Das Andenken an Abu Leyla lebendig halten

Abu Leyla gilt den Völkern Syriens vor allem durch seine Rolle beim Widerstand um Kobanê und Minbic als Symbol der Revolution. Şervan Derwêş, Sprecher des Militärrats jener Stadt, in der Abu Leyla aufwuchs, erinnert sich an gemeinsame Zeiten und Kämpfe.

Der Sprecher des Militärrats von Minbic, Şervan Derwêş, hat aus Anlass des Jahrestags der Befreiung von Kobanê mit ANF über seine gemeinsame Zeit mit Abu Leyla gesprochen. Der beliebte Kommandant gehörte zu den Mitbegründern des Kampfverbands für die Stadt Minbic, ein ethnisches und sprachliches Mosaik im nördlichen Syrien. Seit Beginn des Bürgerkriegs kämpfte er an vielen Fronten des Landes und war auch in Kobanê, als der selbsternannte IS die Stadt besetzen wollte. Seine Rolle bei der Befreiung der Region war von großer Bedeutung. Vielen gilt Abu Leyla als „Held von Kobanê“.

Abu Leyla, der bürgerlich Faisal Abdi Bilal Saadoun hieß, wurde 1984 in Qererişk bei Kobanê geboren, wuchs jedoch in Minbic auf. Um seine finanziell schlecht gestellte Familie zu unterstützen, verzichtete er auf ein Studium und arbeite stattdessen als Mechaniker in einer Autowerkstatt. Hier lernte er Şervan Derwêş kennen. „Wie die meisten Kurdinnen und Kurden in Minbic fühlten auch wir uns der kurdischen Befreiungsbewegung tief verbunden. Als Kinder patriotischer Familien waren wir seit den 90er Jahren für das Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes aktiv. Abu Leyla aber stach besonders hervor. Trotz seines jungen Alters hinterließ er aufgrund seines außergewöhnlichen Wirkens und seiner Haltung überall in Minbic einen tiefen Eindruck. Er wurde von den Menschen unserer Stadt sehr geschätzt“, sagt Derwêş.

Auf Şervan Derwêş wurden bereits mehrfach Anschläge durch den IS und andere Milizen verübt

Seit Beginn der Syrien-Krise im Jahr 2011 beteiligte sich Abu Leyla an Protesten gegen das Regime. 2012 schloss er sich der Freien Syrischen Armee (FSA) an, die einst als Zusammenschluss säkularer Assad-Gegner gegründet wurde, heute jedoch unter türkischer Ägide an der Besatzung von Rojava beteiligt ist. Als in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 in Kobanê die Revolution begann und die Bevölkerung unter der Initiative des Volksrats Westkurdistan (MGRK) das Baath-Regime aus der Stadt verdrängte, weitete sich der Volksaufstand davon angespornt auf die gesamte Region aus. Rojava schlug einen dritten Weg jenseits des Baath-Regimes und der vom Westen, der Türkei und den Golfstaaten protegierten Opposition ein, während der Rest von Syrien zunehmend im Bürgerkrieg versank.

Brigade der kurdischen Front zur Unterstützung des syrischen Volkes

Zu dieser Zeit wirkte Abu Leyla daran, die Jabhat al-Akrad zu gründen, die für ein „pluralistisches Syrien“ kämpfte und deren vollständiger Name „Brigade der kurdischen Front zur Unterstützung des syrischen Volkes“ lautete. „Er erkannte die Notwendigkeit von Verteidigungskräften zum Schutz aller Bevölkerungsgruppen“, erklärt Şervan Derwêş. „Im Grunde war die Person Abu Leyla in Minbic der ausschlaggebende Faktor für die Bildung des Verständnisses für Selbstverteidigung. Er war federführend, wenn es darum ging, bewaffnete Einheiten zu bilden und sie zu organisieren, und bekannt für sein praktisches Engagement. Ganz gleich, um welche Aufgabe es auch ging, stets war er als Erster an Ort und Stelle. Er hatte diese Fähigkeit, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen, sie umzusetzen und jederzeit hinter ihnen zu stehen. Dadurch mobilisierte er sein ganzes Umfeld. Er strahlte die Aura eines wahren Pioniers aus, von der sich alle beeindrucken ließen. Sein Mut färbte ab und zog viele Menschen in die Reihen des Kampfes. Abu Leyla selbst war immer an vorderster Front. Jeder Aufgabe, die Mut und Opfer erforderte, ging er voraus. Die Persönlichkeit eines Menschen zeigt sich nicht bei der ersten Begegnung, ebenso bleiben Entscheidungskraft und Mut verborgen. Erst in der Krise beweist sich der wahre Charakter. Abu Leyla war eine Person für schwere Zeiten.“

Das Wort Abu ist ein Bestandteil männlicher arabischer Beinamen mit der Bedeutung „Vater von“. In der Region ist es üblich, dass Beinamen den Namen des ältesten Sohnes beinhalten. Abu Leyla war Vater von vier Töchtern, und benannte sich nach seiner ältesten Tochter Leyla. In einem Interview mit dem Journalisten Ersin Çaksu sagte er, die Namenswahl wäre eine bewusste politische Botschaft, um sein Engagement für die Gleichstellung von Frauen zu unterstreichen. | Foto: Abu Leyla und Adnan Abu Amjad, der 2017 bei der Befreiung von Raqqa starb

