Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien
Am 31. März stehen Kommunalwahlen in der Türkei und Nordkurdistan an. Der Regimeblock und die staatstreue Opposition stehen für ein korruptes, abgewirtschaftetes politisches System, bei dem Zustimmung bei den Wahlen durch Erpressung und Bestechung erkauft wird. Die Opposition der DEM-Partei steht demgegenüber für ein radikaldemokratisches Modell, wie es bereits in Rojava erfolgreich gelebt wird. Grund genug, einen Blick in die Region zu werfen.
Die Revolution von Rojava bereitete sich schon lange im Untergrund vor. Abdullah Öcalan legte bei seinen Aufenthalten in der Region den Grundstein für die radikale Demokratisierung. So organisierte sich die kurdische Freiheitsbewegung jahrelang im Untergrund, Frauenräte, Verteidigungskommissionen und ähnliche Strukturen bildeten sich. Als der Aufstand gegen das syrische Baath-Regime zu einem Hegemonialkonflikt verkam und unzähligen Menschen den islamistischen Proxies und den Angriffen des Regimes zum Opfer fielen, ergriffen die Menschen in Rojava die Initiative und begannen am 19. Juli 2012, das Regime und die dschihadistischen Söldner und Proxies der Regionalmächte aus der Region zu vertreiben. Soldaten wurden entwaffnet, und mit der weitgehend friedlichen Revolution einhergehend wurde ein neuer demokratischer Aufbauprozess eingeleitet. So wurde Rojava zum Fluchtpunkt vieler Menschen in Syrien, aber auch zum Ziel der Regionalmächte und vor allem auch des von der Türkei gestützten IS. Unter Kriegsbedingungen wurde ein Modell aufgebaut, in dem alle ethnischen und religiösen Identitäten zusammenleben und ihr Leben selbst gestalten. Ein treibender Motor dabei ist bis heute die Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM). Es wurde ein Beispiel der Rätedemokratie auf der Grundlage von Öcalans Modell der „Demokratischen Nation“ geschaffen. Die wichtigste Institution dabei sind die Kommunen, Selbstverwaltungseinheiten von 50 bis zu 600 Haushalten, in denen alles organisiert wird.
Die Kommunen und Räte wurden zum Grundprinzip des dezentral ausgerichteten Modells der Selbstverwaltung. Sie haben die Fähigkeit und die Befugnis, die Entscheidungen über ihren Lebensraum zu treffen. Die Entscheidungsfindung beruht auf dem freien Willen der Menschen und auf dem Verständnis vom freien Individuum und bildet in ihrer Gesamtheit die Selbstverwaltung der gesamten Region. Eine Selbstverwaltungsstruktur wurde geschaffen, die in der Lage ist, die Menschen auch unter Kriegsbedingungen zu versorgen und die gleichzeitig fähig war, durch die Kraft der Bevölkerung der furchtbarsten Terrororganisation der Welt als Territorialstaat das Rückgrat zu brechen. Trotz dieser großen kollektiven Aufgaben war die auch als Rojava bekannte Region in der Lage, der Gefahr eines Zentralismus zu begegnen und durch einen Prozess der Gestaltung des Gesellschaftsvertrags die dezentrale Selbstverwaltung immer weiter auszubauen. Dabei weisen die Basisstrukturen weiterhin eine große Resilienz gegenüber Angriffen auf. Nachdem die Türkei einen Großteil der zivilen Infrastruktur zerstört hat, werden im Moment nicht nur Energieeinrichtungen, Stromnetze, Krankenhäuser und sonstige Einrichtungen wieder aufgebaut, auch gehen die kulturellen, sprachlichen, historischen und künstlerischen Arbeiten mit großem Engagement und Kreativität weiter.
Die Nachrichtenagentur Mezopotamya sprach mit Sileman Ereb, dem Ko-Vorsitzenden des Komitees der Stadtverwaltungen im Kanton Cizîrê.
