Der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien, ein Zusammenschluss aus 53 unterschiedlichen Frauenorganisationen, NGOs und Parteien, konnte trotz der erschwerten Bedingungen durch die türkischen Besatzungsdrohungen, der Angriffe des türkischen Staates und des Embargos sowie der Belagerung durch die syrische Regierung wichtige Aktivitäten durchführen. Stêr Qasim, Mitglied der Koordination des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien, reflektiert in ihrem Jahresrückblick gegenüber ANF sowohl die Errungenschaften sowie die Ziele, die nicht erreicht wurden. Im Hinblick auf den zweiten Kongress des nordostsyrischen Frauenrates, der für 2023 geplant ist, bekräftigt sie die Entschlossenheit der Frauen, im kommenden Jahr eine noch umfassendere Arbeit zu leisten.
Wie bewerten Sie als Frauenrat von Nord- und Ostsyrien die Fortschritte im Kampf der Frauen für ihre Rechte?
Der Kampf der Frauen ist ein ständiger Kampf. Trotz umfangreicher Maßnahmen bestehen die Gewalt gegen Frauen und die Ungleichheit in der Gesellschaft fort. Aber die Hartnäckigkeit der Frauen im Kampf um ihre Rechte hat entscheidend zu Verbesserungen beigetragen. Eine wichtige Errungenschaft ist das Gesetz 1325. Natürlich haben die Gewalt gegen Frauen und die soziale Ungerechtigkeit trotz aller Beschlüsse und Gesetze nicht einfach aufgehört. Wie Sie wissen, herrscht in unserer Region seit mehr als zehn Jahren Krieg. Schon in der Zeit davor gab es in Syrien einen Mangel in Bezug auf Frauenrechte, Gewalt gegen Frauen war alltäglich. Während des mehr als zehn Jahre andauernden Krieges waren die Frauen in vielerlei Hinsicht noch stärker von Gewalt betroffen und wurden zur Migration gezwungen. Viele verließen nach der Besetzung durch die Türkei ihr Land und suchten Zuflucht in Geflüchtetencamps. Dies ging mit wirtschaftlicher Verarmung einher. Der Druck auf die Frauen in der Gesellschaft und zu Hause nahm immer weiter zu. Kriegsbedingungen, Verarmung und Chaos haben die Gewalt gegen Frauen verstärkt.
Als Antwort darauf entwickelten wir ein Gesetz, das 2014 in Kraft trat und die Rechte von Frauen garantiert. Als Weiterentwicklung dieses Gesetzes unterzeichneten wir in diesem Jahr das Familiengesetz. Wir betrachten die Familie als den Grundstein der Gesellschaft. Das Gesetz formalisierte die Rechte von Frauen in der Region und wurde zu einer wichtigen Grundlage für die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit. Es wurden Artikel zur Gewährleistung von Gleichheit und Gerechtigkeit und zur Verhinderung von Kinderehen festgelegt, und im Rahmen dieser Artikel wurde der Wiederaufbau der Region in Angriff genommen.
Sind Sie mit den Ergebnissen Ihrer Arbeit zufrieden?
In diesem Jahr hatten wir eine sehr volle Agenda. Wir haben vieles auf den Weg gebracht, aber es gab auch Vorhaben, die in diesem Jahr unabgeschlossen blieben, Themen, die nicht ausreichend bearbeitet werden konnten. Aber in Anbetracht der Angriffe und Drohungen des türkischen Staates auf der einen und der Bedrohung durch die islamistischen Terrorbanden auf der anderen Seite kann ich feststellen, dass sich das Niveau unseres Kampfes verbessert hat.
Welche Projekte haben Sie im Jahr 2022 realisiert?
Das Familiengesetz war ein großer Erfolg für uns, das war unser wichtigstes Projekt. Unter dem Motto „Frauen in Syrien leiden unter der Besatzung des türkischen Staates“ haben wir am 24. März eine Frauenkonferenz für den gesamten Nahen Osten initiiert. In der Region herrscht ein massiver Krieg, täglich werden Menschenrechte verletzt. Deshalb ist es wichtig, über die Atmosphäre des Krieges und das zerstörerische Umfeld, das er mit sich bringt, zu berichten. In diesem Zusammenhang hatten wir Treffen mit Delegationen aus Frankreich und den USA. Darüber hinaus haben wir an den Aktivitäten im Rahmen des Gesellschaftsvertrags in Nord- und Ostsyrien teilgenommen und unseren Beitrag dazu geleistet. Es wurden zahlreiche Podiumsdiskussionen zur Unterstützung der Frauen im Nahen Osten und in der Welt organisiert. Es gab Zusammenkünfte, um die Frauen in Syrien zu erreichen, unser Dialog hat sich im Vergleich zum Vorjahr verbessert.
