Am 10. Dezember wurde weltweit der Tag der Menschenrechte begangen. Doch blickt man auf das mit dem Stillschweigen der Vereinten Nationen von der Türkei und islamistischen Verbündeten besetzte Efrîn, so zeigt sich deutlich, wie wenig ernst es die internationale Gemeinschaft mit der Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit meinen. Efrîn war einst die stabilste Region Syriens und galt inmitten eines brutal geführten Bürgerkriegs als sicherer Hafen. Doch unter türkischer Besatzung steht die Region heute als jener Ort im Land, der am stärksten von Menschenrechtsverletzungen betroffen ist.
Die Bevölkerung von Efrîn war vor der seit dem 18. März 2018 andauernden Besatzung zu mindestens 96 Prozent kurdisch. Heute beträgt der Anteil der kurdischen Bevölkerung weniger als 23 Prozent, einige Quellen sprechen sogar von nur noch 15 Prozent. Von den etwa 15.000 Angehörigen des alevitischen Glaubens sind gerade mal 200 geblieben. Die Zahl der ezidischen Gläubigen hat sich unter türkischer Besatzung von 25.000 auf 2.000 dezimiert.
Kurdisch zu sprechen ist in Efrîn verboten, die Olivenhaine und Häuser werden von den Besatzern geplündert. Die Menschen, die trotz alledem auf ihrem Land bleiben, sind einem Regime aus Folter, Massakern, Bedrohungen, Vergewaltigungen, Entführungen und Lösegelderpressungen ausgesetzt – und damit gezwungen, ihre Heimat ebenfalls früher oder später zu verlassen. Der türkische Staat lässt aber nicht nur die in Efrîn verbliebenen Kurd:innen foltern und misshandeln: die Besatzer greifen nahezu täglich den angrenzenden Kanton Şehba an, wo tausende Vertriebene aus Efrîn Schutz gefunden haben.
Unter 686 Toten sind 96 Frauen
Seit Beginn des Angriffskriegs gegen Efrîn am 20. Januar 2018 sind 686 Todesfälle durch Bombardierungen, Erschießungen oder Folter von der Menschenrechtsorganisation „Rêxistina Mafên Mirovan li Efrînê“ (RMME) dokumentiert worden. Mindestens 96 der Toten waren weiblich, in 88 Fällen wurden die Opfer zu Tode gefoltert. Sieben Frauen nahmen sich aufgrund sexualisierter Gewalt das Leben, 71 weitere wurden von Besatzern vergewaltigt. Die Dunkelziffer dürfte allerdings wesentlich höher liegen, befürchtet RMME. Nach ihren Recherchen hätten alle Frauen, die in Gefangenschaft der Besatzungstruppen geraten sind, sexualisierte Gewalt erfahren.
2021 mindestens 49 Menschen ermordet – davon sechs durch Folter
Auch wenn 2021 die menschenrechtliche Lage in Efrîn durch zahlreiche Berichte an die Weltöffentlichkeit gelangte, verübten die Besatzer weiterhin ungebremst und systematisch Entführungen, Folterungen, Lösegelderpressungen, extralegale Hinrichtungen und Vergewaltigungen. Seit Jahresbeginn wurden mindestens 49 Menschen in Efrîn getötet, darunter jeweils 13 Frauen und Kinder. Sechs der Opfer starben durch erlittene Folter, zwei von ihnen waren Frauen. Eine davon war die 64-jährige Mewlidê Nûman (Moulida Noman), die im Mai dieses Jahres im Gefängnis von ar-Rai getötet wurde.
Bei einer weiteren Ermordeten handelt es sich um Nemet Behçet Şêxo (auch Nemat Bahjat Sheikho, 32). Sie war schwanger, als sie vergangenen Oktober während eines Kontrolltermins bei ihrem Arzt in der Klinik Qanbar im Stadtzentrum Efrîns von der sogenannten „Zivilpolizei“ festgenommen und an den türkischen Geheimdienst MIT überstellt wurde – unter dem Vorwand, in einen Anschlag verwickelt gewesen zu sein. „Sie wurde brutal in die Mangel genommen, misshandelt und gefoltert. Als die im sechsten Monat schwangere Frau eine Fehlgeburt erlitt, wurde sie in das nahegelegene Qanbar-Krankenhaus gebracht. Dort ist sie verblutet“, heißt es in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation RMME.
