An der Front gegen Krieg und Pandemie

Seit fünf Jahren lebt die Internationalistin Jiyan Bengî in Rojava. Zurzeit arbeitet sie an vorderster Front im medizinischen Bereich. In einem ausführlichen Interview spricht sie über die Rolle und das Verständnis von Gesundheit in der Revolution.

Jiyan Bengî ist eine deutsche Internationalistin, die nach dem IS-Überfall auf Şengal im August 2014 und dem Angriff auf Kobanê im darauffolgenden Jahr beschloss, nach Nordsyrien zu reisen, um sich dort der Revolution für eine konföderalistische Demokratie – angeführt von der kurdischen Befreiungsbewegung – anzuschließen. Zurzeit arbeitet sie an vorderster Front im medizinischen Bereich. Das spanische Kollektiv Buen Camino hat mit ihr über die Auswirkungen des Coronavirus auf Rojava gesprochen, über die Rolle und das Verständnis von Gesundheit in der Revolution, über die verändernde Kraft der Frauenbewegung und über die Schwierigkeiten, eine Alternative zur Krise des Kapitalismus in Europa aufzubauen.      

Kannst du uns einen kurzen Einblick geben über die aktuelle Lage? Wie ist die Situation hier an der Front, wie wirkt sie sich auf die Besatzung aus, an welchem Punkt ist der Krieg?

Dies ist die letzte Frontlinie seit Beginn der Offensive im letzten Jahr. Hier gibt es zum Beispiel eine Nachbarschaft, die den Çete [Dschihadisten] gehört, und es gibt weiterhin Angriffe, meist mit schweren, aber auch leichten Waffen. Momentan gibt es viele Bewegungen. Es gibt Bewegungen von Kriegsflugzeugen, es gibt Bewegungen auf der anderen Seite der Front, wir wissen, dass die türkischen Soldaten mehr Stellungen aufbauen, die Kräfte wechseln und Aufklärungsarbeiten leisten. Drohnen fliegen, die Russen patrouillieren mit den türkischen Soldaten, und auch die Amerikaner patrouillieren. Ein großer Teil davon dient zur Sammlung von Informationen. Wir vermuten, dass nach der Situation des Coronavirus der Krieg wieder eskalieren wird. Gleichzeitig reorganisiert sich Daesh/der IS speziell in der Region Deir ez-Zor, Angriffe und Drohungen gehören dort wieder zum Leben. Auch heute noch werden ihre Schläferzellen in den Kantonen Cizîrê und Kobanê aufgedeckt und festgenommen. Der Krieg bzw. die Kriege, mit denen wir es hier zu tun haben, finden auf diesen verschiedenen Ebenen statt.

Gehst du also davon aus, dass die Türkei weiterhin versuchen wird, neue Gebiete zu besetzen?

Für die Türkei stellt sich nicht die Frage, ob sie angreifen soll oder nicht, für sie ist die Frage, wann sie es tun soll. Wenn die Bedingungen günstig sind, dann werden sie es tun. Es hängt auch von den Beziehungen zwischen ihnen und ihren politischen und militärischen Partnern ab. Aber sicher ist, wenn es in den Händen der Türkei liegt, wird es wieder Krieg geben.

Wie wirkt sich die Pandemie nun auf all das aus?

Nun, auf der einen Seite, wenn wir uns die Situation in der Welt anschauen, ist jetzt jeder auf das Coronavirus konzentriert, man schaut die Nachrichten, und es heißt Corona, Corona, Corona, Corona, wenn jetzt ganz Rojava (oder irgendein anderer Ort in der Welt) brennt, wird sich leider niemand dafür interessieren. Wenn andererseits elektrische oder Wasserversorgungsinfrastrukturen von ihnen bombardiert werden, geht es doch genau darum, oder? Darum, die Moral der Menschen zu beeinträchtigen, ihnen Angst zu machen, Druck auf ihre alltäglichen Bedürfnisse des Lebens auszuüben, sie wütend zu machen. Ich meine, wenn du an eine Stadt so groß wie Hesekê denkst, ein einziger Tag ohne Wasser… Gerade in einer Pandemie-Situation, in der man neben dem Trinkwasserbedarf täglich alles reinigen muss, ist das eine ganz klare anhaltende Kriegsstrategie gegen die Menschen in Nord- und Ostsyrien.

