Kurdistan und der Mittlere Osten: Entwicklungen und demokratische Lösungsperspektiven

Der Gaza-Krieg hat das politische Gleichgewicht in Nah- und Mittelost erschüttert. Ali Çiçek analysiert die jüngsten Entwicklungen in der Region und zeigt demokratische Lösungsperspektiven auf.

Mit dem seit Anfang Oktober 2023 andauernden Krieg in Gaza und Israel ist der sogenannte „Nahostkonflikt“ wieder ins Zentrum der internationalen Öffentlichkeit und Politik gerückt. Es wird vor einer Kettenreaktion und einem Flächenbrand in der Region gewarnt. Angesichts von über 25.000 toten Zivilist:innen in Gaza durch die genozidalen Angriffe der israelischen Armee mehren sich die Stimmen für ein Ende des Gaza-Krieges und verschiedene regionale und internationale Akteure legen Pläne für einen nachhaltigen Frieden im Mittleren Osten vor. Kaum berücksichtigt werden hierbei jedoch die historischen und gesellschaftlichen Realitäten der Region. Die Warnung des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, dass es „die größte Katastrophe für eine Gesellschaft ist, die Kraft zu verlieren, über sich selbst nachzudenken und selbstständig zu handeln“¹, ist angesichts der jüngsten Entwicklungen und Diskussionen rund um den Gaza-Krieg besonders treffend. Denn für die nahöstlichen Gesellschaften ist die jüngste Eskalation die Fortsetzung eines seit bereits langem andauernden Krieges und Konflikts. So herrscht vor allem in Kurdistan und Palästina seit hundert Jahren ein ununterbrochener Krieg.

Der Mittlere Osten als Zentrum des Dritten Weltkrieges

Die gegenwärtigen Krisen und Kriege vor allem im Mittleren Osten, aber auch auf internationaler Ebene werden von der kurdischen Freiheitsbewegung im begrifflichen und theoretischen Rahmen des „Dritten Weltkrieges“ eingeordnet: „Wenn wir das orientalistische Paradigma zerschlagen, sehen wir, dass das Ende des Kalten Krieges für den Mittleren Osten gleichbedeutend mit dem Sprung des heißen Krieges auf eine höhere Stufe ist. Dass der Golfkrieg im Jahr 1991, ein Jahr nach dem Ende des Kalten Krieges, erfolgte, bestätigt diese Ansicht.“² In diesem Krieg ändert sich zwar die Priorisierung von geographischen Gebieten, jedoch wird der Krieg in verschiedenen Formen in vielen Regionen gleichzeitig geführt. Manchmal steht die Diplomatie (soft power), manchmal die Gewalt (hard power) im Vordergrund. Auch der seit 2022 andauernde Krieg in der Ukraine fügt sich in dieses Bild. Mit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine hat der Dritte Welt-krieg zum ersten Mal die Grenzen des Mittleren Ostens verlassen. Die jüngsten Entwicklungen in Gaza-Israel deuten jedoch darauf hin, dass das Zentrum des Krieges wieder der Mittlere Osten sein wird. Dieser seit fast 35 Jahren andauernde Dritte Weltkrieg kann auch als ein globaler Neuordnungsprozess definiert werden, der seit dem Zerfall der Sowjetunion andauert. In diesem Rahmen beruhen Strategien wie das „Greater Middle East Project“ (GME) vor allem darauf, den Mittleren Osten von potenziellen Bedrohungen für die USA und den Westen zu säubern, die Energieressourcen und Energiekorridore zu kontrollieren und die Sicherheit Israels zu gewährleisten.

