Adle Bekir: Eine Heldin hinter der Front von Kobanê

Während der Verteidigung Kobanês versorgte Adle Bekir Verletzte, brachte frische Wäsche an die Front und hielt mit Liedern den Kampfgeist aufrecht. ANF erzählte sie, wie Menschen aus allen Teilen Kurdistans Seite an Seite gegen den IS standen.

Adle Bekir wuchs im Dorf Kaniya Kurdan bei Kobanê mit zwei Schwestern und sieben Brüdern auf. Wie sie erzählt, habe ihre Mutter vor ihrem Tod gesagt: „Wenn ich sterbe, geh zu den Revolutionären Kurdistans und arbeite an der Revolution“. Als ihre Mutter verstarb, folgte Adle ihrem Wunsch: „Schon kurz nachdem wir das Trauerzelt abgebaut hatten, ging ich zu den Revolutionären und sagte ihnen: ‚Ich möchte mich an den Arbeiten der Bewegung beteiligen. Ich will nicht heiraten und mich in eine Ehe sperren.‘“

Zweifel an dieser Entscheidung habe sie nicht, ganz im Gegenteil, sagt Adle: „Gott hat mir in diesem Leben zwei Gefallen getan: Dass ich seit neun Jahren bei den Revolutionären bin und nicht geheiratet habe.“

 

Beim Angriff des IS auf Kobanê im Herbst 2014 war Adle eine der Heldinnen, die hinter der Front an der Verteidigung mitwirkten. Wir möchten jede ihrer Geschichten im Detail hören. So schwer es für Adle ist, die Erinnerungen an diese Tage wieder und wieder zu durchleben, so sehr ist ihr auch bewusst, wie wichtig das Erinnern an den Widerstand von Kobanê ist, sagt sie.

Die Söldner des IS brachten in Kobanê zuallererst für die Grundversorgung unerlässliche Einrichtungen wie Bäckereien, Mühlen und Wasserdepots unter ihre Kontrolle. Adle erzählt uns, wie sie den Beginn des Angriffs wahrgenommen hat: „Sie kreisten uns von drei Seiten aus der Richtung der Dörfer Til Şehr, Kaniya Kurdan und Qulbe ein. Wir bereiteten zu dem Zeitpunkt in der Haci-Raşid-Moschee Mahlzeiten für die Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG vor. Auf einmal sagte ein Freund: ‚Schaltet die Gaskocher ab, der IS ist sehr nah.‘ Sie haben mit schweren Waffen angegriffen, eine Mörsergranate schlug in das Minarett ein. Wir haben trotzdem weitergekocht. Danach haben wir unsere Sachen zusammengesammelt und sind in die Nähe des Grenzübergangs gegangen. Es war am späten Nachmittag, vielleicht um vier oder fünf Uhr, als der IS ins Zentrum von Kobanê eingedrungen war.“

Öffnung der türkischen Grenze für IS-Dschihadisten

Den Tag, an dem die Bevölkerung Kobanês sich gezwungen sah, in den Norden auf türkisches Staatsgebiet zu fliehen, empfand Adle wie die dunkelste Nacht. Unter den Menschen ging das Gerede vom IS herum, sie würden Gebetsketten aus den Brustwarzen der Frauen von Kobanê machen, sollten sie diese gefangen nehmen. Die Angst, die in der Bevölkerung im Anschluss an solche Nachrichten umging, sei der Grund für die Flucht in den Norden gewesen, sagt Adle. Sie und ihre Freundinnen kochten wieder, diesmal für jene, die vor der Grenze ausharrten.

Adle erzählt, wie der türkische Staat zwar die Grenze für die Flüchtenden öffnete, aber zur gleichen Zeit an anderer Stelle der Grenze IS-Dschihadisten in Richtung Kobanê passieren ließ. Fotos davon gingen damals durch die Presse.