Besatzungstruppen töten Efrîn-Vertriebene in Şehba
Die Angriffe türkischer Soldaten und dschihadistischer Söldner auf die Bevölkerung Efrîns beschränken sich nicht auf die besetzten Gebiete. Von Efrîn und den besetzten Gebieten um Mare und Azaz aus ist die Region Şehba, in der etwa 150.000 Binnenvertriebene aus Efrîn leben, fast täglich Ziel von Artilleriegranaten. Am 23. Januar 2021 wurden vier Menschen beim Einschlag zahlreicher Mörsergranaten in Tel Rifat getötet. Die Granaten schlugen in einem Wohnhaus ein, unter den Toten waren auch eine Mutter und zwei ihrer Kinder.
Am 6. April wurde bei Artillerieangriffen auf Dörfer in Şêrawa und Şera ein zwölfjähriges Mädchen getötet, drei Menschen wurden verletzt. Am 13. Juni wurden ebenfalls drei Personen in Şêrawa durch türkischen Beschuss verwundet. Und auch die tödlichen Hinterlassenschaften der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) und anderer Dschihadistenmilizen forderten ihre Opfer. Mindestens zehn Menschen sind durch Explosionen von Landminen und Sprengsätzen getötet worden, unter ihnen waren sechs Kinder. 15 weitere Personen erlitten Verletzungen.
2021 gab es 655 Entführungen
Nach dem Kantonssystem bestand Efrîn aus sieben Kreisen mit insgesamt 372 Dörfern und Weilern. Fast überall betreibt die Besatzungsmacht Folterzentren, in die Entführte zur Lösegelderpressung verschleppt werden. In den Dörfern sind es in der Regel beschlagnahmte Häuser oder andere Gebäude der Zivilbevölkerung oder ehemaligen Selbstverwaltung, die in Gefängnisse umfunktioniert worden sind. Laut den Daten von RMME wurden seit Anfang 2018 mindestens 8.455 Menschen in der Region entführt. Etwa die Hälfte von ihnen ist bis heute verschwunden, ein anderer Teil wird weiterhin in Folterzentren gefangen gehalten. Zwar kommt es gegen Lösegeldzahlungen durchaus auch zu Freilassungen von Entführungsopfern, die meisten werden aber immer wieder von neuem verschleppt, um mehr Geld zu erpressen. Seit Jahresbeginn sind 655 Entführungsfälle bekannt, darunter 75 Frauen und ein Baby. Mindestens 40 Bewohnerinnen und Bewohner Efrîns sind völkerrechtswidrig in die Türkei verschleppt und dort zu schweren Haftstrafen verurteilt worden.
Lösegelderpressung als Sektor der Wirtschaft
Laut RMME haben sich Entführungen in Efrîn zu einer Industrie entwickelt, die den Besatzungsmilizen durch Lösegelderpressungen lukrative Einnahmen generiert. Ibrahim Şêxo ist Sprecher der Menschenrechtsorganisation. Er berichtet, dass Opfer im Fall von ausbleibenden Lösegeldzahlungen willkürlich weiter gefangen gehalten werden und unter konstruierten Anschuldigungen vor sogenannten Gerichten der Besatzungsmacht zu hohen Haftstrafen verurteilt werden.
Die Folterzentren der Besatzer
Bei einigen der Folterzentren der Besatzer, die in der Regel nach den Ortsnamen benannt sind, handelt es sich um folgende:
Tirindê: Das Gefängnis befindet sich im gleichnamigen Stadtteil in Zentral-Efrîn und steht unter der direkten Kontrolle des türkischen Geheimdienstes MIT. Der Kerker ist berüchtigt für die schwersten Folterpraktiken.
