Dicle Şêxo: Kriegsreporterin in Kobanê – 1
Dicle Şêxo, eine junge Journalistin aus Kobanê, hatte sich vor dem Krieg auf Drängen ihrer Familie verlobt. An den Feiertagen sollte sie heiraten. Und dann hat der IS angegriffen.
Dicle Şêxo, eine junge Journalistin aus Kobanê, hatte sich vor dem Krieg auf Drängen ihrer Familie verlobt. An den Feiertagen sollte sie heiraten. Und dann hat der IS angegriffen.
Dicle Şêxo ist eine der Kriegsreporterinnen in Rojava. Ich nenne sie Kriegsreporterin, weil sie ihre erste Prüfung in der Schlacht um Kobanê abgelegt und an fünf Befreiungsoffensiven in Rojava teilgenommen hat. An der einen Schulter hing ihre Kamera, an der anderen die Kalaschnikow. Auf dem Rücken trug sie ihr Laptop. Sie lacht und sagt: „Am Tag der Befreiung von Kobanê habe ich vor Freude ein ganzes Magazin leergeschossen. Vorher hatte ich die Waffe noch nie benutzt.“ Bei ihrer Arbeit als Journalistin an der Front haben die Kämpferinnen und Kämpfer sie geschützt. Es war nicht notwendig, das Gewehr zu benutzen.
Dicles Geschichte ist besonders für junge Frauen interessant. Vor dem Krieg hat sie sich auf Drängen ihrer Familie verlobt. Am Feiertag sollte sie heiraten. Und dann hat der IS angegriffen. Statt dem Hochzeitskleid zog sie Tarnkleidung an. Damit begann die Reise in ein neues Leben.
Dicle erzählt
Mein Name ist Dicle Şêxo. Ich komme aus dem Dorf Kor Ali. Als ich sechs Jahre alt war, sind wir nach Raqqa gezogen. Dort bin ich zur Schule gegangen. 2010 kam es an Newroz zu Auseinandersetzungen zwischen den Regimekräften und den Kurden, auch wir mussten Raqqa deswegen verlassen. Mein Vater stand ohnehin sehr unter Druck, weil er für die Bewegung gearbeitet hat. Wir gingen nach Minbic. Dort blieben wir zwei Jahre. Ich ging weiter zur Schule. In jener Zeit entstand eine gesellschaftliche Organisierung, Räte wurden aufgebaut. Es gab wenige Kurdinnen, vor allem gab es wenige junge kurdische Frauen. Mein Vater und ich nahmen an der Arbeit des Volksrates teil. Als die Ko-Vorsitzenden des Rates gewählt wurden, bekam ich am meisten Stimmen. Wir eröffneten zunächst ein Volkshaus. Das Regime war immer noch da und wir mussten heimlich arbeiten. Wir hatten einen eigenen Frauenraum. Ich kümmerte mich um die Probleme von Frauen und Jugendlichen und nahm außerdem an der Medienarbeit teil. So arbeiteten wir bis 2012. Die Rojava-Revolution vom 19. Juli hatte eine große Wirkung in Minbic. Das Regime ging weg, aber es kamen verschiedene islamische Gruppen. In den kurdischen Vierteln organisierten sich die YPG.
Von dort aus gingen wir nach Kobanê. In den ersten drei Monaten wollte mein Vater nicht, dass ich mich an der Arbeit beteilige. Ich ging heimlich zur Medienarbeit. Wochenlang habe ich nicht mit meinem Vater gesprochen. Ich stand unter Druck, aber ich hörte nicht auf meine Familie. Als dann ab und zu Nachrichten von mir in der Zeitung und im Fernsehen erschienen, wurden meine Eltern nachgiebiger. Sie zeigten es zwar kaum, aber sie waren glücklich über meine Entwicklung. Ende 2012 nahm ich an einer zweiwöchigen Journalismusfortbildung in der Nähe von Qamişlo teil. Danach widmete ich vollständig dieser Arbeit.
Als ich aus Qamişlo zurückkam, hatte die Frauenorganisierung begonnen, die YPJ waren gegründet worden. Es war eine Zeit der Neustrukturierung. Meine Familie befürchtete, dass ich mich als Kämpferin anschließe. Eines Tages kamen meine Tanten und wollten mich verheiraten. Ich konnte nicht viel anderes tun als Ja zu sagen. Ich wurde verlobt. Der Sohn meiner Tante war im Süden und unsere Familien verlobten uns. Direkt danach begann der Krieg in Girê Spî. Jeden Tag kamen Gefallene an. Ich berichtete über sie. Gleichzeitig wurde ich ständig unter Druck gesetzt, damit ich endlich heirate. Normalerweise hätte die Verlobungszeit nur einen Monat gedauert, aber ich schob die Hochzeit immer weiter hinaus. Es waren inzwischen fast anderthalb Jahre. Der Druck wurde so groß, dass ich schließlich gezwungenermaßen einwilligte. Am Feiertag sollte unsere Hochzeit stattfinden. Alles war vorbereitet. Meine Freundinnen hatten sich um das Hochzeitskleid, den Friseur und alles gekümmert.
