Kongra Star feiert 19-jähriges Bestehen

Seit 2005 existiert in Nordsyrien eine organisierte Frauenbewegung, die die Gesellschaft verändert hat: Kongra Star folgt der Maxime, dass keine Frau ohne Organisierung zurückgelassen werden soll. Heute feiert die Organisation ihr 19-jähriges Bestehen.

Der Dachverband der Frauenbewegung in Nord- und Ostsyrien, Kongra Star, feiert sein Gründungsjubiläum. Seit nunmehr neunzehn Jahren stellt die Organisation die Rechte und Interessen von Frauen und Mädchen in den Mittelpunkt ihres Wirkens, setzt sich für die Verwirklichung der Rechte auf Selbstbestimmung und die Gleichberechtigung aller Geschlechter ein, kämpft in allen Bereichen des Lebens gegen Ungleichheit und Patriarchat und wendet sich gegen jede Form von Gewalt, Sexismus und Rassismus. Und: Kongra Star trägt eine maßgebliche Rolle daran, dass Frauenrechte im gesellschaftlichen System von Nord- und Ostsyrien verankert sind, wie etwa ihr Mitwirken an der Erarbeitung des Gesellschaftsvertrags zeigt, und die Selbstorganisation und Selbstverteidigung von Frauen immer weiter ausgebaut wird. Das Selbstverständnis der Bewegung: „Frauen müssen sich selbst organisieren. Nur dann können sie die bestehenden patriarchalen Strukturen herausfordern und machbare, nachhaltige Alternative schaffen. Ohne die Freiheit der Frauen ist eine wirklich freie Gesellschaft unmöglich.“

Hauptlosung: Jin, Jiyan, Azadî

Die zentrale Maxime von Kongra Star lautet „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit). Dieser kurdische Ausruf ist seit Jahrzehnten das Motto der kurdischen Frauenbefreiungsideologie. „Jin Jiyan Azadî“ steht nicht nur für Widerstand, sondern für den Willen, die Kraft und die Organisation zum Aufbau eines neuen Systems unter der Führung von Frauen. Der Autor dieser Formel ist Abdullah Öcalan, Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Seit den Achtzigerjahren betonte er in seinen Reden und Schriften immer wieder, dass die Worte Jin und Jiyan in Kurdistan dieselben Wurzeln, dieselbe Bedeutung haben, und dass ein freies Leben ohne die Befreiung der Frauen nicht möglich ist.

Planung für 2024

„Deshalb wird sich Kongra Star auch fortan dafür einsetzen, dass Abdullah Öcalan befreit wird. Gleichermaßen setzen wir unser Wirken dahingehend fort, die Freiheit aller Frauen zu gewährleisten. Dies im Schatten der patriarchalen Mentalität der Besatzer, die uns tagtäglich angreifen“, erklärt der Dachverband in einer Mitteilung. Darin stellt Kongra Star auch das Programm der Frauenbewegung in Nord- und Ostsyrien für das laufende Jahr vor. Geplant ist demnach die Gründung von mehreren Frauendörfern ähnlich wie Jinwar, Frauenakademien und Frauenbibliotheken. Darüber hinaus sollen weitere Projekte zur wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Stärkung der Frauen umgesetzt werden, ein Park im Gedenken an die von iranischen Sittenwächtern ermordete Kurdin Jina Mahsa Amini angelegt und Obstbäume gepflanzt werden, deren Ernte zu Verkaufszwecken für Frauen bestimmt ist. Vorgesehen ist auch eine Konferenz für die Freiheit von Abdullah Öcalan, die von Kongra Star und dem Öcalan-Aktionskomitee getragen wird.