Durch türkische Artillerieangriffe zerstörte Wasserleitung in Nordsyrien

Wie wurde in Rojava im Allgemeinen auf die Bedrohung durch den Ausbruch einer Pandemie reagiert?

Als diese Situation mit dem Covid-19 begann, lautete die Reaktion: Wir werden alles stoppen, alle militärischen Strukturen müssen ihre „aktiven” Aufgaben einstellen, denn zuallererst sind wir alle mit der Bedrohung durch diesen Virus konfrontiert, der heute ein „Feind” ist, von dem nicht ganz klar ist, wie er ist. Um Sicherheit und Schutz zu gewährleisten, halten wir also inne und versuchen, der Welt bewusst zu machen, wie wichtig es ist, Selbstschutzmaßnahmen zu befolgen. In unserer Region beispielsweise gingen wir zu allen Einheiten und erklärten die aktuelle Situation, die Bedrohung, wie man sich schützt, ob es FreundInnen mit Symptomen gäbe, usw. Dann ging es darum, medizinische Ausrüstung zu organisieren und auch Informationen über Reinigungsmaterial zum Schutz der Kinder zu verteilen. Es gibt immer noch das Embargo, wir haben nicht so viele Quellen, selbst die Beschaffung von Gesichtsmasken und Handschuhen für alle war und ist unmöglich.

Darüber hinaus ging es auch darum, eine hoch soziale Gesellschaft davon zu überzeugen, sich völlig unsozial zu verhalten – kein Händeschütteln, keine Umarmungen, Küsse, Distanz, keine Treffen oder Besuche, andere Essens- und Trinkgewohnheiten. Es war ziemlich schwierig zu erklären, wie wichtig es ist, dies alles umzusetzen. Denn wenn man sich die Intensivstationen hier ansieht, dann sind die verfügbaren Plätze… Wir haben 40 Beatmungsgeräte, das bedeutet, dass wir nur 40 schwere Fälle behandeln können, die unterstützende Beatmung benötigen, was bedeutet, dass der Rest nicht angemessen behandelt werden kann, bis ein Beatmungsgerät frei ist, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass diese Person gestorben ist … Es gibt also sehr konkrete Gründe für diese Schutzmaßnahmen und den Lockdown.

Sind die Maßnahmen denn wie in Europa?

Nun, auch hier sind Einrichtungen geschlossen, und die einzigen, die offen sind, sind diejenigen, die Dinge verkaufen, die die Menschen brauchen, wie Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Geschäfte mit Vorräten, die für die Arbeit auf dem Land benötigt werden. Wir haben auch Asayîş, die kontrollieren, dass die Menschen die Maßnahmen einhalten, wenn man es also ein wenig klassisch betrachtet, hat natürlich alles die gleiche Form, aber andererseits gibt es hier andere Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Wasser und Elektrizität sind kostenlos, und die Menschen werden durch die Kommunen mit Lebensmitteln und grundlegenden Dingen versorgt, was meines Erachtens ein Unterschied zu Europa ist, denn das wird hier innerhalb des Systems umgesetzt, in der Vorstellung von Gesellschaft und Gesundheit. Es gibt eine Struktur, die die Grundlage des Lebens hier ist, und es gibt Menschen, die Verantwortung übernehmen. Es ist nicht so, dass einige Menschen sich entscheiden, ein guter Mensch zu sein und deshalb ihr Geld benutzen, um andere Menschen zu unterstützen, was im kapitalistischen System eine gute Entscheidung ist, aber es ist anders, wenn die Grundlage des Systems darin besteht, sich gegenseitig durch verschiedene Kommunen zu unterstützen, also nicht abhängig von einem Staat, sondern von der Verantwortung, die jeder für den anderen übernimmt. In Europa hast du die Staaten, die in dieser Krise versagen. Das Geld muss das lösen, was eigentlich die Grundlage des Zusammenlebens der Gesellschaft sein sollte. Gesundheitsversorgung, Gesellschaftlichkeit, Verantwortung, etc.