Der Dritte Weltkrieg lässt sich hierbei in vier Phasen unterteilen, in denen verschiedene Interessen und Akteure prägend waren und sind. Entsprechend der oben genannten Ziele begann die USA diesen Krieg mit dem Golfkrieg im Jahr 1991 und dem Ausbau ihrer militärischen und politischen Macht durch die Entsendung von zehntausenden Soldaten in die Region. In der zweiten Phase intervenierte die USA mit ihren Verbündeten in Afghanistan und im Irak. Das internationale Komplott³ gegen den Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan fällt ebenfalls in diesen Zeitraum. Dieses Komplott sollte den Einfluss der kurdischen Freiheitsbewegung im Mittleren Osten schwächen. Dies untermauert die wichtige geopolitische und geostrategische Rolle Kurdistans in diesem Krieg. Die dritte Phase wurde eingeleitet mit dem sogenannten „Arabischen Frühling“, im Zuge dessen die Völker des Mittleren Ostens zum ersten Mal in der Moderne als zentrales Subjekt die politische Bühne betraten. Dieser gesellschaftliche Aufstand, der am 17. Dezember 2010 in Tunesien begann, führte zu einer radikalen Veränderung der Machtverhältnisse in der Region. Seitdem befinden sich die bisherigen sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen in der Region in einem unumkehrbaren Veränderungsprozess. Die externen Interventionen globaler Mächte in die nach dem Arabischen Frühling entstandenen Konflikte und politischen Kämpfe haben die ohnehin schon komplexen regionalen Beziehungen weiter verkompliziert. Vor allem in Syrien, im Jemen, im Irak und in Libyen geht der erbitterte Kampf zwischen lokalen Mächten weiter, während auf der anderen Seite globale Mächte wie die USA, China und Russland gleichzeitig in einen erbitterten Machtkampf in der Region verwickelt sind. Diese Machtkämpfe vieler Akteure machen den Prozess sehr kompliziert. Die vierte Phase des Dritten Weltkrieges wird hingegen vor allem von Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft über Energieressourcen und Energiekorridore geprägt. Und auch der gegenwärtige Krieg zwischen der Hamas und dem israelischen Staat ist als ein direkter Teil der Dritten Weltkriegs zu verstehen.

Energiekriege im Mittleren Osten

Im Kontext des globalen Neuordnungsprozesses bröckelt die US-Hegemonie und der Einfluss von Staaten wie China, Russland, Indien etc. und Staatengemeinschaften wie z.B. den BRICS-Staaten wächst. In der Entwicklung einer multipolaren Weltordnung werden auch Handelswege und Energiekorridore neu gestaltet und die Länder des Mittleren Ostens wollen Teil dieses Prozesses, der Aushandlung neuer Haupthandelsrouten und Energiekorridore zwischen Asien und Europa, sein. Der Mittlere Osten ist also erneut zu einem Feld des Wettbewerbs zwischen den Hauptakteuren des globalen Systems, nämlich China, den USA und Russland geworden. Im Gegensatz zu den ersten Phasen des Dritten Weltkrieges kann gegenwärtig (noch) nicht von einem militärischen Trend gesprochen werden. In den USA sehen wir die Tendenz, amerikanische Truppen abzuziehen und Verteidigungsmechanismen durch lokale Akteure aufzubauen. Der Konflikt findet daher auf der Ebene des wirtschaftlichen Wettbewerbs statt. Die zentrale Frage der internationalen Akteure ist, ob China oder Indien der Hauptakteur in diesem Handel sein wird. Derzeit beabsichtigen die USA den Fluss von Waren und Dienstleistungen in den Westen über Indien gegen China zu sichern und Indien zu diesem Zweck zu stärken. China dagegen, das in der Vergangenheit wenig Interesse für den Mittleren Osten gezeigt hat, ist in letzter Zeit zu einem aufsteigendem Akteur in dieser Region geworden. Neben politischen Initiativen hat China inzwischen in weiten Teilen des Mittleren Ostens ernsthafte wirtschaftliche Investitionen getätigt, von Ägypten über Syrien bis hin zu den Golfstaaten. Die Energiesicherheit hat für China, das im letzten Jahrzehnt zum zweitgrößten Ölimporteur der Welt wurde, große Bedeutung gewonnen. Der Wettbewerb zwischen China und den USA um die Kontrolle über die weltweiten Energieressourcen und Transitrouten wird daher immer deutlicher. Der Kampf um Energieressourcen und Transitrouten zwischen China und den USA herrscht nicht nur im Mittleren Osten, sondern auch in Zentralasien, im Kaukasus, in Afrika und in Südamerika.

