„Der neue Gesellschaftsvertrag wird einen radikalen Wandel mit sich bringen“

In Nord- und Ostsyrien ist ein neuer Gesellschaftsvertrag in Kraft, an dem auch Dr. Ebîr Hessaf vom Frauenrat mitwirkte. Sie sieht in dem Gesetzeswerk die Möglichkeit eines neuen Syriens und eine echte Lösung für die seit 2012 andauernde Krise.

In der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien ist am 12. Dezember nach einem langen demokratischen Prozess ein neuer Gesellschaftsvertrag in Kraft getreten, der die grundlegenden Rechte und Freiheiten der Menschen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Ausgestaltung der Demokratie, der Selbstverteidigung und der Justiz regelt. Seit 2018 wurde diese neue Version in der Gesellschaft diskutiert, da das zwei Jahre zuvor verabschiedete Gesetzeswerk ohne die arabisch geprägten Regionen Raqqa, Tabqa, Minbic (Manbidsch) und Deir ez-Zor verabschiedet wurde.

Dr. Ebîr Hessaf ist Mitglied der Koordination des Frauenrats von Nord- und Ostsyrien. Im Interview mit ANF äußerte sie sich über ihre Sicht auf den neuen Gesellschaftsvertrag. Die führende Frauenvertreterin erklärte, dass im Gesellschaftsvertrag alle ethnischen Identitäten, Religionen, Konfessionen, Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen berücksichtigt sind. Auf dieser Grundlage solle das System aufgebaut werden. „Erstmals haben sich die Völker im Nahen Osten auf ein gemeinsames Leben geeinigt. Und zum ersten Mal werden Kurd:innen, Araber:innen, Suryoye, Turkmen:innen, Armenier:innen, Tscherkess:innen, Tschetschen:innen, Muslim:innen, Christ:innen und Ezid:innen in einem Gesellschaftsvertrag benannt und ihre Rechte garantiert.“


Der neue Gesellschaftsvertrag regelt in 134 Paragraphen neben der Umbenennung der Autonomen Administration in „Demokratische Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien“ eine den aktuellen Bedürfnissen angepasste konkrete Ausgestaltung der gesellschaftlichen Demokratie, beginnend von den Nachbarschaften, über Städte, Kantone hin zum Demokratischen Rat der Völker. Die Räte sind eine Mischform aus repräsentativen Wahlen und Vertreter:innen von organisierten gesellschaftlichen Gruppen, wie Ethnien, Glaubensgemeinschaften, Frauen und Jugend. Das System wurde von der Basiskommune bis hin zum Rat, von der Basisökonomie zur Volkswirtschaft, von Gesundheit bis Bildung, weiter auf die Bedürfnisse der Region und der Gesellschaft angepasst. Wie sich hier bereits zeigt, wird in dem neuen Gesellschaftsvertrag an den radikaldemokratischen Prinzipien der demokratischen Autonomie festgehalten. Gleichzeitig ist die Schaffung einer unabhängigen Anstalt für Finanzaufsicht, zur Bewältigung der Wirtschaftskrise und Sicherstellung von Zahlungsfähigkeit vorgesehen. Zum Schutz des Gesellschaftsvertrags soll ein Gericht aufgebaut werden. Der Frauenrat wurde in die wichtigsten Artikel des Gesellschaftsvertrags explizit als Organ aufgenommen und damit rechtlich abgesichert. Die regionale Struktur wurde ebenfalls geändert und soll nun aus sieben Kantonen bestehen: Cizîrê, Firat, Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Minbic und Efrîn-Şehba.

Wie begannen die Diskussionen um einen Gesellschaftsvertrag?