Eine Angehörige der Inneren Sicherheit Asayîş

Als die Selbstverwaltung begann, Maßnahmen anzukündigen und umzusetzen, hatten wir das Gefühl, dass die Leute es vielleicht nicht besonders ernst nahmen…

Dies ist ein Land, das sich seit langer Zeit im Krieg befindet, die Menschen haben viel Elend gesehen, viele Tote, viele Verluste erlitten, und jetzt muss man sich einem Feind stellen, den man nicht sieht. Man sieht nicht, wie er sich ausbreitet, man sieht nicht, was passiert oder wie die Menschen krank werden, also denkt man sich: „Okay, wenn nicht einmal die Dinge, die wir brauchen, hineinkommen, wie soll das Virus hierher kommen?“ Die Leute sehen manchmal zu gelassen aus, weil sie schon zu viel gesehen haben. Aber es bleibt abzuwarten und zu schauen, ob die Leute es nach der Bestätigung einiger Fälle ernster nehmen, und es scheint, dass sie eher bereit sind, die notwendigen Verfahren zu befolgen.

Vorhin hast du über die Probleme in Bezug auf Gesundheit gesprochen. Was ist hier die Perspektive auf eine Revolution bezüglich Gesundheit? Denn in Europa sehen wir in der gegenwärtigen Situation, dass gesund sein vor allem bedeutet…

Funktion. Funktionieren können.

Das ist alles.

Die Idee ist, eine Gesellschaft zu schaffen, die auf demokratischen und ökologischen Werten sowie der Frauenbefreiung beruhen. Betrachten wir uns das mal näher, dann stellt sich die Frage, wo fängt Gesundheit an? Vielleicht beginnt sie an einem anderen Punkt, als wir es für selbstverständlich halten. Wir brauchen diese Welt und Natur, wir brauchen sie zum Leben, aber die Natur braucht uns nicht. Es ist etwas, das wir jetzt deutlich sehen können, nicht wahr? Die Luft wird gereinigt, das Meer wird gereinigt, es gibt Bewegung, die Tiere „werden groß”, als ob sie glücklich wären, sie tauchen überall auf [lacht].

Und das ist das Problem, nicht wahr? Diese Welt braucht uns nicht, und was wir brauchen, können wir nicht sehen und wir können es nicht schätzen. Wir wissen das Leben und die Natur nicht zu schätzen. Und wenn wir die Natur nur als etwas betrachten, das uns das geben sollte, was wir wollen, dann ist dies der erste Schritt, um eine sehr ungesunde Beziehung zur Welt aufzubauen, eine sehr pragmatische Beziehung zur Welt, auf der alles andere aufbaut, zum Leben im Allgemeinen. Wie geht man also mit der Natur um, wie werden die Menschen behandelt, wie wird unser Inneres behandelt, da beginnt die Gesundheitsdebatte. Die Art und Weise, wie wir lernen, dieses Leben zu leben, wie wir denken, wie wir fühlen, was wir tun, wer wir sein sollen, das alles hängt mit einem gesunden Herzen, gesunden Gefühlen, einer gesunden Seele, einem gesunden Geist und einem gesunden Leben zusammen.

Wenn wir nach Europa schauen, auf jene Staaten, die, sagen wir mal, hoch „industrialisiert” sind, gibt es so viele Fälle von Depressionen und so genannten „deseas of modernity” (Krankheiten der Moderne, wie Diabetes) … die Menschen suchen nach einem Sinn im Leben, schauen hinaus, versuchen, das Ziel eines Mainstream-Bildes eines glücklichen, schönen, funktionalen Individuums zu erreichen, ein Bild, das in Wirklichkeit nur das Bilderbuchbeispiel dafür ist, was Gesundheit nicht ist. Fängst du also an, all dies mit der sozialen Wirklichkeit zu verbinden, mit der Wirklichkeit des Menschen in Verbindung mit der Natur, mit sich selbst als Menschen, der ein lebendiger und notwendiger Teil der Menschheit und der Gesellschaft ist, Schritte in diese Richtung zu unternehmen, ist dies die Grundlage, auf der die Gesundheitsfürsorge durchgeführt werden kann. Wir alle sind für unsere Gesundheit und die Gesundheit aller um uns herum und der Welt, in der wir leben, verantwortlich. Dies zu verstehen, das größere Bild und die tiefere Verbindung zu sehen, auf die gleiche Ebene herunterzukommen, kann einfach bedeuten, Entscheidungen darüber zu treffen, was wir nutzen, was wir aufbauen, was wir tun, entsprechend diesem Wissen. Wenn wir also über Energie-Ressourcen sprechen, denken wir nicht nur darüber nach, was wir brauchen, sondern auch darüber, wie jeder sie so nutzen kann, dass wir der Natur und dem Leben keinen Schaden zufügen, ohne die Ressource selbst zu erschöpfen. Wenn wir über Medizin sprechen, dann fangen wir dort an, wo die Pharma-Medizin nicht die Lösung ist. Es geht um alles vor der Pharma-Medizin, um unsere Lebensweise, aber auch um die Nutzung der Forschung, um Lösungen für ernsthafte Krankheiten oder Bedürfnisse für eine richtige Operation zu finden. Es sollte nicht um das Geld gehen oder darum, die Pharma-Medizin als Quelle zu nutzen, um Geld zu bekommen. Es geht darum, zu teilen und füreinander da zu sein, wo Entscheidungen mit dem Gesamtbild zusammenhängen.