Konkreter Ausdruck dieses Wettbewerbs um den Mittleren Osten ist der Versuch die Auswirkungen des chinesischen Projekts einer modernen Seidenstraße im globalen Wettbewerb zu minimieren. Das wurde auf dem letzten G20-Gipfel am 9. und 10. September 2023 in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi von den beteiligten Ländern der India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) angekündigt. Das Projekt soll von Mumbai in Indien über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und Jordanien zum israelischen Hafen Haifa, dann über Südzypern zum europäischen Kontinent in den griechischen Hafen Piräus und von dort durch Osteuropa zum deutschen Hafen Hamburg führen. Indien, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Italien, Frankreich, Deutschland, die USA und die EU – die Parteien dieses Abkommens – haben das Projekt mit der Unterzeichnung der Absichtserklärung auf den Weg gebracht. Dieses Projekt verringert die geopolitische Bedeutung der Türkei und verleitete türkische Staatsvertreter zu offenen Drohungen mit den Worten: „Die Türkei ist vielleicht kein Spielmacher in der Region, aber sie kann sie stören!“ Hinter Konflikten wie z.B. dem Bergkarabach-Krieg stehen daher auch Bemühungen der türkischen Regierung, neue Handelswege über die Türkei und Zentralasien zu eröffnen.

Die Ausweglosigkeit des Nationalstaates

Während diese zwischenstaatlichen Konflikte und Kriege sich also um hegemoniales Machtstreben zur Sicherung von Energiekorridoren und -ressourcen drehen, sind die Leidtragenden die Gesellschaften in der Region. Um demokratische Lösungsperspektiven entwickeln zu können, müssen daher zuallererst die Verantwortlichen für diesen Friedhof der Kulturen und Völker benannt und zur Rechenschaft gezogen werden. Für den kurdischen Vordenker Öcalan ist klar, dass die Quelle der Ausweglosigkeit die Nationalstaaten an sich sind: „Wir können nicht genug über die Zumutung des Nationalstaates reden, der die nahöstliche Kultur wie mit dem Messer zerstückelt. Denn das unheilbarste der erlittenen Traumata wurde durch dieses Messer ausgelöst. (…) Die Wunde blutet noch immer weiter. Schauen wir auf den alltäglichen Konflikt zwischen Hindus und Muslim:innen in Indien, das Abschlachten in Kaschmir, im uigurischen Gebiet in China, in Afghanistan und Pakistan, das blutige Ringen der Tschetschen:innen und anderer in Russland, die Kämpfe in Israel/Palästina, Libanon und allen arabischen Ländern, die Konflikte von Kurd:innen mit Türk:innen, Araber:innen und Perser:innen, die konfessionellen Kämpfe im Iran, das ethnische Abschlachten auf dem Balkan, die Auslöschung von Armenier:innen, Griech:innen und Suryoye in Anatolien – lässt sich etwa leugnen, dass die unzähligen andauernden und komplett regellosen Konflikte und Kriege wie diese ein Produkt des kapitalistischen Hegemoniestrebens sind?“

