Evîn Siwêd: Aufbau unter permanenten Kriegsbedingungen

Zum sechsten Jahrestag der Gründung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien erklärte Evîn Sîwêd aus dem Exekutivrat die Entschlossenheit, eine politische Lösung herbeizuführen und die Integrität Syriens zu bewahren.

Mitglied des Exekutivrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien

Mit der Revolution von Rojava wurde in Nord- und Ostsyrien ein radikaldemokratisches System aufgebaut. Der Aufbau der Selbstverwaltung dauert bis heute an und findet unter permanenten Kriegsbedingungen statt. Während Dörfer und Städte von der Türkei und ihren dschihadistischen Söldnern besetzt wurden, werden die freien Gebiete von Nord- und Ostsyrien immer wieder angegriffen. Mitglieder der Selbstverwaltung werden zum Ziel türkischer Killerdrohnen. Aber trotz all der Schwierigkeiten arbeiten die Menschen in Rojava weiter an ihrem Modell der Selbstverwaltung. Nachdem bis 2018 die Kantonalverwaltungen alleine existierten, wurde am 6. September 2018 die Selbstverwaltung für die ganze Region gegründet. Evîn Siwêd, Mitglied des Exekutivrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, sprach im ANF-Interview über die Bedingungen des institutionellen Aufbaus der Selbstverwaltung und die aktuelle Lage.


Das siebte Jahr der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat begonnen. Wie bewerten Sie die vergangenen sechs Jahre?

Die autonome Verwaltung von Cizîrê wurde 2014 ausgerufen, gefolgt von den Selbstverwaltungen von Kobanê und Efrîn. Nach der Befreiung von Minbic, Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor begann der Aufbau einer Selbstverwaltung der ganzen Region auf der Grundlage der Selbstverteidigung und des Dienstes an den Völkern. Die Selbstverwaltung war ein neues Modell. Die unzureichende Erfahrung der Völker Nord- und Ostsyriens hinderte sie jedoch nicht daran, sich selbst zu regieren und eine Position, Haltung und Entscheidung zur Zukunft Syriens zu treffen. Denn das gewünschte System war klar und offen. Deshalb haben die Völker sich intensiv für die territoriale Integrität Syriens eingesetzt und dafür große Opfer gebracht. Am 6. September 2018 wurde beschlossen, die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien unter der Bewahrung des bestehenden einzigartigen Kantonalsystems zu gründen und um dessen harmonische Zusammenarbeit und Integrität zu sichern.

Ihre Hauptaufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die bestehenden sieben Kantone zusammenarbeiten, kooperieren und die Nachhaltigkeit der Arbeit gewährleisten können. Die Selbstverwaltung entstand auch auf der Grundlage des politischen Willens der Völker und spiegelt ihre Aktivitäten und Bemühungen im Einklang mit ihrem Wunsch, ein zukünftiges Syrien aufzubauen, wider. Es wurde mit der Perspektive auf ein dezentralisiertes Syrien geschaffen, also ein Land, das auf der inklusiven Erfahrung der vielen religiösen und ethnischen Identitäten der Region aufbaut.

Welche politischen, sozialen, bildungspolitischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Schritte wurden in den vergangenen sechs Jahren unternommen?

Zum ersten Mal konnten sich alle Völker und Glaubensrichtungen einer Region sich entsprechend ihrem demokratischen Willen selbst verwalten. Daraus ist ein sehr wertvolles Bild entstanden, das die grundlegenden positiven Eigenschaften des Menschen wie Liebe, Gerechtigkeit, Gleichheit der Menschen und Frieden verkörpert. Mit diesem Modell spielt Selbstverwaltung sowohl in Nord- und Ostsyrien als auch in Syrien und im Nahen Osten eine Vorreiterrolle. Es hat Veränderungen und Umgestaltungen gegeben, wie den Wiederaufbau oder die Neuorganisierung der Gesellschaft, die Aufteilung der Rollen auf alle Identitäten und die führende Rolle von Frauen und Jugendlichen. Darüber hinaus wurden in der nord- und ostsyrischen Revolution in vielen Bereichen – von Bildung, Kultur und Kunst bis hin zur Selbstverteidigung – wichtige Schritte unternommen.

Es wurde eine Strategie beschlossen, die alle in Syrien lebenden Völker einbezieht, umarmt und akzeptiert. Die Politik zur Überwindung der Krise in Syrien ist klar und grundsätzlich. In dieser Richtung hat sich die Selbstverwaltung mit der am 18. April 2023 veröffentlichten Erklärung geäußert. Es werden intensive diplomatische Aktivitäten unternommen, um das System zu vermitteln, die durchgeführten Aktivitäten bekannt zu machen und die Region gemeinsam zu schützen. In der Rojava-Revolution, die auch als Frauenrevolution bekannt ist, hat vor allem die Frauendiplomatie wichtige Durchbrüche erzielt.

Die Völker lernen in Muttersprache

In Nord- und Ostsyrien konnten viele Menschen in ihrer Muttersprache weder lesen noch schreiben. Nun, da das Bildungssystem eingerichtet ist, hat jedes Volk das Recht auf Bildung und Ausbildung in seiner Muttersprache; dreisprachiger Unterricht in Kurdisch, Arabisch und Syrisch wurde eingeführt. Sie haben das Recht, von der Grundschule bis zur Universität in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden.