Internationalistin Jiyan und ihr Team

Wenn man hier mit den Menschen darüber spricht, was sie von Rojavas Zukunft halten, antworten sie immer dasselbe: „Es ist nicht klar, niemand weiß es”. Jetzt, mit der Pandemie, scheint es, dass in Europa die gleiche Erfahrung gemacht wird. Es gibt eine Menge Unsicherheit, es herrscht die Vorstellung, dass niemand weiß, was passieren wird. Für einen Moment ist die „Normalität” von Millionen von Menschen gestört. Wenn man es von hier aus betrachtet, was kann deiner Meinung nach dabei herauskommen?

Ja, es gibt einige Leute, die sagen, dass diese Pandemiesituation etwas Positives hat, weil die Menschen mit der Realität des Staates konfrontiert werden, aber das unterschätzt die Macht der Normalität. Ich glaube nicht, dass der Ansatz der Menschen so sehr darin besteht, „wie böse der Staat ist”, sondern eher darin, „dass wir zumindest dies oder jenes behalten, und jetzt können wir wieder dies oder jenes tun. Denn welche Alternative gibt es zu diesem Zeitpunkt? Die Menschen werden sich immer wieder auf das verlassen, was bereits vorhanden ist, denn es entsteht nichts Neues, das eine liebevolle Gesellschaft schafft, und die alten Strukturen und alten Ideen, die sie vielleicht mehr oder weniger mögen, aber von denen sie wissen, was sie ihnen geben, in gewisser Weise „tragen” sie sie, sie geben ihnen eine gewisse Sicherheit. Und das ist für mich die Hauptherausforderung der neuen Vorschläge, auch des demokratischen Konföderalismus.

Eine Alternative zu geben, ist einerseits etwas sehr Praktisches, in der Lage zu sein, Alternativen für Nahrung und Grundbedürfnisse zu schaffen, in die sich die Menschen und auch ihre Ideen einbringen, in denen sich die Menschen wiederfinden und ihnen ihre Bedürfnisse und Verantwortung füreinander begreiflich machen können, die sie dazu bringen können, Schritte zu unternehmen. Es geht darum, eine Antwort auf die dringenden Bedürfnisse zu geben, aber auch darum, eine Ideenmaschine zu sein, für die Verbreitung von Analysen, die erklären, wie es zu dieser Situation kam und sie sich entwickelt hat, und die Menschen zu einem gemeinsamen Punkt zu bringen, und dieser gemeinsame Punkt bedeutet auch, dass man wieder Vertrauen aufbauen muss, dass die Menschen wieder anfangen zu vertrauen, auch auf das und diejenigen, denen ihnen gelehrt wurde nicht zu vertrauen. Auch wieder in die Hoffnung zu vertrauen und sie zu schaffen, während man sie gibt. Das ist vielleicht das schwierigste Thema, denn man kann immer sagen, okay, das ist sinnlos, und diese Gruppen, diese Organisation, sie machen alles falsch, und es ist keine Veränderung möglich. Es gibt zu viele negative Gedanken zu allem, zu viele Vorurteile und Erwartungen. Es ist durch eine Logik, die „wissen” muss, der Sicherheitsknopf des „so war es immer” / „so ist der Mensch” / „man muss zu 100 Prozent logisch sicher sein, bevor man eine Entscheidung trifft”… usw. Denn das muss man im Kapitalismus, wenn man nicht alles verlieren will, was der Staat einem ermöglichen kann.