Die kulturelle Wirklichkeit der Region befindet sich im Widerspruch zu dem vom Westen importierten Nationalstaatsmodell. Ausgangspunkt dieser nationalstaatlichen Ordnung ist das vor über hundert Jahren am 16. Mai 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich unterzeichnete Sykes-Picot-Abkommen zur Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Es waren die Kräfte der kapitalistischen Moderne, die den Mittleren Osten auf der Grundlage von Nationalstaaten entworfen haben – ohne Berücksichtigung der Interessen und Belange der Völker der Region. Bei der Ausarbeitung der Grenzziehung berücksichtigten Großbritannien und Frankreich vor allem die reichen Wasser- und Erdölquellen der Region und negierten die Vielfalt der Völker. So ist die in Kurdistan und Palästina etablierte Ordnung ein Ausdruck dieses operativen Eingriffs der kapitalistischen Moderne. Die im Mittleren Osten etablierte Ordnung basiert auf der Verleugnung des Selbstbestimmungsrechts beider Völker. Daher haben sowohl positive als auch negative Entwicklungen in Kurdistan und Palästina Auswirkungen auf die gesamte Region. Der Kampf beider Völker für demokratische und freiheitliche Errungenschaften erschüttert die genozidale und kolonialistische Ordnung im Mittleren Osten im Kern. Die Gründung des Staates Israel, die zu einer Eskalation des historischen arabisch-jüdischen Konflikts und zur Entstehung der Palästina-Frage führte, ist eng mit der Nahostpolitik der Kräfte der kapitalistischen Moderne verbunden. Denn einer der Grundpfeiler der etablierten Ordnung im Mittleren Osten ist die Existenz und Sicherheit des Staates Israel. Und auch die Entstehung der kurdischen Frage und die Tatsache, dass sie weiterhin ungelöst bleibt, ist ein Ergebnis des nationalstaatlichen Ansatzes. Weitere Probleme wie der Konflikt um Bergkarabach und der Genozid an den Armeniern beruhen ebenfalls auf dem nationalstaatlichen Ansatz.

Ohne die Überwindung von nationalstaatlichen Ansätzen im Mittleren Osten ist es nicht möglich diese Probleme nachhaltig zu lösen. Die jüngsten Entwicklungen in Gaza zeigen, dass die ungelösten Probleme jederzeit die gesamte Region in einen Krieg stürzen können. Dasselbe gilt auch für die sogenannte kurdische Frage. Die nationalstaatliche Mentalität und Politik des türkischen Staates gegen die kurdische Gesellschaft und Freiheitsbewegung verursachen dauerhaft Spannung, Konflikt und Krieg. Im Gegensatz zum israelisch-palästinensischen Konflikt ist die Dimension dieses Konfliktes noch vielschichtiger. So warnte Öcalan: „Wenn in Kurdistan die nationalistisch-etatistische Strömung die Oberhand gewinnt, entsteht nicht nur ein neuer Israel-Palästina-Konflikt, sondern gleich vier davon.“ Diese Widersprüche in der Region verhalten sich wie ein aktiv werdender Vulkan, der im Begriff ist, auszubrechen. Die Nationalismen im Mittleren Osten haben in die Sackgasse geführt und viel Blut und Leiden beschert.

Die „Demokratische Konföderation des Nahen Ostens“

Eine Lösung des arabisch-israelischen Problems hängt, wie das der kurdischen Frage, in weiten Teilen von Frieden und Demokratisierung in der Region ab. Die Tatsache, dass die Probleme nicht mit dem Nationalstaat gelöst werden können, sondern dadurch vielmehr verschärft werden, zeigt sich am besten am arabisch-jüdischen Konflikt. Solange der Islam und das Judentum nicht aus dem Zusammenhang von Macht und Staat befreit werden, können sie nicht versöhnt werden. Solange sie darauf bestehen, Kräfte der Macht und des Staates zu sein, werden beide Kräfte ihre Existenz wie in der Geschichte auch heute darin finden, einander zu vernichten. Laut Öcalan muss daher jedes System, das im Mittleren Osten die Chance ergreifen will, eine Lösung zu bieten, zunächst eine erfolgreiche ideologische Auseinandersetzung mit Nationalismus, Sexismus, Religionismus und Positivismus führen. Notwendig ist die Entfaltung von vielfältigen nichtstaatlich orientierten, demokratischen Gesellschaftsaktivitäten und die Befreiung vom Individuum, das sich auf Macht- und Staatskultur konzentriert. Jenseits von staats- und machtorientierten Ansätzen sieht Öcalan die Lösung in einer „Konföderation demokratischer Nationen“, in der alle kulturellen Identitäten als Mitglieder einer egalitären, freien und demokratischen Gesellschaft ein friedliches Leben führen.

