„Weder Ankara noch Damaskus haben Interesse an Demokratie“
Die Außenbeauftragte der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, Ilham Ehmed, unterstreicht die Notwendigkeit von neuen Schritten und einem Wandel durch das Regime in Damaskus.
Die Außenbeauftragte der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, Ilham Ehmed, unterstreicht die Notwendigkeit von neuen Schritten und einem Wandel durch das Regime in Damaskus.
Angesichts der Avancen des Regimes in Ankara an Damaskus erinnerte die Außenbeauftragte der Demokratischen Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES), Ilham Ehmed, daran, dass die Türkei auf Annexion weiter Teile Syriens aus ist. Es sei die Erwartung der Selbstverwaltung, dass die Regierung von Baschar al-Assad auf einen Rückzug der Türkei aus den besetzten Gebieten für eine Normalisierung der Beziehungen besteht.
Im ANF-Gespräch zeigte Ehmed die Ähnlichkeiten zwischen den Regimen von Ankara und Damaskus auf: „Diese Regime sind nicht offen für Demokratie. Sie sind nicht einmal offen für Veränderungen. Weder für Menschenrechte, noch für die legitimen Rechte der Völker, noch die Rechte der Konfessionen.“ Die kurdische Politikerin wies darauf hin, dass beide Regierungen deshalb in einer tiefen inneren Krise steckten. „Sie erleben sehr ernste und tiefe Widersprüche in Beziehung zu ihren eigenen Gesellschaften, mit den Menschen, die auf ihrem Territorium leben. Der türkische Staat hat ernste Probleme mit seiner Bevölkerung. Die Regierung in Damaskus hat das gleiche Problem. Es gibt Bemühungen, eine Einigung zwischen dem türkischen Staat und der Regierung in Damaskus zu erzielen. Russland und der Irak spielen dabei eine Rolle. Alles, was die Würde der Bevölkerung von Syrien aushöhlen wird, liegt auf dem Verhandlungstisch.
Rückzug der Türkei aus Syrien muss Vorbedingung eines Abkommens sein
In der Anfangsphase der Syrienkrise hat sich der türkische Staat auf vielschichtige Weise in die Angelegenheiten Syriens eingemischt. Mit militärischen Angriffen hat der türkische Staat die Grenzen des Adana-Abkommens überschritten. Er verfolgt eine Politik der Besetzung und Annexion. Der türkische Staat und das Regime in Damaskus haben auch ihre Organisationsstruktur verändert. Sie sind nicht offen für Demokratie und erkennen die Anliegen und die Rechte der Völker nicht an. Sie treten diese Rechte in jeder Hinsicht mit Füßen. Jahrelang hat der türkische Staat Söldnergruppen unterstützt und sich als Beschützer des syrischen Volkes präsentiert. Jetzt sendet er Botschaften der Unterstützung an das Regime in Damaskus. Damaskus will den Druck abbauen, der auf ihm lastet und der türkische Staat will die Flüchtlinge loswerden. Die Türkei möchte ihre Präsenz in Syrien dauerhaft machen. Dafür versucht Ankara, alte Allianzen wiederzubeleben. Das zeigt, dass sich neue Militärinvasionen in Vorbereitung befinden. Es ist jedoch klar, dass Hindernisse für dieses Übereinkommen bestehen. Denn sowohl der türkische Staat als auch die Regierung in Damaskus verfügen nicht über die Unabhängigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Die syrische Frage ist zu einem innerstaatlichen Problem geworden, und die Türkei beharrt auf der Veränderung der Demografie. Daher müssen die Sicherheit und die Interessen der Bevölkerung Syriens in erster Linie berücksichtigt werden. In diesem Sinne sollte der Rückzug des türkischen Staates von syrischem Territorium die Vorbedingung eines Abkommens sein. Jedes andere Abkommen wird nicht nur zum Nachteil für die Menschen in Nord- und Ostsyrien gereichen, sondern einen Schaden für die gesamte Bevölkerung Syriens darstellen.“
„Der türkische Staat muss aus den besetzten Gebieten verschwinden“
Ehmed weiter: „Zuallererst muss der türkische Staat die besetzten Gebiete in Syrien verlassen. Es scheint so, als ob das Regime auf dieser Bedingung bestünde. Wenn diese beiden Regime zu einer Einigung kommen, dann wird es zunächst um gemeinsame Probleme gehen. Eines dieser gemeinsamen Probleme sind die Anliegen der Völker der Region. Dabei geht es nicht nur um Nord- und Ostsyrien, sondern auch um Nord- und Westsyrien. Der türkische Staat hält Gebiete in Nord- und Ostsyrien besetzt. Einige Gebiete wurden von der Türkei auch dem Regime in Damaskus abgenommen. Es wird in der Tat schwer für beide Staaten werden, diese Probleme untereinander zu lösen.
„Es ist gefährlich, wenn die Beziehungen zum Status quo ante zurückkehren“
Wenn es um die Interessen von Staaten geht, sind die Interessen von Völkern und Gesellschaften von geringer Bedeutung. Die Staaten zermalmen sie ohnehin. Dies gilt insbesondere für die Gruppen, die von den Staaten als Gegner wahrgenommen werden. Der türkische Staat sieht Nordsyrien und Ostsyrien als seine Gegner an, während die Regierung in Damaskus sowohl Nordsyrien und Ostsyrien als auch Nordwestsyrien als ihre Gegner ansieht. Wenn sie auf dieser Grundlage zu den alten Beziehungen zurückkehren wollen, birgt dies natürlich viele Gefahren. Die alten Beziehungen beruhten auf der Missachtung der Rechte der Völker. Die Interessen des Regimes stehen hier viel stärker im Vordergrund. Die Interessen der Völker stehen nicht im Vordergrund. Das bringt große Gefahren mit sich.
