Die stellvertretende Ko-Vorsitzende der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Emine Osê, hat sich gegenüber ANF zu den Angriffen des türkischen Staates auf die selbstverwalteten Gebiete und die Versuche der Regime in Ankara sowie Damaskus, Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Region zu verursachen, geäußert. Osê erklärt, dass die Türkei ihre Angriffsweise verändert habe, um möglichst wenig Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit zu provozieren.
Wie ist die aktuelle Lage in Nord- und Ostsyrien?
Die Regionen Nord- und Ostsyriens befinden sich einem hochsensiblen Entwicklungsprozess von historischer Bedeutung. Einerseits gibt es Anzeichen für eine politische Lösung und die Frage steht im Raum, welche Rolle dabei die Selbstverwaltung spielen wird. Andererseits weiten die Besatzungsmächte, insbesondere die von Erdoğan geführte Türkei ihre Angriffe aus. Viele Regionen in Syrien wie Efrîn, Azaz, Bab und zuletzt Girê Spî und Serêkaniyê sind vom türkischen Staat besetzt worden.
Wie geht die Türkei bei ihren Angriffen aktuell vor?
In der letzten Zeit haben wir eine Veränderung im Angriffscharakter des türkischen Staates wahrgenommen. Die Angriffe beschränken sich natürlich nicht nur auf Nord- und Ostsyrien, ganz Kurdistan ist davon betroffen. Im Visier der Türkei liegen alle Gebiete, in denen der Befreiungskampf des kurdischen Volkes Hoffnungen auf Freiheit aufkommen ließ. Es wird jedes Mittel eingesetzt, um zu verhindern, dass die Kurdinnen und Kurden einen Status gewinnen. Die Freiheitskämpfer*innen in den Medya-Verteidigungsgebieten, in Heftanîn, leisten erbitterten Widerstand.
Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, die Türkei habe ihr Angriffsverhalten verändert?
Bis zur Besetzung von Efrîn sah die Strategie so aus, dass bereits mit den ersten Angriffswellen Gebiete besetzt und Milizen stationiert wurden, die sich dann mit dem Aufbau einer permanenten Drohkulisse befassten. In den Besatzungszonen sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der Tagesordnung. Die Liste dieser Verbrechen ist lang und reicht von Verhaftungen und Folter über Entführungen, Vergewaltigungen, Raub der Besitztümer der Menschen bis hin zum aktiven Austausch der Bevölkerung. Das alles ist belegt und entsprechende Dokumente sind der Weltöffentlichkeit bekannt. Trotz allem zeigt kein Staat eine ernsthafte Haltung gegenüber der Türkei im Hinblick auf die tiefgreifende Verletzung international verankerter Menschenrechte durch das AKP/MHP-Regime. Die Proteste der Staatengemeinschaft sind sehr bescheiden. Hin und wieder wird das Geschehen sachte verurteilt, aber in der Regel einfach ignoriert. Die internationalen Mächte haben Ankara bisher immer wieder grünes Licht für Angriffe gegeben, und daraus zieht die Türkei ihre Kraft.
Nach der Invasion in Serêkaniyê und Girê Spî änderte der türkische Staat sein Vorgehen. Bei gezielten kleineren Attentaten wie beispielsweise in Kobanê und Abu Sira wurden Zivilist*innen umgebracht. Es finden Massaker statt, ohne dass es Proteste gibt. Mal werden an einem Ort fünf Menschen, mal zehn Personen getötet. Die internationalen Mächte und die Öffentlichkeit betrachten diese Angriffe nicht als Massaker und ergreifen auch keine Maßnahmen. Auf diese Weise sind viele unserer Bürgerinnen und Bürger gestorben.
Der türkische Staat beschränkt sich bei diesen Massakern jedoch nicht nur auf Luftangriffe. Um das Projekt der Autonomieverwaltung von innen zu zerstören, nutzt er alle möglichen Angriffsformen. Dazu gehört unter anderem die Agentenanwerbung bei kurdischen Jugendlichen, die dadurch in den Sumpf der Besatzer gezogen werden. Viele junge Menschen bereuen es, in diese Falle getappt zu sein. Darüber hinaus gibt es Versuche, die Völker der Region gegeneinander auszuspielen, um Nord- und Ostsyrien ins Chaos zu stürzen. Die Türkei will einen Keil zwischen die assyrisch-aramäischen, kurdischen und syrischen Völker treiben.
Was sollen wir uns darunter vorstellen?
Im Prinzip ist es ein Drei-Stufen-Plan: Kleine Angriffe, bei denen Zivilist*innen getötet werden, Anwerbung von Agenten und das Schüren von Konflikten innerhalb der Bevölkerung. Dabei werden vor allem die dynamischsten Kräfte der Gesellschaft benutzt: die Frauen und die Jugend. Die letzten Ereignisse in Deir ez-Zor hängen ebenfalls damit zusammen. Wir haben zu den Morden unterschiedliche Informationen vorliegen. Der Türkei, das syrische Regime und der IS verüben diese Taten gemeinsam.
Was ist ihr gemeinsames Interesse?
