Impressionen von der Front der illegalen Besatzungszone

„In der aktuellen Situation des Low-Intensity-Warfare ist nicht die Frage, ob es zu einem offenen Angriffskrieg des türkischen Staates gegen Rojava kommen wird. Es geht eher um die Frage, wann.“

Impressionen aus Rojava im April 2020, zu einer Zeit in der Corona das einzige Thema weltweit zu sein scheint. Als Internationalist arbeite ich im taktisch-medizinischen Bereich in Zirgan (Abu Rasen), direkt an der Front der illegalen Besatzungszone, 50 Kilometer östlich von Serêkaniyê (Ras al-Ain). Die Stadt ist an drei Seiten von Çete – den türkischen Proxys eingeschlossen. Von unserem medizinischen Punkt aus, am Rand der Stadt, können wir die Stellungen der Dschihadisten sehen. Sie sind keine 2000 Meter von uns entfernt.

Trotz des russisch-türkischen Waffenstillstandes gibt es hier weiterhin beinahe tägliche Gefechte mit den dschihadistischen Söldnern, sowie Angriffe mit schweren Waffen auf die Dörfer im Frontgebiet. Opfer dieser Artillerieangriffe ist immer wieder die Zivilbevölkerung. Dies ist derzeit kein intensiver Krieg mit Panzern und Kampfjets, aber für die Menschen in Rojava ist es ein permanenter Kriegszustand.

Der türkische Staat führt diesen Krieg weiterhin mit allen Mitteln auf allen Ebenen. Wirtschaftlich, politisch, terroristisch sowie militärisch und nun auch mit der Covid-19-Pandemie als Waffe gegen die Selbstverwaltung in Rojava. Immer wieder ist die Wirtschaft und zivile Infrastruktur von Rojava Ziel dieser Angriffe. So wurde mehrfach die Wasserversorgung für den Kanton Hesekê unterbrochen und so 400.000 Menschen von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Regelmäßig gibt es Angriffe auf die Stromversorgung der Stadt Til Temir. Immer wieder wird durch Artillerie das Umspannwerk beschädigt und mit Dauerbeschuss versucht, die Reparaturen zu verhindern.

Eine Stellung der Besatzungstruppen

Türkische Botschaften nehmen Einfluss auf Medienkonzerne

Die Menschen in Rojava sind unter anderem abhängig von Importprodukten des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel, Propangas und Baumaterialien. Wegen des internationalen Embargos gegen Syrien müssen viele dieser Waren aus dem Irak teuer importiert werden. Ein Teil der Erzeugnisse kommt ursprünglich aus der Türkei zu überteuerten Preisen, denn durch die Inflation hat sich die Kaufkraft der syrischen Lira in den letzten acht Monaten halbiert, dazu kommt eine künstliche Verknappung von Gütern wie Zement und Propangas.

Politisch arbeitet der türkische Staat auf allen diplomatischen Ebenen gegen die Selbstverwaltung in Rojava. So hat das türkische Konsulat in Deutschland Einfluss auf große Medienkonzerne und staatliche Medienanstalten genommen, unter anderem mit gezielter Panikmache und dem Streuen von Falschinformationen. Im Herbst 2019 ist der Konsul an Presseagenturen und Korrespondenten herangetreten, um zu verhindern, dass weitere Journalisten nach Rojava kommen, um von den türkischen Angriffen gegen die Bevölkerung berichten zu können. Die Abwesenheit von Presse und Öffentlichkeit in einer Kriegsregion bedeutet immer eine völlige Enthemmung der Besatzungsarmeen.

Dies erlebten die Menschen in Efrîn und Rojava während der türkischen Angriffskriege im Frühjahr 2018 und Herbst 2019. Mit der diplomatischen Einflussnahme sollte verhindert werden, dass weitere Kriegsverbrechen dokumentiert und veröffentlicht werden. Trotzdem sahen wir die Bomben auf Krankenhäuser in Efrîn 2018, international geächtete Phosphorbomben in Serêkaniyê auf Zivilisten 2019, die Liquidierung von kurdischen Pressearbeiterinnen und medizinischem Personal durch dschihadistische Söldner 2019, Drohnenangriffe auf Flüchtlingskonvois 2019 und Drohnenangriffe inmitten von Flüchtlingslagern 2020.

Türkei greift trotz Waffenstillstandsabkommen an

Daesh (arabisches Akronym für „Islamischer Staat“-IS) ist militärisch besiegt, aber die terroristische Ideologie wird weiter vom türkischen Staat gefördert und finanziert. In den Regionen von Raqqa und Deir ez-Zor gibt es täglich Attentate von Daesh-Zellen. Ziele dieser Anschläge sind Frauen und Männer, die am Aufbau einer emanzipierten Gesellschaft in diesen Regionen arbeiten. Im Sommer 2019 wurden über 50.000 Hektar Weizen durch großflächige Brände vernichtet, der IS-Daesh hatte sich zu den Brandstiftungen bekannt.