„Es kann keine Lösung ohne die Einbeziehung des ganzen Landes geben“
Wir sagen noch einmal: Wenn es eine Lösung geben soll, dann muss sie ganz Syrien umfassen. Darüber hinaus wirken sich die Sanktionen gegen Syrien natürlich auf die internationalen Beziehungen von Syrien aus. Wir wollen, dass das Regime Schritte unternimmt und sich ändert. Die Rückkehr derjenigen, die vom Regime kriminalisiert wurden, die Rückkehr aller Flüchtlinge nach Hause, der Rückzug des türkischen Staates aus den besetzten Gebieten – wenn das der Ansatz ist, dann kann die syrische Frage gelöst werden.“
„Russland fördert die Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus“
Ehmed erwähnte, dass die in den Gesprächen zwischen Ankara und Bagdad vereinbarte „Entwicklungsstraßenprojekt“ durch syrisches Hoheitsgebiet oder an der syrischen Grenze entlang führen solle. Sie kommentierte: „Syrien ist ein Nachbarland des Irak, sodass gewalttätige Gruppen zwischen diesen beiden Ländern hin und her reisen. Auch der Großteil des Handels findet auf diesen Straßen statt. All das sind natürlich Probleme. Obwohl der Irak hier eine Rolle spielen möchte, hat er nicht genug Macht, um eine allgemeine Lösung herbeizuführen. Inwieweit der Irak eine Rolle spielen kann, hängt von den vielen Schwierigkeiten ab, mit denen er konfrontiert ist. In der Tat wünscht sich Russland, dass so etwas passiert. Mit dem Krieg in der Ukraine befindet sich Russland in einer sehr schwierigen Situation. Die Last des Syrienkriegs wurde ebenfalls schwerer und Russland konnte keinen Profit aus dieser Lage ziehen. Wir wissen nicht, welche Bedingungen Russland an beide Seiten stellt. Aber es will seine eigene Belastung verringern. Folglich ist Russland auch für die Vorgänge in der Region verantwortlich. Das heißt, es hat bis zu einem gewissen Grad diese Verantwortung übernommen. Der Krieg im Nahen Osten weitet sich jedoch aus. Es ist nicht klar, was jeden Moment im Libanon, der ja an Syrien grenzt, passieren wird. Ein Ausbruch kann jeden Moment erfolgen. Jede Veränderung im Libanon wirkt sich unmittelbar auf Syrien aus. Russland will aber die Akte Syrien schließen. Es will das Problem der Opposition beenden. Wir glauben jedoch, dass dies nur eine vorübergehende Lösung ist, wie die in Dara. Solange Russland nicht an eine dauerhafte Lösung denkt, wird diese Wunde immer offenbleiben und weiter bluten.“
„Rassistische Hetze des türkischen Staates führt zu Angriffen auf Geflüchtete“
Ilham Ehmed wies aber auch darauf hin, dass die Annäherungsversuche zwischen dem türkischen Staat und Syrien in der Türkei für Unruhe gesorgt haben: „Der Rassismus in der türkischen Gesellschaft hat ein sehr gefährliches Niveau erreicht. Die Flüchtlinge aus Syrien haben sich in die türkische Gesellschaft integriert und arbeiten, aber die ganze Propaganda für das Türkentum erzeugt einen großen Hass und eine Abneigung gegenüber anderen Völkern. Auf diese Weise wird der Boden für einen Bürgerkrieg geschaffen. Die Angriffe auf die Flüchtlinge aus Syrien sind das Ergebnis dieser Politik. Das gilt auch für die Angriffe auf Kurd:innen. Heute werden die syrischen Flüchtlinge gewaltsam aus der Türkei abgeschoben. In Efrîn werden Dörfer gebaut, um die demografische Struktur zu verändern. Die Kurden werden verdrängt und durch arabische Bevölkerung ersetzt. Diese Menschen werden aber auch zwangsangesiedelt. Das ist ein Verbrechen an sich, für das Rechenschaft werden muss. Das muss sofort aufhören. Das ist Missbrauch von Kriegsflüchtlingen. Für die Lösung der Syrienkrise und die Würde der Völker Syriens ist es wichtig, dass sich alle in Syrien lebenden Volksgruppen zusammenschließen. Das würde ein Ende des Missbrauchs der Bevölkerung bedeuten.“
„Unsere Region ist eine Region, in der Menschen Zuflucht finden können“
Zur Flüchtlingsfrage erklärte Ehmed: „Wir haben bereits erklärt. Wir haben ein Projekt zur Lösung der Flüchtlingsfrage. Unsere Region ist eine Region, in der diese Menschen Zuflucht finden können. In diesem Sinne sollten die Vereinten Nationen ein Konzept in Bezug auf die Selbstverwaltung haben. Immer wieder sagt Erdoğan, dass er Assad in die Türkei einladen werde. Diese Aussage richtet sich eigentlich an die Gesellschaft in der Türkei. Man hat den Rassismus in der Türkei derart geschürt, dass sie nun die Menschen auf diese Weise beruhigen will. Mit anderen Worten: Mit solchen Äußerungen versucht man, den Menschen in der Türkei zu vermitteln, dass man die Schutzsuchenden abschieben will.“