Meydan Ekbes: Dieses „Zentralgefängnis“ befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs im gleichnamigen Dorf im Kreis Raco nahe der türkischen Grenze. Das Bahnhofsgebäude Al-Mihata und etwa 40 beschlagnahmte Häuser im Umkreis wurden zu einem „Gefängniskomplex“ umgewandelt, hinzu kommen einige Neubauten. Die Einrichtung wird unter MIT-Aufsicht von der Dschihadistengruppe „Faylaq al-Sham“ betrieben. Dort werden vor allem Menschen gefoltert, die im nächsten Schritt auf türkisches Staatsgebiet verschleppt werden. Das Gelände gilt als „militärische Sperrzone“. Die Gefangenen werden zum Beten und salafistischem Religionsunterricht gezwungen. Kurdische Gefangene werden als „Ungläubige“ behandelt.
Al-Karama: Die Al-Karama-Schule galt einst als eine der ältesten Bildungseinrichtungen in Efrîn. Heute befindet sich in dem Gebäude ein von der türkischen Armee eingerichtetes Folterzentrum, das von der Miliz „Faylaq al-Sham“ betrieben wird. Es verfügt über einen speziellen Bereich, in dem Frauen festgehalten werden.
Mawasalat: Dieses Folterzentrum liegt im Stadtzentrum von Efrîn und liegt im Einflussbereich von „Jabhat al-Shamiya“. Es wird von ehemaligen Geheimdienstoffizieren des Regimes geleitet, die zuvor in der syrischen Armee dienten und sich der sogenannten FSA anschlossen. Gefangene werden zunächst dort gefoltert, bevor sie in das Gefängnis Sijo (al-Ma‘sara) in Azaz überführt werden.
Beradê: Dieses Folterzentrum wird ebenfalls von „Jabhat al-Shamiya“ betrieben. Bei den Insassen handelt es sich vor allem um Menschen aus Efrîn und der Umgebung. RMME dokumentierte in Bezug auf diese Einrichtung intensive psychische und physische Folter, die sich insbesondere gegen Frauen richte.
Al-Mahkama: Das Gefängnis befindet sich im Zentrum von Efrîn im Gebäude des ehemaligen Gerichts. Unter der Kontrolle von „Jabhat al-Shamiya“ werden insbesondere verschleppte Frauen gefangen gehalten.
Ezher: Der Kerker liegt ebenfalls in Zentral-Efrîn, wird allerdings von der berüchtigten Miliz „Ahrar al-Sharqiya“ unter der Aufsicht türkischer Geheimdienstagenten betrieben.
Ittihad al-Arabiya: Die arabische Schule wurde von „Jabhat al-Shamiya“ in ein Folterzentrum umgewandelt. Der Kerker verfügt über eine Frauenabteilung, in der letzten Zeit wird er aber vor allem als Militärstützpunkt genutzt.
Eşrefiyê: Bei diesem Kerker im gleichnamigen Stadtteil handelt es sich um das Haus einer Familie, die Efrîn im Zuge der Besatzung verlassen hat. In vier Räumen werden etwa 50 bis 60 Personen festgehalten.
Mahmûdiye: Das Folterzentrum steht unter Kontrolle von „Furqat al-Hamza“ und enthält zwei Frauenabteilungen.
Gefängnis in der Villa-Straße: Hierbei handelt es sich ebenfalls um ein ehemaliges Wohnhaus, das in ein Folterzentrum umfunktioniert wurde. Es wird von „Ahrar al-Sharqiya“ betrieben.
Amir al-Gubari: Dieses in einer ehemaligen Schule eingerichtete Folterzentrum wird vom MIT und verschiedenen Söldnergruppen geleitet. Hier werden Menschen gefoltert und verhört, die beschuldigt werden, vor der Invasion für die Kantonsverwaltung gearbeitet zu haben.
Al-Qalaa: Dieser Kerker wird von „Furqat al-Hamza“ betrieben.
