Ferhad Şami: In Camp Hol wächst die dritte IS-Generation heran
Der QSD-Pressesprecher Ferhad Şami warnt vor einem Aufleben des IS in Syrien. In Camp Hol wachse eine „dritte Generation“ von IS-Dschihadisten heran.
Der QSD-Pressesprecher Ferhad Şami warnt vor einem Aufleben des IS in Syrien. In Camp Hol wachse eine „dritte Generation“ von IS-Dschihadisten heran.
Seit dem 25. August findet im Flüchtlings- und Internierungslager Hol eine großangelegte Operation der Kräfte der inneren Sicherheit von Nord- und Ostsyrien gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat" (IS) statt. Bei der von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und ihren Mitgliedsverbänden, den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ), unterstützten Operation wurden mehr als hundert mutmaßliche IS-Dschihadist:innen festgenommen, Gefangene befreit, Waffen beschlagnahmt, Foltereinrichtungen zerstört und IS-Infrastruktur zerschlagen. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ANHA hat sich der QSD-Pressesprecher Ferhad Şami zu den Vorgängen geäußert.
QSD-Pressesprecher Ferhad Şami
„Die IS-Generation, die im Camp heranwächst, ist gefährlicher als der alte IS“
Şami berichtet über die Lage im Camp: „In dem Lager gab es viele Morde, Aufstände von IS-Frauen und Angriffe durch Kinder. Darüber wurde in der Weltpresse und in UN-Dokumenten berichtet. Die Gefahr, die vom Camp Hol ausgeht, besteht schon seit langem. Anfangs zogen die Familien aus dem IS notgedrungen ins Camp Hol, weil al-Bagouz damals zu gefährlich war. Als die IS-Frauen ankamen, verbreiteten sie das Gerücht, Kalif Abu Bakr al-Baghdadi habe versprochen, sie zu retten. Es handele sich nur um einen vorübergehenden Aufenthaltsort, an dem man sich ideologisch entwickeln könne und die nächste Generation von IS-Dschihadisten heranziehen werde. Diese Situation machte das Lager zu einer explosionsbereiten Bombe. Der IS tötet im Lager Menschen und zieht eine neue Generation heran. Das ist die größte Gefahr. Diese Generation wird noch gefährlicher sein als die alte. Deshalb war diese Operation dringend notwendig.“
„Es wird versucht, im Camp Hol das zweite Kalifat zu gründen“
Zum Grund der Operation führt Şami weiter aus: „Der IS lebt in diesen Lagern wieder auf. Die Organisierung des IS startete mit einigen wenigen Personen. Das Lager von Hol ist der zweite Versuch, ein Kalifat zu errichten. Das ist eine reale und offensichtliche Gefahr. Obwohl diese Operation aufgrund der Angriffe des türkischen Staates einige Zeit verschoben werden musste, war sie dringend notwendig. Die internationale Gemeinschaft hat zwar von der Gefahr gesprochen, aber die Augen vor der Situation verschlossen und keine Schritte unternommen. In unserer Region befindet sich eine tickende Zeitbombe. Sie stellt eine große Gefahr für die Region, unsere Errungenschaften und die Welt dar.“
„Ohne die QSD wäre der IS niemals besiegt worden“
Şami ging auch auf die Rolle der QSD ein: „Der QSD sind eine militärische Kraft zur Verteidigung der Grenzen. Solche Operationen werden von den QSD durchgeführt. Im Inneren gibt es in Nord- und Ostsyrien natürlich ein offizielles System und ein organisatorisches Netzwerk für den Schutz der Bevölkerung. Aber der IS ist nicht nur ein internes Problem. Diese Krankheit kann nicht allein von den Kräften der inneren Sicherheit bekämpft werden. Sie werden daher von den QSD unterstützt. Die ganze Welt weiß, dass die QSD große Erfahrung im Kampf gegen den IS-Terror haben. Hätten die QSD diese Operation nicht unterstützt, dann hätte der IS eine Gelegenheit gefunden, von außen zu agieren. Selbst seine Zellen im Camp hätten dies als eine Gelegenheit betrachtet, die Sicherheitskräfte anzugreifen und einige andere Dinge zu tun.“
„Der IS plant, drei Korridore zu öffnen“
Şami erklärte weiter: „Die QSD umstellen derzeit das Lager. Der IS unternahm mehrere Versuche, Korridore zu öffnen. In der Vergangenheit haben wir bereits seine Bemühungen, drei Korridore einzurichten, offengelegt. Ein Korridor sollte von den besetzten Gebieten bei Til Temir am Berg Kezwan zum Sina-Gefängnis reichen und von dort über Til Koçer nach al-Hol.