Am Feiertag begann der Krieg in Kobanê. Er fing in den Dörfern an und erreichte nach 22 Tagen das Stadtzentrum. Wir berichteten über den Widerstand in den Dörfern. Meine Familie versuchte mich zu überreden, Kobanê zu verlassen. Ich machte diese Arbeit seit ungefähr drei Jahren und in mich war viel investiert worden. Wenn ich nicht in Kriegszeiten arbeiten sollte, wann sollte ich es sonst tun? Ich sagte meiner Familie, dass ich Kobanê nicht verlasse. Mein Verlobter drängte mich, zu ihm zu kommen. Ich sagte ihm: Wenn du mich liebst, komm du. Ob wir dann bleiben oder gehen, lass es uns gemeinsam tun. Er lehnte ab.
An der Front lernte ich viele Kämpferinnen und Kämpfer kennen. Sie waren aus Efrîn, aus dem Norden und aus vielen weiteren Orten gekommen. Sie haben etwas für uns getan. Wie hätte ich als eine Frau aus Kobanê sie verlassen können? Wie hätte ich heiraten können? Inzwischen war eigentlich auch meine Familie dagegen, dass ich mitten im Krieg heirate. Für den Moment hatte ich sie überzeugt.
Wir gingen auch an gefährliche Orte und erlebten mit, wie andere gefallen sind. Es war schwer. Aber die Kämpferinnen und Kämpfer gaben uns große Kraft. Manchmal konnten auch wir ihre Moral stärken. Sie schliefen oft tagelang nicht. Wir sammelten Geschichten aus dem Krieg. Ein Kämpfer erzählte uns folgende Geschichte, bevor er gefallen ist: „Eines Tages war ich so müde, dass ich auf der Flak eingeschlafen bin. Die Flak war ungesichert und auf Dauerfeuer eingestellt. Ich nickte für einen Moment weg, meine Hand war am Abzug. Als das Dauerfeuer losging, schreckte ich hoch. Immerhin ist niemandem etwas passiert.“
Der Städtekrieg in Kobanê
Als Journalisten waren sie zu wenige und zu schlecht ausgerüstet, erzählt Dicle. Ihnen fehlte auch Lebenserfahrung und ein entsprechendes Bewusstsein. Trotzdem haben sie alles versucht, was ihnen möglich war, betont sie. Weil sie als junge Frau und Journalistin im Krieg war, ist ihr bewusst, dass man sehr vielseitig sein muss. Als sie vom Städtekrieg ab dem 15. September erzählt, berichtet sie zuerst von den Gefallenen:
Der Städtekrieg ging los und es waren nur sehr wenige Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG da. Ein Teil von ihnen machte Fedai-Aktionen. Kämpferinnen wie Arîn Mîrkan und Destîna. Die Fedai-Aktion von Destîna Qendîl und elf weiteren in Kaniya Kurda war zum Beispiel sehr wichtig. Mit der Aktion ist das Vorrücken des IS verhindert worden. Auf dem Tepê Dolê, dem höchsten Hügel im Westen von Kobanê, gab es die Fedai-Aktion von Eriş, Zozan und neun anderen. Hinterher wurde erzählt, wie sie in den Tod gegangen sind. Sie haben gesagt: „Wir werden zu Bomben, die wir an ihren Panzern explodieren lassen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Islamisten von diesem Hügel auf Kobanê blicken.“
Es gab zum Beispiel Şehîd Revan. Viele haben Fedai-Aktionen gemacht. Der Widerstand in Serzorî war von historischer Bedeutung. Dort hat die erste Niederlage des IS stattgefunden. Als Journalisten haben wir diese Fedai-Aktionen nicht ausreichend dargestellt. Es ist auch so, dass man einige Erlebnisse weder mit einem Foto noch mit einem Text schildern kann.
Als der IS in die Stadt eingedrungen ist, wurde gesagt, dass auch wir mit allen anderen weg müssen. „Ihr geht in den Norden und macht eure Arbeit dort weiter“, hieß es. Wir lehnten das ab, aber wir wurden trotzdem weggeschickt. In Pirsûs waren wir zwei Wochen in Gewahrsam. Psychisch war es eine Folter. Ständig wurden wir bedroht: „Wir übergeben euch dem IS, vor allem die Frauen.“ Wir traten in einen Hungerstreik. Am schlimmsten war, dass wir die Heftigkeit des Krieges spüren konnten. Wir hörten die Detonationen. Als ich rauskam, bemühten sich sowohl meine Familie als auch mein Verlobter sehr, damit ich nicht wieder zurückgehe. Ich sagte jedoch, dass ich die Kämpferinnen und Kämpfer nicht nochmal allein lassen werde. Und so kehrte ich zurück nach Kobanê.
Teil 2 folgt