Noch immer sind Feminizid und Kinderehen in der Region an der Tagesordnung. Welchen Kampf haben Sie als Frauenrat gegen die von Männern dominierte Mentalität und gegen diese erschreckende Bilanz geführt, und ist dieser Kampf ausreichend?
Unser Rat, in der 53 Frauenorganisationen, NGOs und die Frauenräte der politischen Parteien vertreten sind, führt zahlreiche gemeinsame Aktivitäten durch. Die wichtigste davon ist die Fortsetzung des Kampfes gegen die von Männern dominierte Mentalität. Bildung spielt eine Schlüsselrolle bei der Veränderung dieser Mentalität. Alle Frauenorganisationen in der Region führten feministische Bildungen für Männer durch. Tatsächlich war auch dies ein Erfolg. Die Teilnahme an den Bildungsangeboten, sich selbst zu reflektieren, die männliche Mentalität zu hinterfragen und sogar zu benennen, ist ein großer Schritt. Mit dem Familiengesetz wurde der Dialog zwischen Männern und Frauen und die Kommunikation innerhalb der Familie geregelt.
Welche Anstrengungen haben Sie im Bereich der Bildung unternommen?
Die Bildungsaktivitäten der Frauenbewegung in Nord- und Ostsyrien werden gemeinsam mit uns als Frauenrat durchgeführt. Wir konzentrieren uns auf Bildung in den Bereichen Recht, Politik und Gesellschaft. Einige unserer Genossinnen recherchieren und entwickeln neue Gesetze. Darüber hinaus ist die Bildung der Familien unserer Meinung nach wichtig für den Aufbau der neuen Gesellschaft.
Aufgrund des Krieges gibt es eine anhaltende Binnenmigration. Tausende von Frauen leben in Geflüchtetencamps. Können Sie die Frauen dort erreichen?
Auch wenn wir nicht direkt miteinander kommunizieren können, werden die Probleme, Schwierigkeiten und das Leid, mit denen die Frauen in den Camps konfrontiert sind, von den vor Ort Aktiven an uns weitergeleitet. Wir sprechen diese dann gegenüber den von mir erwähnten Delegationen im Rahmen der diplomatischen Aktivitäten an und es wird nach Lösungen gesucht. Die Lebensbedingungen in den Lagern zeigen das Versagen der internationalen Mächte. Konkrete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, ist eines unserer Hauptanliegen. Unser vorrangiges Ziel jedoch ist es, den Menschen, insbesondere den Frauen und Kindern, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen und nun in Lagern leben, die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, indem wir die besetzten Gebiete befreien und die Kriegsverbrechen stoppen.
Es gibt auch eine zunehmende Tendenz zur Flucht ins Ausland, vor allem von jungen Menschen. In letzter Zeit werden verstärkt junge Frauen von ihrer Familie ins Ausland geschickt, um dort zu heiraten. Was tun Sie dagegen?
Das Thema Flucht ist nicht auf unsere Region beschränkt. In jedem Land, in dem Krieg herrscht, kommt es zu Migration ins Ausland. In jeder Region, die von Angriffen bedroht ist, gibt es wirtschaftliche, psychologische und soziale Probleme. Dies spiegelt sich auch im Problem der Kinderehe wider. Die Familien glauben, ihre Kinder dadurch aus diesem problematischen Umfeld zu retten und ihnen so eine vermeintlich gute Zukunft zu schaffen. Wir sind absolut gegen diese Praxis und finden es nicht richtig, dass die Familien diesen Weg bevorzugen, obwohl sie gegen die bestehende Situation kämpfen sollten. Der Frauenrat und die Autonomieverwaltung von Nord-und Ostsyrien sollten in der Lage sein, diesbezüglich Lösungen zu entwickeln. Viele Frauen sind sich ihrer Rechte, ihrer Aufgaben und Pflichten innerhalb der Gesellschaft noch nicht bewusst. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch selbstkritisch reflektieren. Mit der Verabschiedung des Familiengesetzes haben wir unsere Selbstkritik in eine praktische Handlung überführt, aber das reicht nicht aus.
Wie bereiten Sie sich auf das neue Jahr vor?
Es ist nicht mehr lang bis zum zweiten Kongress des Frauenrats von Nord- und Ostsyrien. Auf dem Kongress werden wir umfassend darüber diskutieren, was wir im Jahr 2022 erreicht haben und was wir nicht geschafft haben. Rückblickend auf das Jahr 2022 werden wir uns selbstkritisch fragen, warum nicht alle Vorhaben in die Praxis umgesetzt wurden. Natürlich haben wir für 2023 neue Pläne und Projekte, die wir auf dem Kongress konkret diskutieren werden.