Von Yekîtiya Star zu Kongra Star

Die Frauenbewegung in Rojava wurde am 15. Januar 2005 unter dem Namen Yekîtiya Star gegründet. Ihre Aktivistinnen waren massiven Repressionen wie Verhaftung und Folter durch das syrische Baath-Regime ausgesetzt. Trotz schwerster Bedingungen haben sie mit ihrer Arbeit Grundlagen für Frauenorganisierung geschaffen, indem sie in allen westkurdischen Städten mit dem Aufbau von Frauenräten und -kommunen begannen. Dabei konnten sie auf die 30-jährige Erfahrung der kurdischen Frauenbewegung aus allen Teilen Kurdistans zurückgreifen.

Doppeltes Engagement

Auf ihrem 6. Kongress im Februar 2016 hat sich Yekîtiya Star umbenannt in Kongra Star (nach nordkurdischer Mundart auch Kongreya Star). Star ist in der kurdischen Mythologie der Name der Göttin Ischtar (Inanna) und bedeutet im heutigen Sprachgebrauch auch Stern. In der Kongra Star organisieren sich Frauen und Frauenorganisationen auf kommunaler, städtischer und kantonaler Ebene autonom und übernehmen ebenso engagierte Verantwortung in der gesamtgesellschaftlichen Organisierung. Durch dieses doppelte Engagement wird von der Frauenbewegung aktiv die Gesellschaft von einer patriarchalen in eine geschlechterbefreite umgestaltet und in allen Lebensbereichen die Perspektiven der Frauenbewegung eingebracht.

Treibende Kraft für friedliches Zusammenleben

So ist Kongra Star treibende Kraft für das friedliche Zusammenleben aller Interessengemeinschaften, Ethnien und Religionsgruppen in einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft. Sie ist eine Plattform für die Einheit der Frauen verschiedener politischer Parteien, Ethnien und Religionen in Rojava wie arabischen, assyrischen und kurdischen, ezidischen, muslimischen, alevitischen und christlichen Frauen. In den befreiten Städten Westkurdistans wurden Frauenkomitees, -zentren und -akademien ins Leben gerufen, um die aktive Beteiligung von Frauen an der Umgestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen. Die dort gebotene Bildung reicht von Themen wie demokratische Autonomie, Selbstverteidigung, Kultur, Ökologie, die Geschichte der Frau, Sexismus und Frauenrechte bis hin zu gesundheitlichen Themen. Ein Schwerpunkt liegt auf Alphabetisierung und Unterricht in kurdischer Sprache. An vielen Orten wurden Frauenhäuser, die Mala Jin, eröffnet. Die Frauenhäuser sind nicht nur Schutzräume bei Fällen von häuslicher Gewalt und Missbrauch, sondern auch Bildungs- und Beratungszentren, in denen sich die Frauen treffen, in denen Bildungs- wie auch Beratungsarbeit stattfindet. Die Frauenräte sind das verbindende und beschlussfassende Gremium aller Frauen auf Stadt- bzw. Kantonsebene. In allen Städten Westkurdistans und in den syrischen Städten, in denen viele Kurd:innen leben, wurden Frauenräte mit 150 bis 250 Mitgliedern gewählt, um die politischen Interessen von Frauen zu vertreten und den Aufbau einer demokratisch-ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft voranzutreiben.

Ausweitung des Arbeitsgebiets

Die Frauenräte entsenden Vertreterinnen in die allgemeinen Volksräte, um dort Ideen, Wünsche und Forderungen der Frauenbewegung einzubringen. Zudem besteht in den gemischtgeschlechtlichen Strukturen auf allen Ebenen eine Doppelspitze, bestehend aus einer Frau und einem Mann (z.B. in den Räten selbst, in der größten westkurdischen Partei, der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), in den Stadtverwaltungen etc.). Durch die autonome Organisierung der Frauen werden Frauenrechte auf allen Ebenen der Gesellschaft verteidigt, das heißt ideologisch, politisch und auch sozial. Das Wissen, die Gedanken, die von Frauen geschaffenen gesellschaftlichen Werte und ihre historischen Kämpfe finden eine besondere Anerkennung. Mit der Ausrufung der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien hat sich auch das Arbeitsgebiet von Kongra Star ausgeweitet.