Am 15. August jährte sich die Befreiung der nordsyrischen Metropole Minbic zum fünften Mal. Minbic stellte eine der wichtigsten Grenzstädte der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) dar, da über die türkische Grenze ein Großteil der Versorgung und Außenhandelsbeziehungen stattfand. Die Befreiung von Minbic bedeutete die Unterbrechung der Versorgung des IS durch das Regime in Ankara und läutete das Ende der Territorialherrschaft des selbsternannten Kalifats ein. Shervan Derwish, Sprecher des Militärrats von Minbic, beantwortet im ANF-Interview Fragen anlässlich des fünften Jahrestags der Befreiung der Stadt.
Unter welchen Bedingungen fand die Befreiung von Minbic statt?
Mit dem Beginn der Syrienkrise beteiligten sich viele externe Kräfte an den Auseinandersetzungen. Der IS hatte aufgrund der damaligen Politik halb Syrien erobert. Vor der Offensive auf Minbic befand sich Syrien im Chaos. Nach der Schlacht von Kobanê hatten wir mit den Vorbereitungen für die Minbic-Offensive begonnen. Es sollte jedoch beachtet werden, dass es damals bei der Schlacht von Kobanê nur noch ein paar Straßenzüge gegeben hatte, die nicht vom IS kontrolliert wurden. Wir wussten aber, dass der Sieg in diesen wenigen Straßen die Befreiung jedes Ortes bedeuten würde. Nach der Schlacht von Kobanê fand die Befreiungsoffensive von Girê Sipî statt und im Dezember 2015 befreiten wir den Tischrin-Staudamm. Im Oktober 2015 wurden die Demokratischen Syrischen Kräfte (QSD) gegründet. Unmittelbar nach der Offensive auf den Tischrin-Damms begannen wir, die Vorbereitungen für die Minbic-Offensive zu beschleunigen. Wir kamen aus Minbic und waren wegen dem IS nach Kobanê gegangen. Nach der Befreiung von Kobanê kamen wir den ganzen Weg zum Tischrin-Staudamm, und jetzt war es an der Zeit, unsere eigene Stadt zu befreien. Suwar Minbic und Shams al-Shamal, Gruppen aus Minbic, warteten voller Begeisterung auf diese Offensive. Die Offensiven Şehîd Abu Leyla und Şehîd Abu Amjad spielten eine wichtige Rolle zur Vorbereitung der Infrastruktur der Offensive und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Über die QSD wurden Gespräche mit der internationalen Koalition geführt. Damals war der türkische Staat das größte Hindernis für die Offensive. Der türkische Staat hatte entsprechende Propaganda verbreitet und es wurden Anstrengungen unternommen, diese auszuhebeln. Es sollte gezeigt werden, dass Minbic von den Menschen von Minbic befreit werden würde. Nach all diesen Bemühungen war der türkische Staat gezwungen, diesen Schritt zu akzeptieren. Denn die Antipropaganda des türkischen Staates beinhaltete nicht ein Körnchen Wahrheit.
Im April 2016 wurde der Militärrat von Minbic gegründet, später auch der Zivilrat von Minbic. Die Gründung dieser Institutionen war Teil der Vorbereitung der Offensive. Am 1. Juni 2016 begann die Befreiungsoperation von Minbic. Es gab eine hohe Moral und großen Enthusiasmus unter den Kämpferinnen und Kämpfern. Die Menschen von Minbic riefen zur Befreiung auf. Sie hatten vor Augen, was der IS Tag für Tag der Bevölkerung antat. Wir bekamen täglich etliche Nachrichten aus Minbic. Als wir den Tischrin-Damm erreichten, flohen Dutzende von Jugendlichen aus den Händen des IS und schlossen sich unseren Kräften an. Die Menschen sehnten sich nach dem Beginn der Befreiungsoffensive. In diesem Sinne war es eine große Entscheidung.
Welche Bedeutung hatte die Minbic-Offensive für die Region? Wie wurde die Offensive von der Bevölkerung aufgenommen?
Eine Großstadt wie Minbic war ein wichtiges Gebiet für den IS. Minbic war auch das Tor des IS zur Außenwelt. IS-Dschihadisten verließen die Region über Minbic und neue Rekruten kamen aus der ganzen Welt über die Türkei nach Minbic. Zu dieser Zeit war Minbic der Sammelpunkt für fast alle IS-Dschihadisten aus Europa und anderen Ländern. Bis zur Befreiung von Minbic war der IS noch nie aus einer so großen Stadt vertrieben worden. Alle Augen waren auf Minbic gerichtet. Alle fragten sich, ob der IS aus Minbic vertrieben werden könnte. Auch der IS legte großen Wert auf Minbic. Die Stadt war in diesem Sinne ein Beispiel. Die Offensive begann an zwei Fronten. Eine Front bewegte sich am Tischrin-Damm nach Süden und eine weitere Front rückte von Karakozan vor. Nach 20 Tagen war Minbic eingekreist und die Stadt wurde befreit. Die Menschen in Minbic begrüßten die Offensive mit großer Begeisterung. Denn dieser Schritt war auf den Ruf der Bevölkerung der Stadt erfolgt. Als wir Minbic vom Tischrin-Staudamm aus erreichten, hatten bereits Hunderte von Jugendlichen in Minbic die Waffen aufgenommen und sich unserem Kampf angeschlossen.