Diese „Demokratische Konföderation des Nahen Ostens“ wird nicht als eine Utopie oder als ein politisches Programm für die Zukunft verstanden, sondern als ein Projekt, dass es Schritt für Schritt in allen Bereichen aufzubauen gilt. Sie verfügt über eine starke gesellschaftliche Basis, und auch die Dynamiken der politischen Phase bieten das Potential für demokratische Aufbrüche. Dass demokratische Bewegungen und organisierte gesellschaftliche Kräfte mit kleinen und wirkungsvollen Zügen in kurzer Zeit etwas aufbauen können, was langfristig die Zukunft bestimmen wird, zeigt sich beim Aufbau des demokratischen Konföderalismus in Kurdistan und der seit über zehn Jahren etablierten neuen gesellschaftlichen Ordnung in der Demokratischen Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien (Rojava).

Der Gesellschaftsvertrag – ein neuer Meilenstein in der Region

Dort wurde am 12. Dezember 2023 ein neuer Gesellschaftsvertrag ratifiziert. Dieser soll den Entwicklungen der vergangenen elf Jahre gerecht werden und ist ein bedeutender Schritt in Richtung der Konsolidierung des demokratischen Gesellschaftsmodells in Rojava. Im Gesellschaftsvertrag werden alle ethnischen Identitäten, Religionen, Konfessionen, Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen berücksichtigt. Während nationalistisch-etatistische Ansätze die Lösung in Trennung und Teilung propagieren, haben sich Völker mit dem demokratisch-konföderalen Ansatz einmal mehr auf ein gemeinsames Leben auf Basis von „Einheit in der Vielfalt“ geeinigt. Dieser andauernde demokratische Aufbruch in Nord- und Ostsyrien stellt nicht nur eine konkrete Perspektive für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme in Syrien und eine Inspiration für widerständige Gesellschaften in der gesamten Region dar. Für die regionalen Nationalstaaten und internationalen Akteure, die auf der etablierten Ordnung beharren, stellt diese Perspektive auch eine Gefahr dar, denn sie zeigt wozu Gesellschaften, die die Kraft haben über sich selbst nachzudenken und selbstständig zu handeln, fähig sind. So wundert es nicht, dass die von der türkischen Armee begangenen Kriegsverbrechen international auf taube Ohren stoßen. Und das, obwohl der frühere türkische Geheimdienst-Chef und aktuelle Außenminister Hakan Fidan Anfang Oktober vergangenen Jahres offen ankündigte, dass die gesamte Infrastruktur im Norden und Osten Syriens „legitimes Angriffsziel“ der Sicherheitskräfte, des Militärs und des Geheimdienstes seien.

Kriegsverbrechen als außenpolitisches Paradigma

Die jüngsten Attacken des türkischen Staates in den verschiedenen Teilen Kurdistans sind Teil einer Gewaltchronik, die wir besonders seit 2015, also seit der Wahlniederlage der AKP-Regierung und der einseitigen Aufkündigung der Friedensgespräche mit der PKK, beobachten können. Die türkische Regierung beendete 2015 alle Verhandlungen mit Öcalan und der kurdischen Bewegung und setzt seither auf eine militärische Vernichtungspolitik. Mit der Kriegsentscheidung der Erdoğan-Regierung trat der „Çökertme“-Plan (in etwa: „in die Knie zwingen“), sprich die politisch-militärische Offensive zur Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung, in Kraft. Die kurdische Frage wurde in diesem Rahmen nicht als ein gesellschaftliches Problem, sondern als Sicherheitsfrage behandelt. Nachdem der türkische Staat im Herbst 2016 mit Hilfe einiger NATO-Länder Drohnen-Technologie erwerben konnte, erklärte der damalige Innenminister Soylu im April 2017, dass in Kürze niemand mehr von der PKK sprechen würde.