Sprung in der Entwicklung von Kunst und Kultur

Es wäre unvollständig, Nordsyrien und Ostsyrien nur unter politischen und militärischen Gesichtspunkten zu analysieren. In der Region hat es einen Sprung in Sachen Kultur und Kunst gegeben. Kultur und künstlerische Aktivitäten werden in hohem Maße gefördert. Auch die Künstler:innen haben viel dazu beigetragen, ein Umfeld zu schaffen, in dem verschiedene Nationen und Glaubensrichtungen zusammenkommen. So wurde sowohl in Kurdistan als auch in Syrien ein bedeutendes Niveau an künstlerischen Aktivitäten erreicht.

Welche Probleme sind in diesen sechs Jahren aufgetreten; mit welchen Problemen waren Sie als neues Selbstverwaltungsmodell konfrontiert?

Eines der Hauptthemen, auf das die Selbstverwaltung besonderen Wert legt, ist die Dienstleistungstätigkeit. Wie bekannt, befinden wir uns in einem einzigartigen Prozess. Trotz der ernsten Schwierigkeiten, die sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die finanzielle Situation betreffen, fühlt sich jeder und jede Einzelne der Gesellschaft gegenüber verantwortlich.

Wir waren und sind immer wieder Angriffen, die auf die Beseitigung des Systems abzielen, ausgesetzt. Der türkische Staat hat Serêkaniyê bereits im Jahr 2013 ganz offen angegriffen und mobilisiert bis heute all seine Kräfte, um dieses System zu zerschlagen, die Menschen zu vertreiben und die Demografie der Region zu verändern. Die Besetzung von Efrîn, Girê Spî, Serêkaniyê durch den türkischen Staat und die von ihm geführten Söldnertruppen ist eine blutende Wunde in unseren Herzen. Die ursprünglich dort lebenden Völker mussten nach Nord- und Ostsyrien fliehen. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien stehen unter einem schweren Wirtschaftsembargo. Bis heute sind wir politisch nicht offiziell anerkannt, daher verhindern die geschlossenen Grenzübergänge, dass Hilfsgüter die Flüchtlinge in Nord- und Ostsyrien erreichen. Jeder Einzelne, der in der Region lebt, spürt die Not zutiefst.

Wie hat sich der Krieg auf das System ausgewirkt?

Bis heute hat die Selbstverwaltung ihre gesamte Arbeit in einem kriegerischen Umfeld verrichtet. Das verursacht sowohl Schwierigkeiten im Leben als auch psychologische Probleme. Es handelt sich nicht um ein Modell, das in einem Umfeld des Friedens und der Ruhe ausgerufen wurde. Der Krieg hat zu Problemen bei der Erreichung des gewünschten Niveaus geführt, das bezieht sich vor allem auf die Durchführung von Arbeiten und die Erbringung von Dienstleistungen für die Bevölkerung. Alle Arbeiten finden unter Angriffen und Invasionsversuchen statt. Dies wirkt sich unmittelbar negativ auf unsere Arbeit aus. In unserer Region werden die Menschen tagtäglich angegriffen und es gibt jeden Tag Tote. In einer solchen Situation ist es schwierig, eine Institutionalisierung zu entwickeln. Trotzdem setzt die Selbstverwaltung alles daran, dem Volk so gut wie möglich zu dienen und ihre politische Botschaft an die Menschen in Syrien und der Region zu übermitteln.

Was sind Ihre Ziele als Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien?

Jeder ist für den Schutz dieses Projekts verantwortlich. Es wurde mit viel Mühe und unter großen Opfern errichtet. Auch die Menschen in Nord- und Ostsyrien sind sich dessen bewusst. Wir setzen unsere Aktivitäten fort, um das Modell zu schützen, es weiterzuentwickeln, die Unzulänglichkeiten und Kritikpunkte zu überwinden, die im Kriegsumfeld entstandene Institutionalisierung mit dem verabschiedeten Gesellschaftsvertrag dauerhaft zu machen, sie weiterzuentwickeln und mit Inhalt zu füllen. Unser Hauptziel ist es, das neue Modell in Syrien und im Allgemeinen bestmöglich bekanntzumachen. Unsere Strategie zur Lösung der Syrienkrise ist klar. Unsere Bemühungen, die Völker Syriens zusammenzubringen, werden immer weitergehen. Wir betrachten den Schutz unserer Gebiete, die territoriale Integrität Syriens, die Souveränität der Völker Syriens und den innersyrischen Dialog von strategischer Bedeutung. Wir werden unsere Arbeit auf dieser Grundlage fortsetzen. Wenn sich das Regime in Damaskus denen annähert, die sich für Angriffe gegen die Selbstverwaltung zusammentun, wird die Situation in Syrien erneut negativ beeinflussen. Es wird zu Konflikten in Syrien führen und letztendlich wird ein Ort mit dem Namen Syrien aufhören zu existieren. Wir haben uns bis heute bemüht, die Integrität Syriens zu schützen, und wir werden dies auch in Zukunft tun. Darüber hinaus ist es unser Hauptziel, den Menschen in Nord- und Ostsyrien bestmöglich zu dienen, denn die Menschen in Nord- und Ostsyrien haben den besten Dienst an ihnen verdient.