„Wir haben sehr großes Glück, Zeuginnen dieses Widerstands zu sein“

Die ANHA-Korrespondentin Dicle Ehmed hat die Befreiung der nordsyrischen Stadt Minbic vom IS miterlebt. Sie berichtet zum Jahrestag über die Befreiung der Stadt.

Am 15. August 2016 wurde die Herrschaft der Terrormiliz „Islamischer Staat" (IS) über Minbic vollständig von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) beendet. Für den IS bedeutete der Verlust eine schwere Niederlage, galt Minbic doch als wichtiger Knotenpunkt auf der strategisch wichtigen Versorgungsroute von der türkischen Grenze nach Raqqa. Dort wurden Selbstmordattentäter ausgebildet und unter anderem nach Europa geschickt. Die Journalistin Dicle Ehmed war Zeugin der Befreiung der Region. Sie berichtet im ANF-Interview über ihre Eindrücke.

Können Sie als Journalistin ein wenig über die Atmosphäre dieser Zeit sprechen?

Die Offensive für die Befreiung von Minbic wurde auf einen Appell der Bevölkerung hin begonnen. Drei Jahre lang erlitten die Menschen in Minbic jede erdenkliche Gräueltat durch den IS. Minbic wurde jedoch zu einer Stadt, die Widerstand leistete, sich erhob und sich nicht der Unterdrückung durch den IS unterwarf. Jeden Tag wurden Menschen gefoltert und ermordet, aber sie beugten sich nicht dem IS. Die Vorbereitungen für die Befreiung von Minbic dauerten einen Monat und die Offensive begann am 1. Juni 2016. Während der Offensive erlebten wir einen legendären Widerstand und große Tragödien. Wir erlebten, wie die Kämpferinnen und Kämpfer vom Militärrat von Minbic, der YPG, YPJ und QSD Geschichte schrieben. Wir haben auch die Grausamkeit des IS, die gegen das Volk eingesetzten Waffen, die Verfolgung und die psychologische Kriegsführung erlebt.

Die Menschen in Minbic standen vor der Invasion durch den IS unter dem Einfluss des Regimes. Die Gesellschaft war tief religiös geprägt und Frauen wurden unterdrückt. Selbst zehnjährige Mädchen konnten nicht mit unbedeckten Haaren auf die Straße gehen. Frauen konnten gar nicht allein auf die Straße. Mit der Ankunft des IS wurde dieser Druck noch viel massiver und brutaler. Frauen mussten sich zum Beispiel in schwarze Tücher hüllen. Wenn die Hand oder die Haare einer Frau sichtbar waren, wurde sie tagelang allein in einem Käfig auf einem Friedhof zurückgelassen.

Viele junge Frauen wurden verrückt, viele wurden vergewaltigt. Je mehr ich die Geschichten der Menschen hörte, desto besser verstand ich die Realität der Unterdrückung durch den IS. Die Frauen hörten jede Nacht die Schreie von anderen Frauen aus den Kerkern. Mütter wurden vor den Augen der Kinder enthauptet und ihre Körper tagelang auf den Straßen aufgehängt. Wir haben viele andere tragische Geschichten wie diese von den Menschen gehört.

Als wir Minbic betraten, war der Stein an dem Ort, an dem den Menschen der Kopf abgeschlagen wurde, noch blutig. Trotz alledem haben sich die Menschen in Minbic nicht gebeugt. Minbic war auch einer der Orte gewesen, die sich nach dem Beginn der Revolution in Kobanê gegen das Regime gestellt hatten. Die Menschen in Minbic akzeptierten diese schmutzige Politik nicht mehr. Die jungen Menschen gründeten die Kräfte Shams al-Shamal Suwar Minbic. Diese Kräfte kämpften nicht nur in ihren eigenen Städten, sondern auch in Kobanê, nahmen an der Befreiung von Sirin teil und kämpften an vielen anderen Orten gegen den IS. Sie ließen ihr eigenes Volk nicht leiden, sie leisteten Widerstand und hatten Erfolg.

Während der Offensive haben Sie viele historische Momente erlebt, was hat Sie am meisten bewegt?

Am 1. Juni begann die Offensive an zwei Fronten. Also folgten wir einer Front. Unsere Freund:innen rückten an der anderen Front vor. Die Offensive dauerte 75 Tage. Fast 200 Dörfer wurden befreit, bevor die Stadt erreicht wurde. Die Entfernung war kurz, aber es ging nur langsam vorwärts, da der IS überall Minen verlegt hatte. Viele Kämpfer:innen und Zivilist:innen wurden durch die Minen getötet. Auch unser Kollege Şehîd Mustafa wurde von einer Mine getötet und Kendal Cûdî verwundet.