 

Der Ende 2012 gegründeten Jabhat al-Akrad gehörten kurdische, arabische und turkmenische Kämpfer an. Die Brigade kämpfte unter anderem in Şêx Meqsûd, Eşrefiye und anderen Orten von Aleppo, in Efrîn, Şehba und Teilen von Raqqa. Doch je weiter der Krieg an Intensität und Ausdehnung zunahm, desto mehr Einfluss gewannen die IS-Dschihadisten bei den „moderaten Kämpfern“ unter dem Dach der FSA. Das Spektrum der „vom Westen unterstützten Rebellen“ näherte sich immer mehr dem Spektrum des IS und anderer radikalislamistischer Milizen an. „Dadurch legte auch die Liwa Ahrar Souriya (Brigade für ein freies Syrien), unter deren Kommando die Jabhat al-Akrad damals operierte, ein intolerantes Verhalten gegenüber dem kurdischen Teil der Gesellschaft an den Tag. Diese Mentalität biss sich mit der Zeit fest wie ein Zeckentier.“

Massaker in Aleppo

Es kam zu Massakern. Allein in den größtenteils von Kurdinnen und Kurden bewohnten Ortschaften Til Eran (Tell Aran) und Til Hasil (Tell Hasil) in Aleppo veranstalteten verschiedene FSA-Milizen und die Al-Nusra-Front im Juli 2013 mehrtägige Blutbäder. In Girê Spî (ar. Tall Abyad) wurde das kurdische Volkshaus über mehrere Tage angegriffen. Diese Anschläge galten als Reaktion auf die Befreiung einer Reihe von Städten und Dörfern entlang der syrisch-türkischen Grenze durch ein Bündnis aus Jabhat al-Akrad und den Volksverteidigungseinheiten YPG. Abu Leyla, Şervan Derwêş, Abu Adel, Adnan Abu Amjad und andere führende Kämpfer lösten sich vollständig von der FSA. Erst waren sie in Cerablus aktiv und konzentrierten sich auf die Verteidigung der Dörfer in den ländlichen Gebieten. Als der IS dann Ende 2013 vor den Toren Minbics aufmarschierte, fackelte Abu Leyla nicht lange. „Es muss etwa 4 Uhr morgens gewesen sein, als er sich über Funk meldete“, erinnert sich Şervan Derwêş. „Es sagte: ‚Ich gehe nach Minbic, um den IS zu bekämpfen. Wer will, der möge mitbekommen‘. Wir waren nur eine kleine Gruppe, die angeführt von Abu Leyla gegen den IS kämpfte. Fast im Alleingang drängte er die Angreifer zurück und nahm am Ende etwa 250 dieser Dschihadisten gefangen. Es ist Abu Leyla zu verdanken, dass der IS bei seinem ersten Großangriff auf Minbic kein Massaker verüben konnte.“

Gründung der Brigade „Shams al-Shamal“

Der zunächst noch misslungenen Erstürmung Minbics folgte schon bald der zweite Großangriff. Laut Derwêş konnte dieser nur deshalb in eine Besatzung münden, weil alle bewaffneten FSA-Gruppen die Stadt fluchtartig Richtung Türkei verlassen hatten oder dem IS beigetreten waren. Kurz nach Newroz 2014 gründete die Gruppe um Abu Leyla die Brigade „Shams al-Shamal“ – auch bekannt als Nordsonne. Der IS hatte bereits weite Teile des Iraks und Syriens überrannt, bis zur Ausrufung seines sogenannten Kalifats in Raqqa sollte es nicht mehr lange dauern. Im September desselben Jahres begann dann die Belagerung von Kobanê. Abu Leyla und seine Freunde zögerten keinen Augenblick und nahmen ihren Platz in den Reihen der Verteidigung der kurdischen Stadt ein. Seine Ansagen über Funk begannen stets mit demselben Satz: „Das ist weder Mosul noch Raqqa. Das ist Kobanê.“

Vierzehn Mal im Kampf verwundet

„Abu Leyla konnte auf eine lange Erfahrung im Kampf gegen die Mörder des IS, al-Nusra und andere Terroristen blicken und daher eine führende Rolle im Widerstand einnehmen. Und auch hier trat wieder sein natürliches Charisma zum Vorschein. Abu Leylas Stärke und Willenskraft waren ansteckend. Seine Energie überflutete die Menschen regelrecht. Der Kampf an seinen Fronten war anders. Er war sehr diszipliniert und hatte die Fähigkeit, sein Umfeld auf eine ganz besondere Weise zu faszinieren und zu aktivieren. Kämpfe, die er anführte, endeten nicht mit einer Niederlage. Das wurde in der Schlacht von Kobanê mehr als einmal deutlich“, würdigt Şervan Derwêş seinen langjährigen Freund. Vierzehn Mal wurde Abu Leyla im Widerstand verwundet, allein sieben dieser Verletzungen erlebte er in Kobanê. Eine der schwersten Verwundungen zog er sich am 29. November 2014 hinzu. An diesem Tag überquerten zwei Selbstmordattentäter des IS von der Türkei kommend den Grenzübergang Mürşitpınar bei Pirsûs (tr. Suruç). Gegen 5 Uhr sprengte sich einer der beiden auf der syrischen Seite der Grenze mit einem Auto in die Luft, danach brachen schwere Kämpfe aus. Abu Leyla rannte als erster von seiner Stellung los zu den Eisenbahnschienen, die Kobanê von Mürşitpınar trennen. An seine Fersen heftete sich Abu Firat. Die beiden waren es, die den zweiten IS-Attentäter ausschalteten und damit verhinderten, dass der Wagen nach Kobanê fuhr.

