Das vierte Jahr der Besatzung der kurdischen Region Efrîn hat begonnen. Nach Zahlen der Menschenrechtsorganisation von Efrîn sind seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs am 20. Januar 2018, der nach 58 Tagen Widerstand am 18. März in die Einnahme des ehemals selbstverwalteten Kantons mündete, mindestens 612 Menschen durch Angriffe der Türkei und ihren islamistischen Verbündeten, Entführungen und Folterungen ermordet worden. 696 Menschen, davon 303 Kinder und 214 Frauen, wurden bei den Angriffen auf Efrîn verletzt. In drei Jahren Besatzung explodierten 214 Minen und Fahrzeugbomben. Laut Daten der Menschenrechtsorganisation von Efrîn sind mindestens 7.457 Menschen entführt worden. Das Schicksal von mehr als 3.500 von ihnen ist unbekannt. Unter den Entführungsopfern befinden sich etwa tausend Frauen, von denen 400 nach wie vor „verschwunden“ sind.
Insgesamt 64 Schulen und andere Bildungseinrichtungen Efrîns sind zerstört worden, einige von ihnen vollständig. Mehr als 315.600 Oliven- und Waldbäume wurden abgeholzt und als Brennholz verkauft. Über 12.000 Hektar Ackerland wurde in Asche verwandelt, aus den Lagern wurde Weizen und Seife gestohlen und in die Türkei gebracht. Auch die Oliven von Efrîn und das Olivenöl wurden geraubt. In der Saison 2018-2019 war die Olivenernte in Pressen in Hatay verarbeitet worden, um anschließend in den europäischen Markt exportiert zu werden.
Mindestens 28 historische Stätten, 78 archäologische Siedlungshügel und 15 heilige Schreine in Efrîn wurden durch Angriffe der türkischen Luftwaffe und Raubgrabungen zerstört. Die historischen Artefakte sind in die Türkei gebracht worden.
Demografischer Wandel und Islamisierung
Nach Zahlen der Menschenrechtsorganisation von Efrîn sind in drei Jahren Besatzung mehr als 300.000 Menschen aus dem ehemaligen Kanton vertrieben worden. Der türkische Staat brachte an ihrer Stelle die Familien von loyalistischen Milizionären aus verschiedenen Teilen Syriens nach Efrîn und siedelte sie dort an. Heute übersteigt die Zahl der Menschen in der Stadt 400.000. Der Anteil der kurdischen Bevölkerung sank von 96 Prozent auf 20 Prozent.
Vor der Invasion lebten mehr als 25.000 Ezidinnen und Eziden in 23 Dörfern und im Stadtzentrum von Efrîn. Ihre Zahl ist auf weniger als 5.000 gefallen. In historischen ezidischen Dörfern wie Basûfanê wurden Moscheen errichtet. Die Menschen werden gezwungen, zum sunnitischen Islam zu konvertieren.
Ibrahim Şêxo ist Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Efrîn
Im Kreis Mabeta lebten vor der Invasion etwa 15.000 alevitische Kurdinnen und Kurden. Heute gibt es weniger als tausend Angehörige der alevitischen Gemeinschaft in Efrîn, die ihren Glauben im Verborgenen leben. Die Häuser von etlichen Vertriebenen sind in Koranschulen umgewandelt worden. Auch von den mehr als tausend christlichen Familien sind nur noch einige wenige in Efrîn übrig. Bei den meisten, die geblieben sind, handelt es sich um ältere Menschen. Sie wurden ebenfalls der Zwangskonversion zum sunnitischen Islam unterzogen.
Die Türkei und Katar versuchen seit drei Jahren, in Efrîn den Salafismus zu stärken. Die türkische Religionsbehörde kontrolliert die Regionen Hatay und das besetzte Efrîn gleichzeitig. Während es vor der Invasion nur in einzelnen Dörfern Moscheen gab, lässt die türkische Religionsstiftung heute in jedem Dorf Efrîns mindestens eine Moschee bauen. Die Turkmenische Jugendgesellschaft (TGT) und die Milizen haben vielerorts salafistische Koranschulen eröffnet.
Ein Zentrum der patriarchalen und rassistischen Gewalt
Im ANF-Gespräch berichtet der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation von Efrîn, Ibrahim Şêxo, über die aktuelle Lage in der Region. Früher sei die Stadt ein Zentrum des Friedens, der Demokratie, der Frauenemanzipation und ein sicherer Hafen gewesen, sagt Şêxo. Heute stehe Efrîn für ethnische Säuberung, Femizid und sei im Grunde nichts anderes als ein riesiges Folterzentrum. „In Efrîn herrschen alle nur vorstellbaren Praktiken der Grausamkeit. Sie reichen von Morden, Folter, Lösegelderpressung, Femiziden und Vergewaltigungen bis hin zur Vernichtung von Natur und Geschichte. Die Besatzer haben in Efrîn sogenannte Zivilräte gegründet, die de facto einfach nur Makulatur sind. Diese Räte sind allesamt an das Gouverneursamt Hatay angeschlossen. Hin und wieder verkehrt der Gouverneur bei diesen vermeintlichen Zivilräten, um allerdings nur ihre Politik festzulegen. Ein großes Problem sind Entführungen und Vergewaltigungen, die weit verbreitet sind. In tausenden Fällen sind Familien mit Gewalt dazu gezwungen worden, ihre minderjährigen Töchter mit Söldnern zu verheiraten. Etwa tausend Frauen wurden entführt oder verhaftet. Das Schicksal von etwa vierzig Prozent ist unklar.“
Alles unter Kontrolle der Türkei
Şêxo und seine Organisation haben mit vielen Menschen gesprochen, die zunächst noch in Efrîn geblieben waren, an einem Punkt dem Druck aber nicht mehr stand hielten und die Region verließen. Die auf der Grundlage der Äußerungen und Angaben der Betroffenen gesammelten Informationen deuteten darauf hin, dass Efrîn vom türkischen Staat einem von langer Hand geplanten Prozess der Umsiedlung, Umerziehung und Annexion unterworfen wurde.
