Was wir von Abdullah Öcalan lernen können

Mit dem Komplott wurde deutlich, welch zentrale Figur Öcalan als Repräsentant eines Volkes hat, das sich mit allen Mitteln gegen die Vernichtung wehrt und damit bis heute erfolgreich ist. Ohne ihn wird es keine Lösung geben, meint die Autorin aus Rojava.

Mein Blick darauf ist begrenzt. Es gibt viele Menschen, die ihn getroffen haben und darüber teilweise Bücher schreiben könnten – und dies bereits getan haben. In jeder Ecke der Welt sitzen in die Jahre gekommene Mütter, die davon berichten können, wie sie Abdullah Öcalan begegneten und wie sie diese Begegnung prägte. Es ist schwer, sich in sie hineinzuversetzen, aber es ist wichtig, es zu probieren. Zu verstehen, wie es sein muss, in den 70ern auf Aktivist:innen zu treffen, die eine kurdische Identität und kurdisches Land als solches benennen, die kurdische Sprache und Kultur wie einen wertvollen Schatz betrachten und Frauen dazu ermutigen, sich in Diskussionen einzubringen.

In Deutschland und auch darüber hinaus sind das gesprochene und geschriebene Wort von Öcalan und solchen, die über ihn schreiben, noch nicht sonderlich verbreitet. Groß sind die Berührungsängste, es gab Razzien beim herausgebenden Verlag und das Verbot der PKK liegt wie ein Schleier über der Person Öcalans. Mittlerweile können sogar seine Bilder von Demonstrationen „legal“ verbannt werden.

Als Repräsentant der Arbeiterpartei Kurdistans PKK wird Öcalan oft lediglich als Anführer einer „terroristischen Vereinigung“ wahrgenommen und benannt. Seine Analyse und Philosophie bleiben oft ungesehen. Dabei geben seine Worte Einblick in die großen Zusammenhänge der Menschheitsgeschichte und vor allem über die Geschichte und den Widerstand der unterdrückten Völker. Er selbst bezeichnet sich angesichts der Kriminalisierung seiner Ideen als „Friedens-Terrorist“.

Abdullah Öcalan und Guerilla, libanesische Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF

Zum Jahrestag seiner Verschleppung machen weltweit und vor allem in Kurdistan Menschen darauf aufmerksam, dass seine physische Freiheit uns alle angeht. Wer Unverständnis für seine Rolle und Situation empfindet und zum Beispiel versucht die Errungenschaften der Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien von seiner Person abzuspalten, sollte sich selbst die Frage stellen: „Was können wir von Abdullah Öcalan lernen?“. In seinen Verteidigungsschriften und weiteren Beiträgen analysiert Öcalan seine eigene Persönlichkeit und seine Rolle in diesem internationalen Komplott sehr genau.

Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen benennt er seine eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler, kritisiert Mitstreiter:innen und schlägt neue Wege vor und ein.

In seiner Person analysiert Öcalan die Gesellschaft, in seinen erlebten Momenten die Geschichte. Diese Methode verhilft ihm dazu die geopolitischen Veränderungen durch kolonialistische Bestrebungen der Großmächte aufzudecken und seine eigene Entführung als Teil eines großen Komplotts zu entlarven. Öcalan hat sich zeitlebens zur Aufgabe gemacht, sozialistische Perspektiven zu erweitern, für das Recht auf Selbstverteidigung gegen Vernichtung einzustehen und Frauen und Jugendliche darin zu bestärken eine führende Rolle einzunehmen.

Dieses Komplott, dass bereits viel früher begann, führte 1999 dazu, dass er an die Türkei ausgeliefert wurde und nun seit 25 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten wird.

Diese Inselhaft wurde bereits im Vorfeld seiner Entführung eigens für ihn erschaffen.

Zunächst war er dort allein untergebracht, umgeben von Soldaten, isoliert in der Isolation.

Dem für ihn erdachten schleichenden Tod setzt er seitdem die Entwicklung einer Befreiungsideologie entgegen. In dieser kargen Umgebung, in der er maximal eine Stunde am Tag seine Zelle verlassen darf, verfasste Öcalan tiefgreifende Analysen. Dadurch verhalf er der Freiheitsbewegung Kurdistans zu neuer Kraft und entwickelte einen konkreten Vorschlag des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der nun vor allem in Nord- und Ostsyrien sichtbar gelebt wird. Dessen sich die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen verbunden fühlen; Araber:innen genauso wie Chaldäer- oder Armenier:innen.

Newroz 1991 in der Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF

Öcalan selbst sagt, dass ihm durch dieses Ereignis Ende des 90er die Notwendigkeit einer Alternative zum Nationalstaat wirklich bewusst wurde. Wenn er an einigen Stellen historisch wichtige Persönlichkeiten wie Ernesto Che Guevara – der am Tag des Beginn des Komplotts (9. Oktober 1998) im Jahr 1969 ermordet wurde – und Jesus als Vergleich heranzieht, dann um deutlich zu machen, was jenen Persönlichkeiten droht, die die Vorreiterschaft unterdrückter Völker annehmen. Solchen, die Millionen Menschen ihre Würde zurückgeben, Identität und Gemeinschaft stiften. An keiner Stelle geht es im darum, seine Person über andere zu erheben, einen Personenkult zu nähren. Er ist ein Vorbild darin, seine eigenen Fähigkeiten zu sehen und daraus eine Verantwortung zu entwickeln. Der Ausruf „Bê Serok jiyan nabe“ („Es gibt kein Leben ohne Serok“; ‚Serok‘ ist der ‚Vorsitzende‘) steht auch hierfür. Mit dem Komplott wurde deutlich, welch zentrale Figur Öcalan als Repräsentant eines Volkes hat, das sich mit allen Mitteln gegen die Vernichtung wehrt und damit bis heute erfolgreich ist. Ohne ihn wird es keine Lösung geben, ohne die Lösung der kurdischen Frage keinen Frieden in der Region. Was fatalistisch klingt, sollte als Chance gesehen werden. Als Einladung für jede:n, darin die eigene Rolle zu finden.

Titelfoto: Demonstration in Qamişlo, 15. Februar 2024, im Vordergrund Kriegsversehrte aus dem Kampf gegen den IS