Guerilla: Die Kriegspartei sind wir, nicht die HDP

Der Guerillakommandant Mahir Deniz äußert sich im ANF-Gespräch zum staatlich inszenierten Protest vor der HDP-Zentrale in Amed und fragt: „Wieso setzt sich die Regierung nicht für die Soldaten und Polizisten ein, die sich in PKK-Gefangenschaft befinden?“

Seit zwei Wochen findet in Amed (Diyarbakir) vor der Parteizentrale der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ein Sitzstreik von Familien statt, deren Kinder angeblich durch die HDP einer Gehirnwäsche unterzogen und anschließend zum Beitritt in die Guerilla ermutigt worden seien. Die inszenierte Protestaktion begann mit der Geschichte eines jungen Mannes, der von seiner Familie bei der Polizei als vermisst gemeldet wurde. Seine Mutter ging von der Polizei zum HDP-Gebäude, schlug die Scheiben ein und forderte ihren Sohn zurück, der angeblich von Parteimitgliedern zur Guerilla gebracht worden sein sollte. Kurze Zeit später meldete sich der Betroffene selbst zu Wort und gab gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya an, dass er sein Elternhaus verlassen habe, um einer Zwangsverheiratung mit einer Verwandten zu entgehen.

Unter den Familien, die sich an dem staatlich orchestrierten Protest beteiligen, sind auch Angehörige von Soldaten und Polizisten, die sich in Gefangenschaft der Volksverteidigungskräfte HPG befinden. Über deren Teilnahme hat sich der Guerillakommandant Mahir Deniz in einem Interview mit unserer Agentur geäußert. Als langjähriges HPG-Mitglied wies Deniz darauf hin, dass die HDP-Zentrale der falsche Ort für einen Protest wie diesen sei. „Wenn die Eltern ihre Kinder zurückhaben wollen, müssen sie schon in der AKP-Zentrale protestieren. Diese Personen sind schließlich Angehörige der Kräfte, die von der Regierung auf das kurdische Volk losgelassen worden sind und eben aus diesem Grund von uns gefangengenommen wurden. Wenn sie schon Forderungen an jemanden stellen wollen, dann an uns“, so der Guerillakommandant.

Seit die türkische Regierung unter der Dirigentschaft von Präsident Recep Tayyip Erdoğan wenige Wochen nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 den umfassenden Vernichtungsplan gegen die kurdische Befreiungsbewegung anzuwenden begann und wieder auf totalen Krieg setzte, wurde von der Guerilla eine Vielzahl türkischer Soldaten, Polizisten und Angehöriger des Geheimdienstes MIT festgenommen. Bisher hat die AKP/MHP-Regierung keine Schritte unternommen, um ihre Freilassung zu erwirken. „Diese Fälle erscheinen auch nicht auf der politischen Agenda“, erklärt Mahir Deniz und fährt fort: „Der türkische Staat hat in der Vergangenheit sogar mehrfach versucht, ihre Position zu lokalisieren, um sie bei gezielten Luftangriffen zu töten. Die Absicht dahinter liegt auf der Hand. Die Regierung will propagieren, dass die PKK für den Tod dieser Männer verantwortlich ist. Auch wenn es die eigenen Leute sind; für das faschistische Regime besitzt das menschliche Leben keinen Wert. Nur die Familien der Betroffenen interessieren sich für das Schicksal ihrer Angehörigen.“

Deniz erwähnt, dass sich unter anderem der Vater des Soldaten Müslüm Altıntaş am Sitzstreik in Amed beteiligt und erinnert daran, dass sich viele der Polizisten und Soldaten bereits seit fünf Jahren in HPG-Gefangenschaft befinden. Um den Familien ein wenig ihrer Sorgen zu nehmen und die Öffentlichkeit über den Zustand der Gefangenen zu informieren, haben die HPG in der Vergangenheit Videostatements der Soldaten, Polizisten und MIT-Agenten veröffentlicht. In diesem Jahr konnten die gefangenen Staatsbediensteten Briefe formulieren, die in Ankara dem Menschenrechtsverein IHD zur Weiterleitung an ihre Familien übergeben wurden. „Dennoch verhalten sich der türkische Staat und die Öffentlichkeit so, als existierten diese Gefangenen überhaupt nicht. Es besteht offenbar kein Interesse an ihnen“, sagt der Guerillakommandant.