Hunderte dieser jungen Menschen sind gefallen. Die Bevölkerung strömte zur Offensive und die Menschen halfen uns sehr dabei. Sie informierten uns minutiös darüber, wo der IS sich befand und wie er sich bewegte. Nach der Offensive hörte die Teilnahme der Jugend von Minbic nicht auf, im Gegenteil, sie nahm noch mehr zu. Deshalb organisierte sich der Militärrat von Minbic und wurde zu einer eigenen Kraft. YPG und YPJ konnten folglich ihre Mission vorzeitig beenden und Minbic verlassen.
Es gab eine unglaubliche Begeisterung der Bevölkerung. Die Menschen strömten in Scharen zu uns. Sie achteten nicht auf die IS-Minen und die Attentate und versuchten, uns zu erreichen. Wenn es irgendwo Krieg gibt, fliehen die Menschen normalerweise und versuchen, einen sicheren Ort zu erreichen. Aber in Minbic war es umgekehrt. Das Volk strömte in die Kampfgebiete. Frauen, Kinder, Alt und Jung waren dabei. Die Offensive dauerte 75 Tage und wir haben diese Prüfung erfolgreich bestanden. Ich werde nie vergessen, wie Abu Leyla während der Schlacht von Kobanê dem IS entgegen schrie: „Ich werde euch alle verbrennen.“ Wir haben das mit Begeisterung, Moral und Leidenschaft erreicht. Nach der Befreiung von Minbic hat es die internationale Koalition auch gewagt, in Mosul im Irak zu operieren. Denn zum ersten Mal wurde eine vom IS gehaltene Großstadt eingenommen. Nach der Minbic-Offensive glaubten nun alle, dass auch andere Orte vom IS befreit werden könnten. Minbic hat in diesem Sinne ein Beispiel gesetzt. Der IS wurde erstmalig in Kobanê besiegt, aber sein Ende begann auch in Minbic.
Die Offensive hatte ja als Offensive zur Befreiung von Minbic begonnen, wurde aber unter dem Namen Abu-Leyla-Offensive fortgesetzt. Welche Bedeutung hatte Abu Leyla für Minbic?
Şehîd Abu Leyla spielte bei der Entscheidung zur Befreiung von Minbic eine wichtige Rolle und schuf die Grundlagen für diese Offensive. Er nahm eine zentrale Rolle bei der Sammlung der Kräfte, der Gründung des Militärrats und bei der Schaffung eines Zusammenhalts ein. Als wir Minbic verließen, war Abu Leyla essentiell, die Menschen von Minbic zusammenzubringen, aus ihnen eine Kraft zu formen und ihre Auflösung zu verhindern. Aufgrund seiner Arbeit konnte die Offensive stattfinden. Es war unser Traum, Minbic zu befreien. Dass Abu Leyla vor den Toren der Stadt fiel, war für uns sehr schwer. Daher wurde nach seinem Tod beschlossen, die Offensive in seinem Namen fortzusetzen. Das gab den Kämpferinnen und Kämpfern noch mehr Ehrgeiz und Kraft. Der Krieg um Minbic war kein einfacher Krieg. Daher bedeutete es uns sehr viel, unter dem Namen Abu Leyla in diesen schwierigen Kampf zu ziehen.
Die Kräfte der YPG/YPJ und QSD beteiligten sich aktiv an der Offensive. Wie bewerten Sie ihre Teilnahme an Ihrer Seite?
Die Militärrat von Minbic wurde mithilfe der QSD gegründet. Zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Minbic-Offensive glaubte niemand, dass der Militärrat von Minbic die Offensive allein durchführen könnte. Aber wir hatten unsere Erfahrung. Vor der Minbic-Offensive hatten wir Erfahrung im Kampf gegen den IS an der Seite der YPG und YPJ gesammelt. Wir haben zusammen auf den Straßen von Kobanê gekämpft. Die YPJ hatten uns bei der Vorbereitung der Offensive ohnehin gesagt: „Wir werden euch helfen, denn eines Tages soll die Geschichte nicht schreiben, dass die YPG und die YPJ nicht geholfen haben, eine vom IS besetzte Stadt zu befreien, obwohl sie die Mittel dazu hatten. Es ist unsere Pflicht, euch zu helfen und Minbic zu befreien.“ Mit Hilfe der QSD wurde auch die Unterstützung der internationalen Koalition garantiert.