Im Jahr 2014 wurde ein Gesellschaftsvertrag geschaffen, der nur die Regionen Efrîn, Cizîrê und Kobanê umfasste. Wir können sagen, dass es sich dabei um einen Vertrag handelte, der die befreiten Gebiete und die Regionen mit einer großen kurdischen Bevölkerung umfasste. Das kurdische Volk war Vorreiterin, aber wir können sagen, dass der Gesellschaftsvertrag auch die anderen ethnischen Identitäten miteinschloss. Im Jahr 2017, als der Übergang zum System des Demokratischen Konföderalismus vollzogen wurde, fand eine Wahl in zwei Stufen statt. Aber aufgrund der türkischen Invasion in Efrîn konnte die dritte Stufe dieses Prozesses nicht erreicht werden. Da der Aufbau des Systems nicht abgeschlossen war, wurde in der Region ein duales System geschaffen. Während das System der Selbstverwaltung umgesetzt wurde, existierte parallel dazu das Rätesystem. Mit der Befreiung weiterer Gebiete wie Tabqa, Raqqa, Deir ez-Zor und Minbic dehnte sich die Region weiter aus. Auch in den befreiten Gebieten wurden Zivilräte ausgerufen. Diese Zivilräte wurden in die Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien integriert. In dieser Zeit wurde der Gesellschaftsvertrag umgesetzt, aber in einigen Gebieten gab es Zivilräte, während in anderen das System der Autonomieverwaltung eingeführt wurde. So wurden in dieser Zeit Cizîrê, Efrîn und die Euphrat-Region als Selbstverwaltungssystem organisiert, während Raqqa, Tabqa und Minbic als Zivilräte organisiert wurden. Mit der Befreiung von Deir ez-Zor wurde auch dort die Gründung eines Zivilrats ausgerufen.

Welcher Weg wurde in Bezug auf die befreiten Gebiete eingeschlagen?

Im Jahr 2021 wurde ein neuer Anlauf für die dritte Stufe unternommen. Es ging darum den Gesellschaftsvertrag zu verändern und den neuen Bedingungen anzupassen. Das parallele Existieren des Systems der Selbstverwaltung einerseits und des Systems der Zivilräte andererseits erschwerte den Aufbau des Modells in Nord- und Ostsyrien und brachte sowohl Durcheinander als auch Abweichungen. Aus diesem Grund wurde ein aus 158 Personen bestehender Ausschuss für die Schaffung eines neuen Gesellschaftsvertrags gegründet und der Übergang zu einem neuen System beschlossen. Das Komitee umfasste Vertreterinnen und Vertreter verschiedener ethnischer, religiöser und konfessioneller Gruppen sowie der Jugend und der Frauen. Ein enger Ausschuss von 30 Personen, der aus den 158 Mitgliedern ausgewählt wurde, sollte das ganze Spektrum abdecken. Der Entwurf des Gesellschaftsvertrags wurde etwa ein Jahr lang diskutiert. Es wurden Dutzende von Sitzungen abgehalten, der Entwurf wurde vielen Institutionen und Organisationen vorgelegt, und deren Meinungen und Vorschläge wurden eingeholt. Im Dezember fand eine viertägige Sitzung statt, auf der die eingegangenen Stellungnahmen und Vorschläge in den Entwurf eingearbeitet wurden. Der Gesellschaftsvertrag wurde am 12. Dezember von der Generalversammlung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien angenommen.

Sie haben festgestellt, dass das bestehende System bei der Schaffung eines organisierten und integrativen Systems auf Hindernisse gestoßen ist. Was meinen Sie damit?

Es gab Gebiete, die nicht befreit waren. Deshalb waren sie nicht in den Schaffungsprozess des Gesellschaftsvertrags einbezogen gewesen. Diese Menschen, die in den zwischenzeitlich befreiten Regionen leben, hatten ebenfalls das Recht, an diesem Prozess teilzunehmen. Die Tatsache, dass das Verwaltungssystem nicht ganzheitlich war, führte zu Krisen. Es bestand der Bedarf nach einer Vereinheitlichung des Systems, damit die Menschen gemeinsam unter gleichberechtigten Bedingungen leben konnten. Einer der wichtigsten Grundsätze des Gesellschaftsvertrags ist der lokale Konföderalismus. Auch dieser musste überarbeitet werden. Früher lag der Frauenanteil zwischen 30 und 40 Prozent, jetzt liegt er bei 50 Prozent. In einigen Regionen war das Familiengesetz bereits in Kraft, in anderen noch nicht. Ein Grundsatz des neuen Gesellschaftsvertrags ist, dass das Familiengesetz überall umgesetzt werden muss. Es lassen sich viele ähnliche Beispiele anführen.