Xirabê: Dieses Folterzentrum befindet sich im Kreis Şera und war zuvor von der turkmenischen Miliz „Sultan-Murad-Brigade“ betrieben worden. Mittlerweile dient es als „Präsidium“ der sogenannten „Militärpolizei“.
Kefer Cenê: Der Folterkerker liegt im gleichnamigen Dorf in Şera und wird von „Jabhat al-Shamiya“ betrieben.
Şengêl: Bei diesem von „Furqat al-Hamza“ kontrollierten Folterzentrum im Kreis Bilbilê handelt es sich ebenfalls um ein verlassenes Haus.
Goran: Das sogenannte Gefängnis findet sich in Raco und steht unter der Kontrolle von „Faylaq al-Sham“.
Abu Amsha: Das nach dem Alias des berüchtigten Folterers und Kommandanten der „Sultan-Sulaiman-Schah-Brigade“, Muhammad Al-Jassim, benannte Gefängnis befindet sich im Kreis Şiyê.
Qermîtalqê: Dieses Folterzentrum liegt ebenfalls in Şiyê und wird von derselben Miliz betrieben. Hier werden vor allem Personen im Zusammenhang mit Lösegelderpressungen inhaftiert und gefoltert.
„Internationale Mächte sind Komplizen der Besatzung“
Ibrahim Şêxo kritisiert, dass der Zustand der Besatzung in Efrîn trotz ausführlicher Dokumentation der Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch die Türkei und ihren Söldnertruppen andauert und die internationale Gemeinschaft sich nicht in der Pflicht sieht, zu intervenieren. „Die türkische Besatzungsmacht ist in Efrîn verantwortlich für Massaker, Entführungen, Lösegelderpressungen, Raub, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Unzählige historische Orte und heilige Stätten wurden zerstört, Friedhöfe dem Erdboden gleich gemacht. Vor allem Kurdinnen und Kurden und ihre Geschichte, Kultur und Sprache wurden und werden ins Visier genommen. All diese Verbrechen sind in Berichte internationaler zivilrechtlicher Organisationen eingeflossen. Wir als in Syrien aktive Menschenrechtsorganisation dokumentieren täglich die Verbrechen der Besatzer. Doch leider bleiben sie nur auf dem Papier. Die internationalen Mächte; die Vereinigten Staaten, Russland, die Länder Europas, sie alle unternehmen bis heute keine Schritte, um diese brutalen Praktiken zu stoppen. Sie machen sich mit ihrem Schweigen und ihrem Mangel an konkretem Handeln zu Komplizen der Besatzer, denn sie sind verbündet und verfolgen gemeinsame Interessen. Die Türkei hat dieses Schweigen genutzt, um ihre Kriegsverbrechen auf die gesamte Besatzungszone – Girê Spî, Serêkaniyê, Azaz, Bab auszuweiten. Sie bereitet die Annexion dieser Regionen vor.“
„Besatzung muss enden“
Nach Angaben von Ibrahim Şêxo sind mehr als 300.000 Menschen im Zuge der Besatzung aus Efrîn vertrieben worden: „An ihrer Stelle siedelte die Türkei 400.000 Menschen aus Orten wie Ost-Ghouta, Damaskus, Idlib und sogar aus Palästina an. Die angestammte Bevölkerung kann derweil nicht zurückkehren, weil das Leben in Efrîn geprägt ist von schweren Menschenrechtsverletzungen. Und mit jedem Tag, der hinzukommt, wird es schlimmer. Efrîn gilt dem türkischen Staat als Pilotprojekt für die Etablierung eines Folterregimes. Als Menschenrechtsorganisation rufen wir alle internationalen Institutionen auf: Übernehmt endlich Verantwortung! Der türkische Staat muss raus aus Efrîn und Syrien, seine Besatzung muss beendet werden und die Rückkehr der Vertriebenen muss garantiert werden. Diejenigen, die für Massaker und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, müssen strafrechtlich verfolgt werden. Das syrische Problem und der Krieg müssen politisch gelöst werden, indem die Besetzung des türkischen Staates beendet wird.“