Vor einigen Tagen hatte sich Murat Karayilan aus dem Exekutivrat der kurdischen Arbeiterpartei PKK anlässlich des Sitzstreiks vor der HDP-Zentrale in Amed zu Wort gemeldet. Karayilan, der auch Oberkommandierender des HPG-Hauptquartiers ist, hatte erklärt: „Dieser Protest ist eine Machenschaft der AKP, des MIT und der Polizei. Es handelt sich um eine Spezialkriegsmethode, ein schmutziges Szenario, dem sich die Menschen dort bewusst werden und entziehen sollten. Es liegt nicht in der Macht der HDP uns aufzufordern, Person X nach Hause zu schicken. Wir lassen uns nicht von anderen auftragen, was mit unseren Militanten geschehen soll. Ich kann ganz klar sagen: Diese Familien können auch die nächsten zehn Jahre vor der HDP-Zentrale verweilen, zurückkommen wird deshalb niemand.“ Dem schließt sich Guerillakommandant Mahir Deniz an und ergänzt: „Das Sit-in bei der HDP ist vergebens. Diese Leute wurden von uns als eine der Kriegsparteien verhaftet. Die Familien sollten sich an uns und den Staat wenden. Das, was das AKP/MHP-Regime derzeit mit diesen Familien tut, ist sie für seine eigenen Interessen zu missbrauchen. So wie ihre Kinder bereits ausgenutzt und in den Krieg getrieben wurden, so sollen sie jetzt getötet werden. Sollte ihnen etwas zustoßen, ist es der Staat, bei dem die Verantwortung dafür liegt. Die Angehörigen der Soldaten und Polizisten sollten die Wahrheit erkennen und sich nicht zum Werkzeug dieser schmutzigen Politik machen lassen.“

Im Jahr 2015 veröffentlichte ANF Interviews mit neun türkischen Soldaten und Polizisten, die von der PKK festgehalten werden. Die Staatsbediensteten erklärten, dass Krieg keine Lösung für den Konflikt sei, und riefen zu einem Dialog auf. Außerdem gaben sie an, dass der Staat ihre Gefangenschaft ignoriere.

Im August 2017 wurden die beiden MIT-Funktionäre Erhan Pekçetin und Aydın Günel in Dokan im südkurdischen Gouvernement Silêmanî von einer Sondereinheit der HPG verhaftet. Beide gestanden, dass die Morde an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 in Paris vom türkischen Geheimdienst MIT geplant und ausgeführt wurden.

Bei den neun in PKK-Gefangenschaft befindlichen Soldaten und Polizisten handelt es sich um:

Sedat Sorgun: Soldat aus Erzîrom (Erzurum). Gefangengenommen während seines Wehrdienstes im Typ-F-Gefängnis von Wan (Van). Seit vier Jahren in Gefangenschaft.

Ümit Gıcır: Soldat aus Balıkesir. Gefangengenommen während seines Wehrdienstes in der Kommandozentrale der Militärpolizei (Jandarma) in der nordkurdischen Kreisstadt Çelê (Çukurca). Seit drei Jahren in Gefangenschaft.

Semih Özbey: Unteroffizier aus Meletî (Malatya). Seit seiner Festnahme in Dersim am 17. September 2015 inhaftiert.

Adil Kabaklı: Soldat aus Osmaniye. Gefangen auf dem Weg nach Dersim nach Abschluss der militärischen Ausbildung in Ankara. In Gefangenschaft seit vier Jahren.

Müslüm Altıntaş: Soldat aus Riha (Urfa). Nach den ersten 1,5 Monaten seines Wehrdienstes auf der Fernstraße Dersim-Ezirgan verhaftet. Gefangen seit vier Jahre.

Mevlüt Kahveci: Unteroffizier aus Eskişehir. Vor vier Jahren auf dem Weg von Çelê nach Colemêrg (Hakkari) festgenommen.

Sedat Yabalak: Polizist aus Mersin, Einsatzort in Riha. Wurde während einer Fahrt Richtung Dienststelle auf der Landstraße zwischen Amed und Licê festgenommen. Gefangen seit vier Jahren.

Süleyman Sungur: Soldat aus Sêrt (Siirt), ebenfalls auf der Strecke zwischen Amed und Licê festgenommen, als er auf dem Weg nach Çewlîg (Bingöl) war. In Gefangenschaft seit vier Jahren.

Hüseyin Sarı: Unteroffizier aus Maraş, der auf der Fahrt von Sarıkamış nach Maraş festgenommen wurde. Gefangen seit vier Jahren.

Hiniweis: Bei den Interviews handelt es sich um Archivaufnahmen.