Vor diesem Hintergrund begann der türkische Staat einen Krieg an mehreren Fronten gleichzeitig, der auch heute noch andauert: In Nordkurdistan wütet ein regelrechter türkischer Staatsterrorismus gegen die kurdische Gesellschaft und ihre politischen Institutionen, vor allem gegen die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie (DEM). Über zehntausende Aktivist:innen, Politiker:innen, Frauenrechtler:innen und Journalist:innen befinden sich in politischer Haft. Die Kriegspolitik des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Nordkurdistan und die Türkei. Eine zentrale Dimension des „Zerschlagungsplans“ ist die neue außenpolitische Doktrin der Türkei, den Krieg vor allem außerhalb des eigenen Staatsterritoriums zu führen. Zusätzlich zu Nordkurdistan eskaliert die Regierung unter Führung Erdoğans den Krieg in Südkurdistan (Nordirak) und in Rojava. In den letzten neun Jahren sind tausende kurdische Zivilist:innen und Mitglieder der Selbstverteidigungskräfte diesen Angriffen zum Opfer gefallen, die vom türkischen Militär mit dem „Terrorismus“-Diskurs begründet werden. Völkerrechtswidrige Militäroperationen und Kriegsverbrechen sind in Kurdistan das außenpolitische Paradigma der Türkei geworden.

Die Isolation kurdischer Politik

Eine weitere Dimension der seit 2015 andauernden Strategie des türkischen Staates ist die Isolation kurdischer Politik auf allen Ebenen. Sie wurde eingeleitet mit einer Totalisolation gegen den kurdischen Vordenker Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Seit dem 25. März 2021 wird ihm der Zugang zu allen Kommunikationsmitteln und der Kontakt zur Außenwelt, einschließlich zu seinen Anwältinnen und Anwälten und seiner Familie, verwehrt. Seit fast drei Jahren wird diese Form der Haft vom türkischen Staat als illegale Incommunicado-Haft praktiziert und steht politisch unter anderem für die Verweigerung eines Friedensprozesses und das Beharren auf der Vernichtung und Verleugnung kurdischer Existenz. Diese Isolation wird ausgehend von Imrali auf alle Gefängnisse und Bereiche des politischen Lebens in der Türkei angewandt. Und auch die Außenpolitik der Türkei hat zum Ziel Gebiete in Kurdistan, die sich entsprechend dem Paradigma des demokratischen Konföderalismus organisieren, zu isolieren. Sei es das anhaltende Embargo gegen die Revolution in Rojava, die Umzingelung des selbstverwalteten Flüchtlingslagers Mexmûr in Südkurdistan und die anhaltende Bedrohung des ezidischen Hauptsiedlungsgebietes Şengal; in all diesen Gebieten versuchen die Menschen die Prinzipien von radikaler Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie umzusetzen. Die Isolation zielt darauf ab diese Beispiele gesellschaftlicher Basisorganisierung zu ersticken und von der Außenwelt abzuschirmen.