Rojava befindet sich inmitten einer wirtschaftlichen und humanitären Krise, eines Krieges, einer Besatzung und jetzt droht eine Pandemie, und der Widerstand hält an. Ist ständig zur Niederlage herausgefordert. Steht dies nicht im Gegensatz zur Linken in Europa, mit der Unmöglichkeit zu glauben, dass wir gewinnen können und nicht besiegt werden?

Nun, um ehrlich zu sein, muss man sehen, dass es Angst davor gibt, besiegt zu werden, aber man muss auch sehen, dass viele sich selbst bereits besiegt haben, in ihren Perspektiven, in ihren Alternativen, sehr subkulturell, sehr liberal, sehr wenig ehrlich, bereits besiegt in ihrer Mentalität … Keine Hoffnung, keine Träume, keine Kraft, sich zu verbinden,… oder zu viele abstrakte Gedanken, weit weg von der Realität der Gesellschaft, der Emotionen, der Bedürfnisse und der Menschen… Man muss sehen, dass wir alle an verschiedenen Punkten irgendwie besiegt sind, und dies zu verstehen bedeutet zu sagen: „Okay, es sind weitere Schritte nötig.”

Ich denke, es hat vor allem damit zu tun, unsere Methoden in Frage zu stellen. Es wird nicht in Frage gestellt, woher wir kommen und warum wir so sind, wie wir sind, und wenn man das nicht in Frage stellt, kann man nur das wiederholen, was man gelernt hat, worin man aufgewachsen ist. Es gibt Leute, die denken, es gibt die romantischen Revolutionäre, die sehen zum Beispiel in der Guerilla oder anderen kämpfenden Gruppen, in den Revolutionären, die kämpfen, Menschen, die dich grüßen, und du gibst alles dem Tod. Nun, es gibt eine Menge Leute, die das tun, aus vielen verschiedenen Gründen, sie gehen auch bis zum Ende, aber was bedeuten sie in deinem täglichen Leben? Die Werte, die – mit gutem Herzen – viele GenossInnen auch in schwierigen Situationen vertreten, sind doch die einer patriarchalen Denkweise, einer gewaltvollen Denkweise, manchmal sogar einer faschistischen Denkweise. Warum? Nicht weil sie schlechte Menschen sind, sondern weil sie nicht reflektieren, nicht analysieren. Sie haben gelernt, ignorant zu sein. Auf diese Weise werden sie einfach handeln, Entscheidungen treffen, entsprechend dieser Denkweise. Die Lösungen, die sie sehen, die Probleme, die sie sehen, alles im Rahmen dieser Denkweise. Das Ergebnis ihres Kampfes? Kämpfen, bis sie tot oder ausgebrannt sind oder den Kampf verlassen, um irgendwo im bestehenden System einen Platz zu finden. Und so funktioniert es nicht, wenn sie eine andere Welt und ein anderes System wollen, es wird nicht funktionieren.

Wenn wir hier über die Revolution nachdenken, denke ich, dass ein Punkt, den man im Auge behalten sollte, offensichtlich ist, dass es einen sehr, sehr konkreten Feind gibt, der uns auch auf sehr konkrete Weise bedroht, so dass die Dinge funktionieren, weil man ein praktisches Bedürfnis hat, sich zu verteidigen, aber ein anderer Punkt funktioniert aufgrund der Existenz einer starken organisierten Frauenbewegung. Denn auf allen Stufen und in allen Schichten der Gesellschaft gibt es Frauen, die Verantwortung übernehmen, die entsprechenden Analysen einführen und den Menschen Werkzeuge in die Hand geben. Warum ist das so? Warum ist das so wichtig? Weil eine der Analysen hier lautet, dass die Grundlage der „Zivilisation” und der modernen Gesellschaft eine patriarchale, staatlich geprägte, unterdrückerische Denkweise ist, was praktisch bedeutet, dass Frauen nicht für eine ernsthafte Existenz gehalten. Eine Gesellschaft mit dieser Realität ist ungesund, ungleich, missbrauchend, gewaltvoll, ausbeutend… Und dort anzusetzen, wo die Unterdrückung beginnt, ist der Hauptschlüssel für soziale Veränderungen und den Wiederaufbau der Werte einer holistischen Welt, eines holistischen Lebens und einer holistischen Gesellschaft.