Alle drei haben kein Interesse an einem Erfolg des Autonomieprojekts, deshalb greifen sie an. Sie wissen, dass die Bevölkerung der Region aus Stämmen besteht. Würden sie es fertigbringen, die Stämme und die Regionalbevölkerung gegen die Selbstverwaltung aufzubringen, könnten sie die Legitimität der Selbstverwaltung zerstören. Das ist auch der Grund, warum Stammesälteste ermordet werden. Bei Protesten, die nach den Scheich-Morden im Namen des sunnitischen Islam initiiert wurden, sind Waffen benutzt worden, die noch nicht mal die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in ihrem langjährigen Kampf gegen den IS verwendet haben. Dieses Trio will in der Bevölkerung die Meinung erzeugen, dass die Selbstverwaltung nicht in der Lage sei, die Versorgung der Menschen zu sichern, und die QSD als dominierende Kraft in der Region den Schutz nicht gewährleisten könne. Das ist alles geplant. In diesem Sinne muss die Bevölkerung in den selbstverwalteten Gebieten aufmerksam sein und Maßnahmen gegen solche Ereignisse ergreifen. Die Menschen müssen sich verantwortlich für die Jugend zeigen. Das betrifft sowohl die Jugendorganisationen als auch die Familien. Ihnen fällt diese Aufgabe zu. Die Bevölkerung in der Region soll wissen, dass Frieden und Stabilität in der Region zerstört und Gräben zwischen den Völkern geöffnet werden sollen. Alle Institutionen müssen sich dem gemeinsam entgegenstellen.
Neben Angriffen gibt es ja auch noch die Corona-Pandemie. Wie ist die aktuelle Situation im Autonomiegebiet?
Die Welt steht dem Virus hilflos gegenüber. So sehr auch Länder wie Russland, China und andere Staaten behaupten, sie hätten einen Impfstoff gefunden, entbehren diese Behauptungen doch jeder Grundlage. Wir haben gesehen, dass hochentwickelte Technologie dem Virus gegenüber hilflos dasteht.
In unserer Region sind nun die ersten Fälle aufgetreten. Die erste Welle konnte mit den beschränkten Möglichkeiten der Autonomieverwaltung aufgehalten werden. Die Grenzen wurden geschlossen, es wurden Ausgangssperren in der ganzen Region verhängt. Dies führte aber zu einer ökonomischen Krise. Viele müssen ihre Arbeit einfach fortsetzen. Ja, wir haben unsere Bevölkerung geschützt, aber wir sehen, dass die Menschen auch arbeiten müssen. Die Situation ist eindeutig, die Möglichkeiten der Bevölkerung sind begrenzt. Deswegen mussten wir die Verbote etwas aufweichen.
Im Falle der Ausbreitung der Krankheit hatten wir einige Maßnahmen - von Plätzen in Krankenhäusern über die Versorgung mit Medikamenten bis hin zur Quarantäne - eingeführt. Wir haben eine solche Situation erwartet. Denn der türkische Staat versuchte in den besetzten Gebieten, das Virus in unsere Regionen überspringen zu lassen. Auch das syrische Regime hat immer wieder unsere Präventionsmaßnahmen ignoriert und den Flughafen von Qamişlo benutzt wie bisher. So wurde das Virus in unsere Regionen eingeschleppt. Wenn wir die Situation mit den großen Staaten vergleichen, ist die Fallzahl hier vergleichsweise gering. Warum ist das trotzdem zu viel für uns? Weil wir nicht die Möglichkeiten wie diese Länder haben, Corona zu bekämpfen. In einigen Bereichen werden unsere Reserveteams geschult und vorbereitet. Auch hat die Selbstverwaltung die Versorgung der Menschen mit Grundbedarf übernommen.
Wie viele Fälle gibt es?
Trotz aller Maßnahmen gibt es hier im Moment 219 Fälle (Stand vom 21. August, Zahl hat sich inzwischen auf 327 erhöht. Anm. d. Red.) Sie sind isoliert. 15 Personen [17] sind verstorben. Wir versuchen gemeinsam mit unseren Gesundheitsteams bessere Bedingungen zu schaffen. Aber eine Tatsache muss man anerkennen: Diese Krankheit zieht nicht in ein oder zwei Tagen wieder vorbei.
Was folgern Sie daraus?
Die Bevölkerung muss lernen, routiniert mit der Pandemie zu leben. Diese Dinge müssen zu einer Kultur in der Region werden. Reinigung, möglichst wenig Kontakt zueinander und die Benutzung von Schutzmasken sind absolut notwendige Maßnahmen, um sich vor dem Virus zu schützen. In einigen unserer Regionen müssen die Menschen noch von der Ernsthaftigkeit der Bedrohung überzeugt werden. Alle unsere Einrichtungen, insbesondere die Presse, sollten sich hier engagieren.
Viele Menschen sind leichtsinnig im Umgang mit der Pandemie. Mag sein, dass die Lage aktuell nicht besonders ernst ist. Aber sie verschlimmert sich. In diesem Sinne muss ein gemeinsamer Plan zur Pandemiebekämpfung und zur Aufklärung der Bevölkerung durchgeführt werden. Auch wenn unsere Möglichkeiten begrenzt sind, sind unsere Verwaltung und das Gesundheitspersonal davon überzeugt, dass wir das Virus mit geringen Schäden überstehen werden.