Als Journalist:innen, die über die Offensive Bericht erstatteten, hatten wir auch Schwierigkeiten, weil wir mit den Kämpfer:innen Dorf um Dorf vorrückten. Der IS hatte jedes Haus bis in den letzten Winkel vermint. Der IS benutzte Menschen als lebendige Schutzschilde, insbesondere dort, wo sie schwere Waffen stationiert hatten. Auch dort wo es Verletzte gab, benutzten sie Zivilist:innen, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, als Schutzschilde. Die jungen Menschen waren bereits in die Kampfgebiete geflohen, hatten dort die Waffen ergriffen und kämpften um die Befreiung der Region.

Mit Beginn der Offensive hatte auch die Verfolgung durch den IS zugenommen. Wenn die Menschen auf die Straße gingen, um sich zu versorgen, wurden sie vom IS getötet. Überall waren Attentäter. Sobald Menschen rausgingen wurden sie zur Zielscheibe. Manche Zivilist:innen, die versuchten die Kämpfer:innen zu erreichen, traten auch auf Minen. Da war diese Frau, die gerade 40 Tage zuvor ihr Kind geboren hatte. Als sie floh, trat sie auf eine Mine.

Der wirklich historische Widerstand ereignete sich, als wir die Stadt Minbic erreichten, viele Kämpfer:innen opferten gezielt ihr Leben bei Aktionen. Es gab eine Kämpferin namens Koçerin. Sie opferte sich selbst. Wir haben Dutzende von Kämpfer:innen gesehen, die solche Aktionen unternommen haben. Die IS-Verbrecher befürchteten, dass sie nicht in den Himmel kommen könnten, wenn sie von Frauen getötet würden. Deshalb beteten sie, wenn sie die Stimmen der YPJ-Kämpferinnen hörten.

Was mich an der Offensive am meisten beeindruckte, war, dass die Menschen von dem Moment an, als sie die Kämpfer:innen sahen, diese in ihre Arme schlossen. Frauen und Kinder schlossen die Kämpfer:innen voller Freude in ihre Arme und weinten. Wir haben diese Momente miterlebt, und sie auf Bildern festgehalten. Aber das ist nicht genug, um dieses Gefühl zu vermitteln. Auch meine Worte reichten dafür nicht aus.

Die Menschen schauten bei sich zu Hause heimlich Ronahî TV. Sie waren sehr betroffen, als Mustafa fiel. Er hatte die Nachrichten auf Arabisch vorgetragen. „Jedes Mal, wenn Mustafa auftrat und sagte, die Kämpfer:innen seien so und so nah, seien ihre Hoffnungen gewachsen“, erklärten sie.

Der Zivilrat von Minbic leistete wichtige Unterstützung für die Bevölkerung. Es gab nämlich keine Hilfsorganisationen dort. Der Zivilrat brachte die Menschen in leeren Häusern oder Zelten unter und versuchte, ihre Bedürfnisse zu decken. Aber überall lagen Minen. Deshalb war alles sehr schwer. Selbst drei Monate nach der Befreiung von Minbic explodierten immer noch Minen, als die Bewohner nach Hause zurückkehrten und ihre Häuser säuberten.

Sie haben alle Phasen der Rojava-Revolution miterlebt, was ist das für ein Gefühl?

Als Journalist:innen haben wir das große Glück, diesen historischen Widerstand miterlebt zu haben. Wir begannen nicht nur in Minbic, sondern in Kobanê und erlebten den letzten Atemzug des IS in al-Bagouz. Von dem Tag an, an dem dieser Kampf begann, stand keiner unserer Pressekolleg:innen still.

Was die Kämpfer:innen auch ins Visier nahmen, die Presse war dabei. Viele unserer Freund:innen sind in Erfüllung ihrer Pflichten gefallen. Viele unserer Freunde haben ihr Leben verloren, um die Wahrheit über die IS-Unterstützer aufzudecken. So wie unsere Freund:innen Şehîd Rizgar und Şehîd Dillişan ihr Leben gegen die Unterdrückung durch den IS und seine Unterstützer in Deir ez-Zor geopfert haben. Wir haben den Invasoren wie Kämpfer:innen widerstanden. Heute setzen die Pressearbeiter:innen diesen Widerstand fort, um den Widerstands des Volkes und der Kämpfer:innen gegen die Invasion des türkischen Staates zu dokumentieren und die schmutzigen Machenschaften der Invasoren ans Licht zu bringen.

So wie der IS den Menschen in diesem Land die größte Barbarei der Menschheitsgeschichte zugefügt hat, setzt der türkische Staat heute diese Schrecken fort. So wie wir während der IS-Zeit jederzeit zum Volk und den Kämpfer:innen standen, werden wir weiterhin an ihres Seite derjenigen stehen, die im Kampf gegen die Besatzung und die Angriffe des türkischen Staates Widerstand leisten. Das ist unser Wort. Es ist unser Versprechen an alle unsere Genoss:innen und Journalistenkolleg:innen, die auf der Suche nach der Wahrheit gefallen sind.