Abu Leyla (l.) und Abu Firat am Grenzübergang Mürşitpınar

Er kannte keine Hindernisse, wenn es um die Verteidigung ging

Rund fünfzig Dschihadisten waren von der türkischen Seite aus zum geschlossenen Grenzübergang gebracht worden. Abu Firat starb bei den Gefechten, Abu Leyla wurde schwer am Kopf verletzt. Şervan Derwêş erinnert sich: „Kaum war er im Krankenhaus aus der Narkose erwacht, rief er auch schon bei uns an und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Das tat er jeden Tag, bis er wieder zurück an der Front war. Wer jedoch glaubt, Abu Leyla habe genesen die Klinik verlassen, der irrt sich gewaltig. Seine Wunden waren noch nicht verheilt, da saß er schon wieder mit der Waffe in der Hand an der Front und beobachtete die feindlichen Linien. Selbst schwerste Verletzungen interessierten ihn nicht. Er kannte keine Hindernisse, wenn es um die Verteidigung ging.“

Abu Leyla kämpfte nach der Befreiung von Kobanê am 26. Januar 2015 auch in Girê Spî, Hesekê, Ain Issa, Şedadê, Hol, Sirrîn und Tischrin erfolgreich gegen den Terror. Şervan Derwêş beschreibt ihn als eine Person mit einer tiefen und innigen Liebe zu seinem Volk und seiner Heimat. „Er glaubte fest daran, dass wir nach Minbic zurückkehren würden. Diese Hoffnung hat er nie aufgegeben. In Kobanê hallte jeden Tag seine Stimme durch die Straßen. Selbst jene Viertel, die noch unter IS-Besetzung standen, erbebten förmlich, wenn er rief: ‚Wir werden den Sieg in diese Straßen bringen‘.“ Im Frühjahr 2016 begannen die Vorbereitungen für die Befreiungsoffensive auf Minbic, in die sich Abu Leyla auf allen Ebenen einbrachte. Im Zuge dessen wurde der Militärrat von Minbic gegründet, der neben Shams al-Shamal weitere lokale Gruppen unter seinem Dach vereint und ein Mitgliedverband der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ist. Die Offensive startete am 31. Mai und wurde an zwei strategischen Punkten eingeleitet: Am Tischrin-Staudamm und an der Qaraqozak-Brücke in Sirrîn.

Inmitten der Kämpfe zwischen Pirsûs und Kobanê

„Wir hatten Abu Leyla ein Versprechen abgenommen: Er würde in keiner Weise an der Spitze eines der beiden Flügel kämpfen, sondern den Vorstoß lediglich koordinieren. Doch als um eine unserer Gruppen ein feindlicher Belagerungsring gezogen wurde, konnte er sich nicht zurückhalten. Er intervenierte und befreite die Einheit aus dem Kessel. Auf dem Rückweg, es war der 3. Juni, traf ihn nach einem Artillerieangriff im Dorf Abu Qelqel ein Schrapnell am Kopf.“ Von den USA angeführte Koalitionskräfte flogen den schwerverletzten Abu Leyla noch am selben Tag in ein Krankenhaus im südkurdischen Silêmanî (Sulaimaniyya) aus. Dort erlag der zum Zeitpunkt seines Todes 32-Jährige jedoch seiner schweren Kopfverletzung. Er liegt auf dem Şehîd-Dîcle-Friedhof in Kobanê begraben.

Kraft durch Verbundenheit

„Abu Leylas Tod hatte große Bestürzung bei den Kämpferinnen und Kämpfern ausgelöst. Er träumte davon, den IS zu vernichten. Für seine Freundinnen und Freunde bedeutete dieser Verlust, die Offensive auf Minbic noch entschiedener und schneller zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Nach der Befreiung der Stadt wandten sie sich gen in Raqqa, Tabqa und Deir ez-Zor. Sie kämpften unermüdlich und versetzten dem IS in Baghouz den alles entscheidenden letzten Schlag“, sagt Şervan Derwêş. Die Quelle ihrer Kraft sei vor allem die Verbundenheit dem Andenken an Abu Leyla gegenüber gewesen. Diese spende noch heute seinen Kämpfern der Shams al-Shamal die Moral und Stärke, den Widerstand für ein freies Syrien fortzusetzen.