Dies war der erste Plan. Der zweite Korridor sollte von der irakischen Grenze aus über Til Koçer bis in den Osten von Deir ez-Zor reichen. Wenn man die Situation verfolgt, so weiß man, dass wir viele Gefallene bei Til Koçer hatten. Der dritte Korridor sollte in der syrischen Wüste entstehen, wo IS-Zellen versuchten, die Wasserversorgung zu unterbrechen. Sie wollten vor allem den Euphrat unterbrechen. Die Regierung in Damaskus verschloss beide Augen vor diesem Vorgehen.
Die IS-Zellen haben viele Gebiete entlang der Wasserversorgungslinie zwischen uns und den von der Regierung in Damaskus kontrollierten Gebieten in ihre Gewalt gebracht. Sie wollten dort einen Korridor eröffnen. Diese Wege wurden im Zuge des Angriffs auf das Sina-Gefängnis zerstört. Andere Korridore an der Grenze zwischen dem Irak und dem türkischen Staat blieben jedoch bestehen, weil die irakische Regierung nicht die nötige Unterstützung gewährte und der türkische Staat ständig darum bemüht war, dass der Korridor Camp Hol erreicht. Daher spielten die QSD die wichtigste Rolle bei der Unterbrechung der Verbindung des Lagers Hol zu den IS-Zellen in der Umgebung. Dies stellt die Vorbedingung für die Kontrolle des Lagers dar.“
„Enge Beziehungen zwischen IS und türkischem Staat dauern fort“
Der türkische Staat unterstützte den IS von Beginn an. Insbesondere in den türkisch besetzten Gebieten finden führende Islamisten nicht nur Zuflucht, sie können von dort aus ihr blutiges Handwerk weiter fortsetzen. Şami beschreibt die Beziehungen zwischen dem IS und der Türkei mit den Worten: „Die Zusammenarbeit zwischen dem IS und der Türkei ist mittlerweile eine weltweit anerkannte Tatsache. Aktuell stecken einige Staaten den Kopf in den Sand und wollen diese Beziehung nicht sehen und verhindern, dass etwas ans Licht kommt. Das macht den IS noch gefährlicher. Solange die internationalen Mächte die ihnen vorliegenden Beweise über die Beziehungen zwischen dem IS und der Türkei nicht an die Gerichte übergeben, wird die Gefahr nur wachsen.
„Die IS-Kalifen befinden sich in den türkisch besetzten Gebieten“
Der türkische Staat macht sich dies zunutze. Obwohl bereits viele Beweise vorliegen, ist der wichtigste die Anwesenheit von IS-Anführern in den besetzten Gebieten. Die Beziehung zwischen dem türkischen Staat und dem IS wird durch die Existenz von IS-Kommandoeinrichtungen in den besetzten Gebieten deutlich. Abu Bakr al-Baghdadi wurde in Idlib getötet, Abu Ibrahim al-Quraishi wurde zwischen Idlib und Efrîn getötet, Fayez al-Aqal wurde in al-Bab getötet, Maher al-Aqal wurde in Cindirês getötet, es gibt also echte Verbindungen zwischen den besetzten Gebieten und dem Camp Hol. Das Camp Hol, das Camp Roj und die Gefängnisse, in denen IS-Dschihadisten inhaftiert sind, sind direkt mit dem IS-Kalifat verbunden. Das Kalifat ist genau auf diese Einrichtungen fokussiert und die Kalifen wurden in den besetzten Gebieten getötet.“
Das Dreieck MIT, IS-Zellen und al-Hol
Bei der aktuellen Anti-IS-Operation seien vor allem die Verbindungen zwischen dem türkischen Geheimdienst MIT und dem IS deutlich geworden. Şami beschreibt die Rolle des MIT in al-Hol: „Viele IS-Mitglieder und Familien versuchten zu fliehen. Der MIT nahm Kontakt zu diesen Familien auf. Die Aktivitäten des MIT sind bei den IS-Familien im Lager deutlich zu beobachten. Wenn die türkischen Angriffe zunehmen, werden sie sofort zurückgezogen. Der türkische Geheimdienst sieht, dass der türkische Staat sie in seinen eigenen Grenzen profitabel nutzt, und will sie auch gegen uns einsetzen, um den IS wiederzubeleben und seine Vorherrschaft in der Region zu etablieren."