Arbeitsraum des taktisch-medizinischen Teams 

Auch wenn eine Waffenruhe ausgehandelt wurde, so ist der türkische Staat militärisch weiter aktiv gegen Rojava. Es gibt tägliche Angriffe mit Drohnen, Artillerie und bewaffneten dschihadistischen Söldnern auf die selbstverwalteten Gebiete Nordsyriens. Von Şehba, Minbic, Kobanê, Ain Issa, Til Temir entlang der gesamten Front der illegalen Besatzungszonen sowie der türkisch-syrischen Grenze finden Brüche der Waffenruhe statt. Diese Angriffe gehören zur Strategie eines „Low-Intensity-Warfare“ (Kriegführung niedriger Intensität). Der türkische Staat verfolgt damit keine taktischen militärischen Ziele, es geht einzig darum, militärisch Druck aufrecht zu erhalten, um dadurch die Gesellschaft in Rojava zu schwächen und zu treffen. Wenn in Zeiten der Covid-19-Pandemie 400.000 Menschen von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten werden, die zum Teil in Flüchtlingslagern auf engstem Raum leben, hat dies für die Hygiene drastische Folgen und ist Kalkül.

Der türkische Staat hat damit begonnen an Corona erkrankte syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurück in die Besatzungszone zu verbringen. So wurde unter anderem in Serêkaniyê ein zentrales Quarantäne-Zentrum eingerichtet. Damit wird die schnellere Verbreitung des Virus in der nordsyrischen Region mit einem sehr fragilem Gesundheitssystem ermöglicht. Aufgrund der Angriffe haben Hilfsorganisationen wie CADUS, Medico International und Ärzte ohne Grenzen ihr Personal aus Rojava abgezogen. Das International Rescue Committee (IRC) berichtete, dass im Nordosten Syriens von 16 Krankenhäusern nur eins voll funktionsfähig ist. Die drei für Quarantäne und Behandlung von Corona-Verdachtsfällen umgebauten Krankenhäuser haben zusammen 28 Betten auf Intensivstationen und zehn Beatmungsgeräte für Erwachsene sowie eins für Kinder.

Verbrechen der Diktatur sind unstrittig

Nach neun Jahren Krieg gibt es zahlreiche Flüchtlingslager in Rojava, allein im größten Camp al-Hol leben 70.000 Frauen und Kinder. Um eine Verbreitung des Virus zu verlangsamen, wurde der Verkehr zwischen Städten für Zivilisten und auch für die Selbstverteidigungseinheiten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD/SDF) stark eingeschränkt. Die Menschen sind angehalten sich zu Hause aufzuhalten und nur für die nötigsten Dinge ihre Häuser zu verlassen. Trotz intensiver Vorbereitungen und präventiver Maßnahmen der Selbstverwaltung wird in Rojava eine schnelle Ausbreitung von Covid-19 dramatische Folgen haben.

Oft hört man Stimmen aus Europa zum aktuellen Umgang der kurdischen Selbstverwaltung mit dem Assad-Regime in Damaskus. Es wird vom Verrat an der Revolution oder dem Ende der Selbstverwaltung in Rojava gesprochen. Die Verbrechen der Diktatur sind unstrittig, trotzdem verlangt die aktuelle Kriegssituation schmerzhafte Kompromisse von uns. Denn Ziel ist es weiterhin, die Bevölkerung zu schützen, aktuell vor den Angriffen der dschihadistischen Söldner.

Daher wurde mit dem syrischen Militär ein Übereinkommen getroffen zum Schutz der syrisch-türkischen Grenze und der Front der illegalen Besatzungszonen. Diese Zusammenarbeit beinhaltet das Stationieren von syrischen Soldaten entlang der Grenze und Front, sowie medizinische Hilfen. Doch weder wurden gesellschaftliche Errungenschaften aufgegeben, noch gibt es eine politische Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime.

Trotz dieser permanenten Angriffe auf allen Ebenen geht der Aufbau einer solidarischen Gesellschaft in Rojava voran. Während der Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie gibt es kostenlos Strom für alle Familien und weiter wird mit hohem Aufwand eine Wasserversorgung mit Tanklastern für die abgeschnittenen Regionen sichergestellt. Um sich gegen das Virus schützen zu können, produzieren Kooperativen mehrere tausend Schutzmasken täglich und verteilen diese kostenlos.