„Wir haben ein Versprechen gegeben“

Während der Schlacht um die Stadt erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass Kobanê fallen werde. Adle erinnert sich daran, wie sie die Reaktionen in Kobanê darauf erlebt hat: „Die YPJ-Kämpferin Destina stieß den Schaft ihrer Waffe auf die Erde und sagte: ‚Kobanê wird nicht fallen. Wir werden unseren Gefallenen nicht den Rücken zukehren.‘ Und so war es dann auch. Sie haben sich diesem Feind, dessen Grausamkeiten kaum in Worte zu fassen sind, entgegengestellt. Und auch in Suruç auf der anderen Seite der Grenze haben alle, von den Alten bis hin zu den Kindern, gesagt ‚Wir stehen an der Seite von Kobanê‘, und ihre Solidarität gezeigt. So wurden Waffen zusammengetragen und das Versprechen gegeben, dass wir nicht zulassen werden, dass Kobanê fällt.“

Aber nicht nur die Menschen aus Kobanê stellten sich den Dschihadisten entgegen. Auch aus anderen Teilen Kurdistans kamen Menschen zur Hilfe. Adle erzählt uns von den Tagen ihrer Ankunft: „In einer dieser Nächte habe ich von Abdullah Öcalan, dem Vordenker unserer Bewegung geträumt. Er war nach Kobanê gekommen. Ich saß zusammen mit vier, fünf anderen Frauen. Wir hatten ein weißes Wollknäuel in den Händen. Aber aus irgendeinem Grund konnten wir es nicht öffnen. Er sagte: ‚Bringt es her, ich öffne es für euch‘, und begann es Stück für Stück zu öffnen. Am gleichen Tag kamen dann die Menschen aus Nordkurdistan über die Grenze und es blieb kein Tor und kein Zaun mehr, der sie aufhielt. Sie folgten dem Aufruf Öcalans und strömten wie eine Flut nach Kobanê.“

Blutige Kleidung gewaschen

Doch auch nach der Ankunft der Unterstützung ging die Schlacht weiter und damit auch die Arbeit von Adle und ihren Freundinnen: „Danach sind wir natürlich geblieben. Wir haben die Kleidung der Gefallenen und Verwundeten gewaschen und Essen zubereitet. Manchmal kamen an einem Tag vier bis fünf Säcke voller Kleidung an. Wir haben nicht zugelassen, dass unsere Kämpferinnen und Kämpfer in ihren Stellungen hungrig oder durstig waren. Die Geschehnisse sind schwer in Worte zu fassen. Oft erfuhren wir kurz nachdem wir uns von ihnen verabschiedet hatten, dass sie im Kampf gefallen waren. Heval Evar zum Beispiel wurde von uns versorgt, weil er an der Hand verletzt war. Er sagte uns: ‚Ich kann hier nicht bleiben, wenn alle meine Freunde in ihren Stellungen kämpfen.‘ Und dann ging er. Unsere Bitten, dass er bleiben solle, weil er verletzt war, hörte er gar nicht. Am Abend hörten wir dann, dass er dem IS in die Hände gefallen war.

Trotz all dem versuchten wir, unsere Moral aufrecht zu erhalten. Wenn wir abends mit unserer Arbeit fertig waren, gingen wir mit unseren Trommeln zu den Verletzten. Mit unseren Liedern und Trillern versuchten wir ihre Stimmung aufzubessern. Sie haben aus uns Kraft geschöpft und wir aus ihnen.“

Bau von Gefallenenfriedhöfen

Die YPJ und YPG mussten während der Verteidigung von Kobanê viele Verluste hinnehmen. Adle erzählt uns, dass auch die Beerdigung der Gefallenen zu ihren Aufgaben gehörte: „Wir haben während der Kämpfe vier Friedhöfe gebaut. Drei davon vor dem Grenzübergang und einen in Suruç. Um die tausend Gefallene mussten wir begraben. Darunter waren Junge und Alte sowie Eltern. Natürlich waren sie nicht nur aus Kobanê. Sie kamen aus dem Norden, aus dem Osten und aus dem Süden, aus Efrîn und Aleppo. Alle haben sie ihr Blut hier vergossen.