In welchem Sinne?

Manchmal denken die Menschen an eine Revolution als BOOM! und danach ist alles anders. Aber es hat mehr mit kleinen Dingen zu tun. Ich denke an die Zeit vor 40 Jahren, als die erste Frau der Guerilla das Haus einer Familie betrat, und da ist dieses Mädchen, und da ist auch dieser Junge, die sie ansehen und denken: „Wow, so eine Frau habe ich noch nie gesehen! Eine Frau, die solche Dinge tut!”. Und das erzeugt einen Eindruck bei diesen Mädchen, von denen viele 20 Jahre später an dem Kampf teilnehmen, weil sie andere Vorbilder hatten, denen sie folgen konnten, andere Erklärungen und Gründen für die Probleme, die sie sahen/fühlten, sie sahen, dass andere Wege möglich sind, und sie beschlossen, sie zu beschreiten, anstatt sich dem Druck der Familie zu beugen … Und das sind Schritte, die die Menschen nicht sehen. Sie sagen: „Oh, seht euch die YPJ oder YPG mit den Waffen an! “, aber jede und jeder von ihnen hat bis zu diesem Punkt einen riesigen, langen und oft schmerzhaften Kampf geführt, besonders die Frauen. Und der Hauptkampf besteht nicht nur darin, eine Waffe zu haben, sondern diesen Weg, diese Entscheidung fortzusetzen. Der Hoffnung auf eine andere Realität folgend, während die Menschen, die man kennt, die Familie, in die man hineingeboren wurde, die Freunde, von denen man respektiert wird, einen nicht mehr unterstützen, weil ihre Traditionen und Grenzen nicht auf der Basis der Freiheit für eine ganze Gesellschaft stehen, sondern nur gefangen sind in der Verteidigung derer und dem Überleben für nur den kleinen „Clan”.

Jeder, der ihnen Identität gab, ihnen ein Zuhause, einen sicheren Raum unter ihren Regeln, feudal/patriarchal/kapitalistisch/faschistisch/was auch immer gewaltvoll regiert, kann sie angreifen. Aus diesen vergiftenden Verbindungen herauszukommen, ist für viele Menschen der schwerste Schritt. Sich selbst darin zu fordern und daran zu glauben und zu hoffen, wofür man kämpft, welche Art von Gegenwart und Zukunft wir brauchen, die Garantie, dass man nicht nur einer destruktiven „alles zerstören”-Denkweise folgt. Besonders in dem Moment, in dem man versteht, dass es wieder diese Menschen sind, für die man kämpft. Denn es geht um die Gesellschaft und um diejenigen, die miteinander verbunden sind. Nach einem langen Kampf darum, dazwischen, machst du weiter, wenn deine Freunde im Sterben liegen, wenn deine Gesellschaft ständig unter Embargo, unter Druck steht, wenn Besatzungen wie Afrin geschehen oder jetzt Serêkaniyê. Veränderungen geschehen durch diese Schritte, es gibt so viele schwere Geschichten hier, in jeder Familie, mit jedem Genossen und jeder Genossin. Die Schritte von allen bis heute führten zur Revolution und zu all den Veränderungen innerhalb der Gesellschaft und der Systemstruktur. Es ist also kein BUM, sondern ein alltäglicher Kampf, bei dem man sich klar machen muss, welche Werte man vertritt. Das ist revolutionär. Lebt die Hoffnung, die Veränderungen, die Werte, die ihr schaffen wollt, für eine liebevolle, demokratische, ökologische Gesellschaft, mit freien Frauen. Und die Entscheidung, all diese Werte unter allen Umständen zu verteidigen. Und um etwas zu verteidigen, braucht es Liebe, Werte, Unterstützung, Aufbau, Verantwortung, ein weites Herz und eine weite Denkweise. Mit all dem, als grundlegender und allgemeiner Ansatz, wenn wir dann bewaffnet kämpfen müssen, wie hier, die ganz praktische Verteidigung gegen eine Bedrohung wie Daesh/ den IS, den türkischen Staat oder irgendeinen faschistischen Staat, dann wird es ein revolutionärer Kampf sein. Wo der bewaffnete Kampf ein Schritt und nicht das Ziel ist.

Das Interview erschien zuerst auf Spanisch auf dem Blog Buen Camino