„Die dritte IS-Generation ist die gefährlichste“
Ferhad Şami warnt vor einer hirngewaschenen, hochgefährlichen IS-Generation: „Wir sprechen nun von drei Generationen des IS. Die erste Generation stammt aus al-Qaida und bildete die Basis des IS, die zweite hat den IS gegründet und die dritte Generation sind die Kinder, die derzeit von ihren Müttern unterrichtet werden. Journalistinnen und Journalisten werden von kleinen Kindern angegriffen, wenn sie das Lager betreten. Diese Kinder wurden teilweise erst im Lager geboren und sind nun die dritte Generation. Nach Angaben von humanitären Organisationen werden hier jeden Monat 60 Kinder von IS-Frauen geboren. Von 2019 bis 2022 kamen 1.800 Kinder zur Welt. Die Kinder von IS-Frauen werfen Steine auf Journalisten, auf die humanitären Organisationen hier, auf die Menschen, die sie versorgen. Wenn sie sich ihnen nähern, machen sie mit ihren Händen das Zeichen des IS und sagen: ‚Ich werde dich töten‘. Das ist gefährlich. Diese Generation wächst im Hass auf, sie wollen ihre Väter, Verwandten und Emire rächen.“
„Die IS-Ideologie wird mit Messern und Schwertern durchgesetzt“
Bei der Durchsuchung des Camps wurden etliche Tötungs- und Folterwerkzeuge gefunden und mehrere Frauen aus Folterkellern befreit. Şami ordnet die Funde ein: „In diesem Lager befinden sich nicht nur Familien von IS-Söldnern. Es gibt auch Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind und den QSD vertraut haben. Der IS benutzt Schwerter, Messer und Folterinstrumente, um seine Ideologie der Angst wiederzubeleben. Er versetzt die Menschen nicht mit schweren Waffen in Angst und Schrecken, sondern mit Messern und seiner Ideologie. In den Lagern, in den geheimen Zellen, in Schulen und Moscheen vermittelt er dschihadistisches Gedankengut, und auf der anderen Seite benutzt er Messer und scharfe Instrumente, um Menschen zu foltern und zu töten.“
„Es war eine große Ehre, eine Ezidin zu befreien“
Zum Fortschreiten der Operation erklärt der QSD-Pressesprecher: „Der IS versucht, die Menschen hier zu verwirren. Wir stellen allerdings fest, dass diese Verwirrung jetzt abgenommen hat. Die Zelte, in denen der IS Schulungen durchführte, wurden abgebaut. Der IS ist nicht mehr in der Lage, Aktionen in dem Lager durchzuführen. Wir werden versuchen, dieses Problem vollständig zu lösen. Auch die Rettung einer ezidischen Frau war für uns ein Wunder. Ihre Befreiung war eine strategische Angelegenheit für die YPJ. Unter der Leitung der YPJ arbeiten wir jeden Tag daran, bis die letzte Ezidin gerettet ist. Die Rettung von Wefa Bekir war eine große Ehre für uns. Es ist so wichtig, ein Leben vor dieser Grausamkeit zu retten. Bisher wurden mehr als 120 Personen in dem Lager verhaftet. Ihr komplexes System muss nun neu aufgebaut werden. Das ist ein großer Erfolg der Operation.“
„Nach Abschluss der Operation werden wir anders vorgehen“
Şami gibt einen Ausblick: „Die QSD und die Kräfte der inneren Sicherheit haben ihren Auftrag in Sachen IS bereits erfüllt. Wir haben den IS besiegt, wir haben eine große Gefahr für die Welt beseitigt. Heute, insbesondere nach dieser Operation, steht das weitere in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft. Kinder und Frauen von IS-Söldnern aus 50 bis 60 Ländern sind hier. Jeder weiß, dass sie Terroristen sind. Wenn die Herkunftsländer ihre Staatsangehörigen nicht aufnehmen, helfen sie dem IS, zu überleben. Wenn die Herkunftsstaaten sie jedoch strafrechtlich verfolgen und in ihre Gesellschaft integrieren, versiegt die Quelle, aus der sich der IS rekrutiert. Wenn sie sich von diesem Thema abwenden, wird die Wunde, die der IS geschlagen hat, noch tiefer. Bislang haben nur 20 Staaten einige Kinder aufgenommen, ohne ihre Mütter zu übernehmen. Die Staaten gehen nur nach ihren Partikularinteressen vor. Nach dieser Operation werden wir anders an dieses Thema herangehen. Weil dieser Ort zu einer tickenden Zeitbombe geworden ist und die Lage so dramatisch ist, sagen wir den internationalen Mächten, dass die Hauptverantwortung bei ihnen liegt. Denn sie konnten das IS-Problem nicht an der Wurzel packen.“