Da war zum Beispiel Kader Ortakaya. Sie hatte sich aus Istanbul auf den Weg nach Kobanê gemacht. Ein Scharfschütze der türkischen Armee hat sie (am 6. November 2014, ANF) vom Grenzzaun aus erschossen. Das haben wir mit eigenen Augen gesehen. Wir haben ihren Körper geborgen, gewaschen und in einen Sarg gelegt. Danach schickten wir ihn an die Familie.

Unsere Tage vergingen mit Kochen, Waschen, der Beerdigung unserer Gefallenen, der Pflege der Verletzten und der Versorgung der Kämpferinnen und Kämpfer an der Front mit frischer Wäsche. Aber ich erinnere mich nicht, dass wir auch nur einmal gesagt hätten, dass wir müde sind. Die Schüsseln, in denen wir die blutige Wäsche der Gefallenen wuschen, leerten wir am Fuß der Bäume aus. Wir sagten einander: ‚Lasst uns das Blut unserer Helden nicht verschwenden. Die Bäume sollen in ihrem Blut Wurzeln schlagen.‘ Es gab einen Kämpfer aus Amed, er sagte ständig: ‚Kobanê, wir stehen in deiner Schuld.‘ Aber warum sollte er das, schließlich schlug sein aufrichtiges Herz für die Stadt. Wir waren kaum durch die Tür gegangen, da starb er.“

Menschen aus allen Teilen Kurdistans Seite an Seite

Die materielle Versorgungslage in Kobanê beschreibt Adle als äußerst angespannt: „Es gab lange keinen Strom, kein Brot, kein Wasser und keine Medikamente. Unsere selbstlosen Ärzte blieben die ganze Zeit über in der Stadt und haben ohne Unterlass Wunden verbunden. Dr. Mehemed Ehmed und Dr. Welat haben viereinhalb Monate ununterbrochen gearbeitet.

Es sind viele Menschen nach Kobanê gekommen und hier gefallen. Meine Gedanken sind bei ihren Familien. Sie können gar nicht stolz genug auf ihre Kinder sein, die so mutig und aufopferungsvoll waren. Ich kann die Freude darüber kaum in Worte fassen, wie die Kurden, egal aus welchem Teil Kurdistans sie kamen, in Kobanê Seite an Seite gestanden haben. Ich werde nie die Aufopferung der Kurden aus dem Norden vergessen, die uns all die Tage nicht allein gelassen haben."

„Woran wir glaubten war unsere eigene Kraft“

„Kobanê ist ein kleiner Ort, der durch das Blut der Gefallenen bekannt wurde. Wir haben alles getan, was unsere Kräfte erlaubten. Und trotzdem war es nicht genug. Wir stehen noch immer in der Schuld derer, die ihr Leben, ihr Auge, ihren Arm oder ihren Fuß lassen mussten.

Woran wir glaubten, war unsere eigene Kraft. Ich hörte von dem Gerede, dass die Befreiung dank der Amerikaner geglückt sei. Das entspricht nicht der Wahrheit. Wir haben einen sehr hohen Preis gezahlt. Die USA hätten Gutes getan, hätten sie gehandelt, bevor Kobanê sich in Trümmer verwandelt hat, geplündert wurde, Menschen starben oder zur Flucht gezwungen wurden. Sie haben die Menschen vor die Wahl gestellt. Das ist eine falsche Annäherung an das Thema. Wir haben uns selbst vertraut. Wir haben unserer eigenen Kraft und der Kraft unseres Zusammenhalts vertraut. Wir haben kein Vertrauen in irgendwen sonst gesetzt.

Egal was der Feind tat, er konnte uns nicht unterkriegen. Kobanê war überall auf der Welt präsent und der Sieg war unser. Was für ein schöner Tag war der Tag, an dem wir die IS-Flagge in Kaniya Kurdan aus dem Boden rissen und unsere eigene dort aufstellten. Eigentlich hat uns der Tag gestärkt, an dem Erdoğan behauptet hat, dass Kobanê fallen wird. Unter Kurden sagen wir: ‚Kurden sind Dickköpfe. Sie sind stur.‘ Das hat sich an jenem Tag deutlich gezeigt. Wir sind aufgestanden und sie mussten zurückweichen.“