Sileman Ereb, Ko-Vorsitzender des Komitees der Stadtverwaltungen im Kanton Cizîrê
Dezentrale Selbstverwaltung
Sileman Ereb sprach über die beiden Wahlen, die bisher in Nord- und Ostsyrien stattgefunden haben, und berichtete, dass in den nächsten Monaten neue Wahlen bevorstünden und für die Stadtverwaltungen einige Änderungen auf der Grundlage des neu ratifizierten Gesellschaftsvertrags anstünden. Er führte aus: „Mit den anstehenden Wahlen werden die Räte aller Stadtverwaltungen voneinander getrennt und erhalten lokale Autonomie. Ebenso wird in jedem Kanton ein Städteverband gegründet, in dem alle Verwaltungen vertreten sind. Alle zwei Jahre werden Wahlen abgehalten, um die Mitglieder des Stadtrats und die Ko-Bürgermeister:innen zu bestimmen. Unsere Vorbereitungen für die Wahlen sind im Gange. Diese Wahlen werden einen wichtigen Wandel in Bezug auf die Demokratie und die öffentlichen Dienstleistungen bewirken. Ich rufe unsere Bürgerinnen und Bürger auf, sich an den Wahlen zu beteiligen und ihren Willen an der Wahlurne kundzutun.“
Frauenautonomie auf allen Ebenen
Ein wichtiges Element, das auch die DEM-Partei in Nordkurdistan vertritt, ist das Modell des Ko-Vorsitzes. Jedes Amt wird von einer Frau und einem Mann besetzt. Ereb sagt dazu: „Das System des Ko-Vorsitzes ist eine unabdingbare Voraussetzung für unser Verständnis von Selbstverwaltung. Es definiert unsere Haltung und ist durch einen großen Kampf erstritten worden. Aus diesem Grund setzen wir dieses Verständnis sowohl in allen Institutionen des Kantons Cizîrê als auch in allen Institutionen in Nord- und Ostsyrien um. Dieses Verständnis ist jetzt hier etabliert. Frauen haben in den Stadtverwaltungen wie in allen Institutionen Autonomie. Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen und setzen sie selbst um. Auf die gleiche Weise werden auch frauenspezifische Projekte in der Arbeit der Stadtverwaltungen einbezogen.“
„Alle Identitäten und Glaubensrichtungen gleichberechtigt vertreten“
Gleichzeitig setzt das Modell der demokratischen Autonomie auch auf gleichberechtigte Repräsentanz aller ethnischen und religiösen Identitäten. Sileman Ereb betonte, dass alle Völker, Glaubensrichtungen und Gruppen auf der Grundlage des Paradigmas der demokratischen Nation gleichberechtigt in der Stadtverwaltung vertreten sind. Dabei seien Gerechtigkeit und Gleichheit die Grundprinzipien der kommunalen Selbstverwaltung. Ereb weiter: „Unsere Stadtverwaltung beruht auf einem ökologischen Verständnis, auf Frauenbefreiung und der Beteiligung aller Teile der Gesellschaft an der Verwaltung mit ihrer eigenen Couleur, Identität und Überzeugung. Dieses System wird derzeit in Nord- und Ostsyrien praktiziert und alles, was wir tun, beruht darauf. Es hat eine Vorbildfunktion für die ganze Welt. Wenn in den Gemeinden ein Ko-Vorsitzender Kurde oder Kurdin ist, ist der andere Araber, Turkmenin, Suryoye oder Ezidin. Mit anderen Worten, wir gehen davon aus, dass alle Identitäten und Glaubensrichtungen entsprechend der Struktur der Gesellschaft gleichermaßen an der Verwaltung beteiligt sind. Daher können wir eindeutig sagen, dass das Paradigma der demokratischen Nation hier verwirklicht wurde.“
„Kein Schritt ohne Volksbeteiligung“
Zur demokratischen Praxis in den Verwaltungen sagte Ereb: „Die Bevölkerung ist an allen Arbeiten der Stadtverwaltungen beteiligt. Es werden öffentliche Versammlungen organisiert, um auf die Bedürfnisse und Probleme der Menschen einzugehen. In diesen Versammlungen werden die Aktivitäten der Gemeinde in Form eines Berichts verlesen und der Öffentlichkeit erläutert. Die Finanzberichte der Gemeinde, wie viel Geld eingegangen ist, wie viel ausgegeben wurde, wofür es ausgegeben wurde und wie viel Geld in der Kasse ist, werden der Öffentlichkeit mit großer Transparenz mitgeteilt. Alle Türen der Stadtverwaltung stehen der Öffentlichkeit jederzeit offen. Die Bürgerinnen und Bürger können sich jederzeit an die Stadtverwaltung wenden und ihre Probleme und Sorgen vorbringen. Wenn nötig, können sie sich auch beschweren und Rechenschaft verlangen.“
Kinder und Jugend
Gleichzeitig leisten die Stadtverwaltungen eine intensive Kinder- und Jugendarbeit. Dabei sind diese weitgehend autonom. Ereb beschrieb: „Die Jugend entwickelt eigene Projekte und arbeitet in den Stadtverwaltungen. Sie sind ohnehin bereits häufig Teil der Verwaltungen. Für Kinder haben wir unsere Priorität auf die Eröffnung von Kinderzentren in der Stadt gelegt. Wir wollen sicherstellen, dass keine Kinder auf der Straße leben und dass das Bedürfnis jedes Kindes nach Unterkunft, Ernährung und Schutz erfüllt wird. In diesen Zentren werden alle Grundbedürfnisse der Kinder befriedigt. Es gibt auch Zentren für sehr kleine Kinder. Eltern, die arbeiten müssen, vertrauen ihre Kinder diesen Zentren an, bis ihre Arbeit beendet ist.“
„Gebt euch selbst eine Stimme“
Mit Blick auf die Wahlen in Nordkurdistan und der Türkei appellierte Ereb, dass die Kurd:innen ihre eigenen Kandidat:innen unterstützen und sich selbst verwalten sollen. Er sagte: „Unterstützen wir bei diesen Wahlen patriotische Kandidaten und Kandidatinnen, die in den Kommunalverwaltungen den Menschen dienen werden. Lasst uns für uns selbst und gegen das herrschende System stimmen. Lasst uns uns selbst verwalten, indem wir unsere demokratische Politik gegen das System der Ignoranz und Verleugnung, gegen das System, das jeden Tag Nord- und Ostsyrien bedroht und Zwangsverwalter ernennt, verteidigen.“