Was ist die Bedeutung des Gesellschaftsvertrags?

Die in der Region lebenden Völker haben das Recht, einen Leitfaden für ihr Leben zu erstellen. Bekanntlich geht die Syrien-Krise bereits in ihr dreizehntes Jahr. Mitten in dieser Krise wurde ein System geschaffen, das sowohl dem Krieg standgehalten als auch ein demokratisches, soziales und ökonomisches Leben aufgebaut hat. Dieses System wurde auf der Grundlage der Wünsche und der Arbeit des Volkes verwirklicht. Deshalb musste eine Roadmap festgelegt werden, damit die Menschen zusammenkommen, diskutieren und ihre Zukunft in einem neuen Aufbauprozess gestalten konnten. Daher war ein solcher Vertrag notwendig. Der Norden und Osten Syriens ist bekanntlich eine reiche Region, in der verschiedene ethnische Identitäten leben. Es gab weit verbreitete Vorurteile darüber, ob die verschiedenen Identitäten zusammenleben und ein gemeinsames Leben in der Region aufbauen könnten, aber innerhalb des demokratisch aufgebauten Systems fand jede nationale, ethnische oder konfessionelle Identität, jede Sprache und Kultur sowie jede Weltanschauung ihre Vertretung durch den Gesellschaftsvertrag. Man kann sagen, dass sich die Völker im Nahen Osten zum ersten Mal auf ein gemeinsames Leben einigen konnten. Der Gesellschaftsvertrag ist ein Vertrag der Völker und muss von den Völkern geschützt werden. Denn so wie er eine große Chance für den Nahen Osten darstellt, ist er auch eine große Chance für die Demokratisch-Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien. Wenn die Rechte der Frauen in einem Vertrag geschützt und verteidigt werden, müssen die Frauen die Verteidigerinnen dieses Vertrages sein. Wenn die Rechte der Jugend geschützt werden und die Einzigartigkeit der verschiedenen ethnischen Identitäten, Religionen und Konfessionen nicht ignoriert, sondern garantiert wird, sollte die Gesellschaft die Verteidigerin dieses Vertrags sein.

Der Gesellschaftsvertrag hat auch das Potential, eine Lösung für die Krise in Syrien zu sein. Seit dem Beginn der Syrienkrise bis heute wurden mehrere internationale Konferenzen organisiert. Aber was ist das Ergebnis dieser Zusammenkünfte? Millionen Syrerinnen und Syrer sind heute auf der Flucht, Tausende werden vermisst, zehntausende Häuser wurden zerstört und geplündert, und Millionen von Menschen leben in Zelten. Bislang wurde keine andere Möglichkeit präsentiert als der Gesellschaftsvertrag, der den Aufbau eines friedlichen, sicheren und gemeinsamen Lebens für die Völker vorsieht.

Was sind die Grundprinzipien des Gesellschaftsvertrags?

Er umfasst die Grundsätze, die den Aufbau einer ökologischen und demokratischen, auf der Befreiung der Frau und der Grundlage des sozialen Konföderalismus beruhenden Gesellschaft gewährleisten. Seine Eckpfeiler sind die Prinzipien der Geschlechtergleichheit, der Verhinderung jeglicher Diskriminierung aufgrund von ethnischer, religiöser oder konfessioneller Identität, der Akzeptanz der Muttersprache einer jeden Identität und einer Perspektive, welche die vielfältige demographische Struktur der Region als ein Erbe betrachtet, das geschützt werden muss. Die Rechte der verschiedenen nationalen Identitäten wurden in Syrien noch nie respektiert. Zum ersten Mal werden in einem solchen Dokument oder Abkommen Kurd:innen, Araber:innen, Assyrer:innen, Turkmen:innen, Armenier:innen, Tscherkess:innen, Tschetschen:innen, Muslim:innen, Christ:innen und Ezid:innen namentlich benannt und ihre Rechte garantiert. Außerdem wird jeder Nation das Recht garantiert, mit ihrer Perspektive, Sprache und Kultur zu leben.