Erfolgreiche Selbstverteidigung gegen die zweitgrößte NATO-Armee

Während die Türkei mit allen Mitteln eines NATO-Staates, mit Kriegsverbrechen und mit Spezialkriegsmethoden ihre Angriffe gegen die kurdische Freiheitsbewegung intensivierte, ist es ihr nicht gelungen, die kurdische Guerilla zu brechen und handlungsunfähig zu machen. Auch das System von kasernierten Spezialeinheiten, Geheimdienstnetzen, paramilitärischen Kräften und einem dichten Netzwerk von Armeestützpunkten war nicht erfolgreich, die Kontrolle über die von der kurdischen Freiheitsbewegung kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan zurückzuerlangen. Sie liegt weiter in den Händen der kurdischen Freiheitsbewegung. Mehrere propagierte Militäroperationen blieben erfolglos und nun ist es die türkische Armee selbst, die eingekreist ist und schwere Verluste erleidet. Durch technische und taktische Neuerungen im Guerillakrieg konnte sich die kurdische Freiheitsbewegung der Hochrüstung der türkischen Armee durch die NATO mit Drohnen und neuen Hubschraubern anpassen. Die hohen Verluste der türkischen Armee durch Guerillaoperationen Ende Dezember 2023 und Anfang 2024 konnten selbst vom türkischen Staat nicht weiter verheimlicht werden und lösten eine Diskussion über Sinn und Zweck der grenzüberschreitenden türkischen Militäroperationen aus.

Auch die politischen Strukturen in den verschiedenen Teilen Kurdistans sind trotz starker Repression weiterhin in der Lage, ihre eigene Agenda zu bestimmen und mithilfe des gesellschaftlichen Zusammenhalts dem regelmäßigen Beschuss durch die türkische Armee, dem Embargo und anderen Formen der Kriegsführung zu widerstehen.

Die Parallelität zwischen der Situation Öcalans und der kurdischen Gesellschaft

Die am 9. Oktober 2023 begonnene Kampagne „Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung für die kurdische Frage“ ist in diesem Kontext eine Fortführung des anhaltenden Widerstands der kurdischen Gesellschaft gegen die Isolations- und Zerstörungspolitik der Türkei. Sie ist ein strategisches Ziel der kurdischen Politik inmitten des Dritten Weltkrieges im Mittleren Osten. Denn die Situation Öcalans ist engstens mit der Lösung der kurdischen Frage und Situation der kurdischen Gesellschaft verbunden. Er ist der Begründer und Vordenker der kurdischen politischen Bewegung und Vertreter von 50 Jahren politischer Geschichte Kurdistans. Daher beinhaltet die Frage seiner Freiheit nicht nur rechtliche und menschenrechtliche Aspekte, sondern vor allem politische. Die Isolation auf Imrali ist der Ausgangspunkt der türkischen Staatspolitik gegenüber der kurdischen Gesellschaft. Dieser Realität ist sich auch der türkische Staat bewusst, der die Situation auf Imrali der politischen Lage und den aktuellen Entwicklungen entsprechend willkürlich anpasst. Diese Parallelität zwischen Öcalans Situation auf Imrali und der Lage der kurdischen Gesellschaft besteht seit Beginn seiner 25-jährigen Gefangenschaft. So war und ist eine Verschärfung der Imrali-Isolation gleichbedeutend mit einer Intensivierung des Krieges in Kurdistan. Phasen des Dialogs und der Verhandlungen mit Öcalan wirken sich wiederum auch positiv auf das Leben der kurdischen Gesellschaft aus. Daher wird der Grad, in dem die Isolation auf Imrali zurückdrängt werden kann, auch den Gesellschaften in Kurdistan mehr Luft zum Atmen verschaffen und eine politische Lösung der kurdischen Frage kann näher rücken.

Darüber hinaus wird die Freiheit des Architekten, der die stärkste radikaldemokratische, multiethnische und politisch offene Basisbewegung für den Mittleren Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete, auch ein bedeutender Schritt in Richtung einer Demokratischen Konföderation des Nahen Ostens.


¹ Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 314

² ebd. S. 311

³ Illegale Entführung Abdullah Öcalans in Kenia am 15. Februar 1999 und seine bis heute andauernde Inhaftierung auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali.

 https://en.majalla.com/node/303536/politics/all-you-need-know-about-india-middle-east-europe-economic-corridor

 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 418

 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 424

 https://nordundostsyrien.de/neuer-gesellschaftsvertrag/

 Abdullah Öcalan, Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band), Die demokratische Zivilisation: Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten, S. 314

Der Text von Ali Çiçek ist der aktuellen Ausgabe des Kurdistan Report entnommen