Im Hinblick auf die Menschenrechtsverbrechen in Efrîn sagt Şêxo: „Internationale Berichte haben ebenfalls auf diese Situation hingewiesen, aber die Türkei ignoriert solche Dokumentationen. Der Bericht der Unabhängigen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen (UN) zu Syrien vom September 2020, der auch die Verbrechen der Söldner einschließt, die in Serêkaniyê und Girê Spî für den türkischen Staat agieren, ist eindeutig.
Nach dem Bericht wurde die Reaktion der internationalen Öffentlichkeit heftiger und der türkische Staat unternahm Schritte, um sich selbst zu entlasten. Im Oktober 2020 reiste Nasir Al-Hariri, Chef der sogenannten Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte (ETILAF), nach Efrîn. Dort besuchte er das Marate-Gefängnis und das Dorf Basûfanê. Die Besatzer zwangen einige kurdische ältere Menschen mit Einschüchterung vor die Kamera. Sie erklärten, sie würden ihnen ihren Besitz zurückgeben. Die Plünderungen seien Taten von Einzelpersonen gewesen. Natürlich dient das alles dazu, die Öffentlichkeit zu täuschen. “
Verbrecherische Söldnerführer bilden Komitee zur „Aufklärung“ ihrer Verbrechen
Über ein Komitee, das Hariri zur Untersuchung der Verbrechen der Söldnerchefs eingerichtet haben soll, sagt Şêxo: „Dieses Komitee wurde von den Anführern der Milizen gegründet. Von Jabhat al-Shamiya und der Sultan-Murad-Brigade. Der Vorstand des Komitees setzt sich aus dem Verantwortlichen der ‚Militärpolizei‘ Muhammed Hamadin und Nidal Buyani, von Jabhat al-Shamiya zusammen. Einer Miliz, die über 500 Häuser in Efrîn geraubt hat. Die Bevölkerung wendet sich nicht an das Komitee, weil sie weiß, dass es nur Show ist und aus den Anführern der Milizen besteht. Die einzige Funktion dieses vermeintlichen Gremiums ist es, den türkischen Staat und seine Banden gegenüber der internationalen Gemeinschaft zu entlasten. Bisher haben sie viele Menschen massakriert, entführt, vergewaltigt, aber wir haben nicht einen Söldner gesehen, der dafür verhaftet wurde.“
Nach dem UN-Report nahmen die Übergriffe noch zu
Nach dem UN-Bericht und dem Besuch Hariris im Oktober 2020 hätten die Übergriffe sogar noch zugenommen, sagt Şêxo und fährt fort: „Früher wurden einige Mitglieder einer Familie entführt oder verhaftet, mittlerweile werden ganze Familien ins Gefängnis geworfen. Sie entführten Menschen und ließen sie für Geld wieder gehen. In letzter Zeit sind auch die Summen bei Lösegeldforderungen gestiegen. Nach der Einsetzung des Komitees nahmen Folter und Unterdrückung noch weiter zu.“
Efrîn wird in eine türkische Stadt umgewandelt
Zu den Annexionsvorbereitungen erklärt Şêxo: „Das Gouverneursamt von Hatay regiert Efrîn. Jeden Monat kommt der Gouverneur in die Stadt. Er hat eine Behörde in Efrîn. Er trifft sich mit Räten und Banden. Er plant mit ihnen, was passieren wird. In diesen Plänen geht es um die Frage, wie man Kurden aus der Stadt vertreiben kann. Die Pläne basieren auf dieser Frage. Türkische Bildung und Türkisch zu sprechen ist verpflichtend. Schauen wir uns zum Beispiel die Region Şiyê an: sie wird beherrscht von der Sultan-Suleiman-Schah-Brigade. Ihr Kommandant Abu Amsha steht Erdoğan sehr nahe. Diese Miliz hat die Häuser der Bevölkerung beschlagnahmt. Außerdem sammelt sie Geld ein, weil es Pläne für ein Krankenhaus und ein Lager geben soll. Şiyê sieht in keiner Weise mehr aus wie eine Stadt in Syrien. Überall hängen Bilder von Erdoğan und türkische Flaggen. Dieser Kommandant, von dem ich spreche, bewaffnete tausende Söldner und schickte sie in die Kriege in Libyen und Aserbaidschan. Alle Menschen, die diesen Leuten widersprechen, werden bestraft. Turkmenische Milizen tun, was sie wollen. Alles ist für sie erlaubt. Die Türkei versucht nun, die Stadt dauerhaft an sich zu binden, indem sie die syrische und kurdische Identität von Efrîn vollständig zerstört.“
„Zentrum des Terrors“
Ibrahim Şêxo schließt mit den Worten: „Heute ist Efrîn ein Terrorzentrum. Sie haben Terroristen auf der ganzen Welt in Efrîn versammelt. Sie zerstörten die Natur von Efrîn, sie vertrieben die Bevölkerung Volk und sie beschlagnahmten ihr Eigentum. Sie haben uns alles angetan, was man sich vorstellen kann. Der gegenwärtige Zustand von Efrîn stellt eine Bedrohung für die ganze Welt dar. Die Türkei nimmt Banden aus Efrîn und schickt sie nach Libyen, Aserbaidschan und überall hin. Efrîn ist ein Zentrum, in dem alle vom türkischen Staat ausgebildeten und ausgerüsteten Banden versammelt sind.“