In Artikel 4 des Vertrages ist von freien und demokratischen Wahlen die Rede. Wie werden die Wahlen organisiert?

Es wurde ein Wahlsystem festgelegt, das auf Direktwahl, Quoten und Repräsentation beruht. So werden beispielsweise die Bewohner:innen eines Viertels die Ko-Vorsitzenden ihrer Kommune frei wählen, d.h. es wird die Methode der direkten Vertretung angewandt. Es wird ein Volksrat eingerichtet. Die Bevölkerung wählt ihre eigenen Vertreter:innen in den Volksrat. Diese setzt sich zu 60 Prozent aus Vertreter:innen zusammen, die vom Volk in gleichen und allgemeinen Wahlen gewählt werden, und zu 40 Prozent aus Repräsentant:innen, die von den einzelnen ethnischen, religiösen, konfessionellen und organisierten demokratischen Gemeinschaften in transparenter und demokratischer Weise bestimmt werden. Der Anteil von 40 Prozent und die Art der betreffenden organisierten Gemeinschaften wird durch ein Gesetz festgelegt. Wie in allen Artikeln werden auch hier die Rechte der Frauen geschützt und eine gleichberechtigte Vertretung gewährleistet.

In Artikel 134 des Abschnitts „Allgemeine Bestimmungen“ heißt es: „Wenn ein Konsens über die demokratische Verfassung Syriens erreicht wurde, wird dieser Vertrag einer erneuten Prüfung unterzogen.“ Was soll das heißen?

Das ist eine Botschaft an das syrische Volk und an die Welt. In der Fußnote des Gesellschaftsvertrags heißt es, dass die Demokratische Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien ein integraler Bestandteil der territorialen Integrität Syriens ist. Mit anderen Worten, es ist ein Hinweis darauf, dass der Gesellschaftsvertrag eine Lösung für die Krise und die Probleme Syriens sein kann und dass die Menschen in Nord- und Ostsyrien offen für einen Dialog sind. Es soll damit deutlich gemacht werden, dass der Vertrag, für den Fall eines politischen Kompromisses, offen ist für Neuerungen in diesem Sinne. So wie es heißt, dass wir ein Teil Syriens sind, lässt der Artikel am Ende eine Tür offen, die besagt, dass der Gesellschaftsvertrag im Einklang mit den Wünschen der Völker und im Einklang mit politischen Projekten, die die Rechte der Völker schützen, überarbeitet werden kann.

Der Gesellschaftsvertrag wurde am 12. Dezember von der Generalversammlung der Selbstverwaltung angenommen. Wie geht es nun weiter?

Das Gesellschaftssystem und die Gesellschaftsräte werden nochmals betrachtet werden. Es steht ein Wahlprozess an. Die bestehenden Grundsätze und Prinzipien werden integriert und vereinheitlicht. Die Kommunen, Viertelräte, Stadträte und das Kantonssystem werden neu betrachtet werden. Die von mir genannten Themen stehen in direktem Zusammenhang mit dem Wahlprozess. Veränderung und Wandel werden durch Wahlen erreicht. Wir werden einen Prozess der Stärkung des sozialen Organisierens erleben. Um den Gesellschaftsvertrag umzusetzen, ist ein intensives und entschlossenes Arbeitstempo erforderlich, denn es wird einen radikalen Wandel geben. Der Gesellschaftsvertrag mag zwar ratifiziert worden sein, aber wir können sagen, dass die eigentliche Arbeit jetzt erst beginnt. In ihm lebt Geschichte und Erfahrung. Er beruht auf etwa zehn Jahren Erfahrung der Bevölkerung. Die Menschen hier haben mit dem Aufbau dieses neuen Systems Pionierarbeit zu leisten.