Die YPG, YPJ und QSD spielten eine wichtige Rolle bei der Befreiung von Minbic. Ihre Bemühungen werden nie vergessen werden. Sie haben viel Mühe sowohl in den Vorbereitungsprozess als auch in die Offensive gesteckt und hatten Hunderte von Gefallenen. Nach der Befreiung zogen die YPG und die YPJ aus Minbic ab. Es gab nur noch einige Trainingsgruppen, um unsere Streitkräfte auszubilden. Sie gingen später. Wir sind es diesen drei Kräften schuldig, den Militärrat von Minbic aufzubauen und Verteidigungskräfte für Minbic zu schaffen. Als die Verteidigungskräfte von Minbic soweit waren, die Stadt selbst zu verteidigen, sind YPG, YPJ und QSD abgezogen. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass ohne ihre Unterstützung die Befreiung von Minbic nicht stattgefunden hätte. Tausende von ihnen kämpften hier und Hunderte sind gefallen.
Vor der Offensive war die Situation in Syrien klar. Der IS befand sich überall in der Offensive. Es gab schlimmste Grausamkeiten an den Völkern der Region. Es wurde versucht, die Völker zu spalten und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Aber mit der Befreiung von Minbic haben wir diesen Zerfallsprozess beendet. Das kurdische, arabische, assyrische, turkmenische, tscherkessische und armenische Volk vereinten sich, um gegen den IS zu kämpfen. Die Völker haben sich zusammengeschlossen, um gegen die Feinde der Menschheit zu kämpfen und sie zu besiegen. Mit diesem Krieg wurde Einheit geschaffen und in dieser Einheit wurde Minbic befreit. Im gleichen Geiste wurde der IS in Tabqa, Raqqa und al-Bagouz geschlagen.
Der Krieg in den anderen Gebieten Syriens ist weit entfernt von jeglichem Maß menschlicher Moral. Alles ist zum Kriegsschauplatz geworden. Es gibt einen Wasserkrieg, einen Brotkrieg, einen Krieg der Maßstäbe und einen Krieg um die Moral der Gesellschaft. Alle bauen darauf ihre Strategien auf. Mit der Befreiung von Minbic wurde das System, das wir nach dem Modell der Einheit und der demokratischen Nation entwickelten, zu einem Maßstab, an dem wir uns orientierten. Unser Kampf findet bis heute entlang dieses Maßstabs statt.
Die Angriffe auf Minbic gehen immer weiter. Worauf zielen diese ab?
Nach der Befreiung von Minbic überließen wir als Militärrat die Stadtverwaltung dem Zivilrat. Unsere Mission war nur die Verteidigung. Der türkische Staat ist nach der Befreiung von Minbic offiziell in Syrien einmarschiert. Der türkische Staat bekämpfte den Militärrat von Minbic, nicht den IS. Er griff Erida an. In den vergangenen fünf Jahren haben die Angriffe auf Minbic nicht aufgehört. Der türkische Staat hat alle möglichen Angriffsmethoden angewendet. Auf der Sajur-Seite gibt es jeden Tag Angriffe und Zusammenstöße. Auch gab es Bemühungen der syrischen Regierung, Verwirrung zu stiften und eine Krise in der Bevölkerung zu schaffen. Natürlich sind diese Angriffe nicht vorbei. Aber uns war klar, dass die Angriffe nicht aufhören würden, wenn Minbic befreit wäre. Wir wussten, dass es von nun an mehr Angriffe geben würde, und es war unsere Pflicht, diesen Sieg zu schützen. Das haben wir bisher geschafft.
Natürlich geht es nicht nur um die Verteidigung von Minbic sondern um unser Schicksal in Nord- und Ostsyrien. So wie andere Städte uns geholfen haben, Minbic zu befreien, haben wir ihnen gegenüber eine Verpflichtung. Aber einer der Orte, der am meisten angegriffen wird, ist Minbic. Es gibt türkische Truppen und Söldner etwa 20 Kilometer nördlich von Minbic und 20 Kilometer südlich steht das Regime.
In den vergangenen fünf Jahren haben wir ein gewisses Niveau erreicht. Es hat sich ein System gebildet. Unsere Kräfte wurden organisiert und trainiert. Innerhalb des geschaffenen Systems sind unsere Kräfte stark geworden. Der Militärrat von Minbic war sowohl bei der Vorbereitung und Ausbildung seiner Kräfte als auch bei der Bildung einer Struktur zum Schutz des Systems gut aufgestellt. Dieses System wurde gemeinsam mit dem Volk geschaffen. Natürlich haben wir immer noch Feinde, es gibt Angriffe und wir müssen noch hart arbeiten. In diesem Sinne werden wir mit der Unterstützung unseres Volkes noch größere Erfolge bei dieser Aufgabe erzielen.