viele gemeinsame Aktivitäten entwickelt. Der Kampf und die von beiden Organisationen vertretene Linie sind identisch. Zenobiya kämpft nicht nur für ein Volk, sondern für die Frauen aller Volksgruppen. Sie beschränkt ihre Arbeit in keiner Weise auf ein Volk oder eine Region. Die von ihr vertretene Linie und Philosophie ist auf alle Frauen ausgerichtet. Die Leiden und Probleme aller Frauen, insbesondere im Nahen Osten, sind eins; die Freiheit der Frauen ist eine notwendige Bedingung für alle Frauen, nicht nur für ein Volk oder eine Region. Die Verwirklichung des Willens der Frauen und der Freiheit der Frauen ist unser aller gemeinsames Ziel.“

Vier Jahre unter der Terrorherrschaft des IS

Al-Jasim lebte selbst vier Jahrelang unter der Schreckensherrschaft des IS. Daher unterstreicht sie, dass sie den Schmerz und die Erwartungen der Frauen in den heute von der Türkei und IS-Überresten besetzten Gebieten kenne. Sie sagte: „Für mich war es sehr bedeutsam, an einer solchen Arbeit teilzunehmen. Als die Region von der IS-Herrschaft befreit wurde, waren Frauenarbeit, Frauenverwaltung und Fraueninstitutionen für uns sehr interessant und attraktiv. Als zum Beispiel von weiblichen Führungspersönlichkeiten die Rede war, waren wir neugierig: Was ist eine weibliche Führungskraft? Was machen sie? Womit beschäftigen sie sich? Solche Fragen gingen uns durch den Kopf. Um die vom IS verursachte Finsternis zu vertreiben, interessierten wir uns immer mehr für diese Arbeiten und nahmen unseren Platz darin ein. Je mehr wir uns in die Arbeit stürzten und sie kennenlernten, desto besser konnten wir die Situation verstehen. Ich habe vier Jahre lang unter der Gewalt des IS gelebt. Deshalb wurde mir, nachdem ich mich an den Arbeiten beteiligt hatte, klar, dass ich mich und meine Familie vor dieser finsteren Mentalität befreien musste. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass es für uns nicht leicht war, zu einer solchen Schlussfolgerung zu gelangen. Nach der Befreiung der Region durch die QSD und als sich die Aktivitäten der Frauen in der Region zu entwickeln begannen, begann ein Konflikt in uns selbst. Die vom IS geschaffene Mentalität und die Mentalität der freien Frauen prallten in uns selbst aufeinander. Ich kann sagen, dass jede von uns anfing, mit sich selbst zu ringen und zu kämpfen. Als wir jedoch die Kraft und den Willen der Frauen und ihre wahre Aufgabe in der Gesellschaft kennenlernten und verstanden, begannen wir, eine stärkere Kampfkraft zu entwickeln. Dank der Entwicklung von Frauenprojekten in Gebieten wie Tabqa, Raqqa, Minbic und Deir ez-Zor war es den Frauen damals möglich, ihre Stimme zu erheben. Die Frauen gewannen die Kraft, ihre Existenz und Rechte gegen die traditionellen Vorschriften und Stammesstrukturen in der Gesellschaft zu verteidigen.

Kampf gegen Vielehe und Kinderehe

Die Frauen begannen, sich gegen die Kinderehe und die Polygamie zu stellen. Diese Praktiken hatten während der IS-Herrschaft zugenommen. Wir haben zunächst versucht, die Gesellschaft gegenüber diesen Praktiken zu sensibilisieren. Dieser Kampf hat zu wichtigen Entwicklungen geführt. Allerdings kann man noch nicht von einem vollständigen Erfolg sprechen. Dennoch kann ich sagen, dass sich in der Gesellschaft ein erhebliches Maß an Sensibilisierung entwickelt hat. Ich kann nicht sagen, dass wir vollständig befreit wurden und unsere Rechte erlangt haben. Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen gibt es vielerorts noch immer. Vor allem in den vom türkischen Staat besetzten Gebieten leben die Frauen in Finsternis. Wir können nicht sagen, dass alles in Ordnung ist, solange wir sie nicht befreien und die Mentalität der gesamten Gesellschaft gegenüber den Frauen in unseren eigenen Gebieten nicht ändern. So wie wir jahrelang unter der Unterdrückung durch diese Mentalität gelitten und jeden Augenblick damit verbracht haben, darauf zu warten, dass jemand kommt und uns rettet, erleben diese Frauen heute die gleichen Gefühle und Erwartungen. Unsere oberste Priorität ist es, diese Frauen zu retten. Auch hier betreiben die Mächte, sowohl die Regionalstaaten als auch einige internationale Staaten, eine schmutzige Politik; es werden alle möglichen Spielchen gespielt, um Instabilität und Konflikte in der Region zu erzeugen. Während auf der einen Seite Angriffe verübt werden, werden auf der anderen Seite Spezialkriegsmethoden, wie z.B. die Verbreitung von Drogen angewandt, um die Gesellschaft zu korrumpieren und die moralische Struktur zu zerstören. Der türkische Staat steht dabei natürlich an vorderster Front. Auch die Regierung in Damaskus und andere regionale Staaten sind an diesem Prozess beteiligt. Ihr Hauptziel besteht darin, das Projekt der demokratischen Nation, das in diesen Regionen entwickelt wurde, und den Kampf der Frauen, zu vernichten. Wir werden unseren Kampf und unsere Arbeit fortsetzen. Wir werden niemals vor diesen Kräften zurückschrecken. Als Zenobiya werden wir unseren Kampf gegen all diese Angriffe fortführen und unseren Kampf noch weiter verstärken.“