Innenraum eines Rettungswagens

Nicht ob sondern wann kommt es zu offenem Angriffskrieg

In der aktuellen Situation des Low-Intensity-Warfare ist nicht die Frage, ob es zu einem offenen Angriffskrieg des türkischen Staates kommen wird. Es geht eher um die Frage, wann. Genauso wenig stellt sich für uns die Frage, welche Optionen es geben wird, wenn die zweitgrößte NATO-Armee mit hunderten Kampfpanzern, Jagdbombern, bewaffneten Drohnen und unterstützt von 70.000 dschihadistischen Söldnern die Gebiete der Selbstverwaltung in Nordsyrien angreifen wird.

Es gibt nur die Möglichkeit des Widerstandes, auch bei technisch und militärisch weit überlegenen Angreifern. So wie dieser imperialistische Krieg kein regionaler Konflikt ist, genauso ist Europa mit dem „Flüchtlingsdeal“, milliardenschweren Waffenexporten und geostrategischen Interessen ein Partner dieser Angriffe auf die kurdischen selbstverwalteten Gebiete. Dieser Kampf in Rojava für eine emanzipierte, befreite Gesellschaft wird nicht an Grenzen oder Fronten enden, daher soll auch Solidarität an keinen Grenzen halt machen.

So wie es hier für die Menschen in Rojava heißt „No Pasaran“ (Sie werden nicht durchkommen), so muss es auch in Europa heißen „Krieg dem Krieg“ - Solidarität und Widerstand auf allen Ebenen mit allen Mitteln. Die Krisen kommen in immer kürzeren Abständen und haben immer größere globale Konsequenzen. Mit der US-Immobilienkrise 2006, als Hypothekenbanken Millionen Menschen mit Krediten überschuldeten und infolge der Kreditausfälle für Banken, Fonds und Versicherungen 2007 eine weltweite Bankenkrise ausgelöst wurde. Dadurch ging 2008 mit „Lehman Brothers“ die erste „too big to fail“ Großbank pleite und löste die globale Wirtschaftskrise 2009 bis hin zur europäischen Schuldenkrise und der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands 2010 aus.

In dieser Kette von Krisen haben Millionen Menschen ihre Existenzen verloren, während Banken mit zig Milliarden Dollar Steuergeldern gerettet wurden und die Staaten der Krisengewinner einen Schuldenerlass für überschuldete Länder ablehnten. Die jetzt stattfindende globale Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Mit den Pandemien wie SARS 2002, der Vogelgrippe 2004 und der Schweinegrippe 2009 ist Covid-19 auch eine wiederkehrende Krise.

Gefallene werden nach Zirgan gebracht

Politik macht Gesundheit zur Ware

Lobbyverbände erzählen uns nun, dass dieses Virus alle Menschen gleich gefährdet, arme wie reiche. Doch die systemrelevanten Putzkräfte, Verkäuferinnen, Pfleger und Krankenschwestern müssen sich der Gefahr einer Infektion aussetzen. Andere zu Hause im Lockdown festgesetzte Menschen bangen währenddessen um ihren Lebensunterhalt und ihre Familien. Während nun Menschen in prekären Lebensverhältnissen existenzielle Ängste haben, wird eher Rücksicht genommen auf Menschen, dessen größtes Problem die Monotonie des Alltags ist. Ab sofort ist in Deutschland das Betreiben von Sportarten wie Tennis, Golf, Reiten, Segelfliegen und Schießen wieder erlaubt.

Im Gegenzug soll nun der 12-Stunden-Arbeitstag wieder eingeführt werden und von der versprochenen Prämie von 1500 Euro für Pflegepersonal wird inzwischen auch wieder Abstand genommen. Wenn Politiker jetzt dazu aufrufen, dem Klinikpersonal zu applaudieren und zu danken, gleichzeitig fundamentale Freiheitsrechte einschränken, dann sind dies die gleichen Politiker, die unsere Gesundheit zu einer Ware gemacht haben. Mit der Privatisierung des Gesundheitswesens geht es um Profitmaximierung und Rentabilität, aber nicht um Menschenleben.

Wenn Krankenkassen um Kostenübernahmen streiten, Krankenschwestern und Pfleger nur prekäre, unterbezahlte, überbelastete Arbeitsverhältnisse bekommen, Ärzte von hoch entwickelten Industrienationen gekauft werden, die anschließend in ihren Heimatländern fehlen, dann sind das kapitalistische Auswüchse, die schon vor der jetzigen Coronakrise Menschenleben kosteten. Betrachtet man die globale Erwärmung und Umweltzerstörung der letzten 20 Jahre, sind dies Katalysatoren und beschleunigen unsere Krisen. Alles dreht sich im Kreis, alles kehrt wieder.

Diese wiederkehrenden Krisen sind ein Zustand, ein Ausnahmezustand. Dieser Ausnahmezustand ist keine Krise der kapitalistischen Moderne, die kapitalistische Moderne ist unsere Krise. Umso wichtiger ist es jetzt, eine Alternative zum aktuellen System zu entwickeln, diese Alternative zu ermöglichen, zu leben und zu verteidigen.