Alle Pfeile zeigen auf Ankara und Damaskus

Wirft man einen Blick auf die im Vorfeld abgehaltenen Treffen, die Vorbereitungs- und Planungsphase des Angriffs und die Ziele, wird deutlich, dass es sich bei dem fraglichen Anschlag in Hesekê nicht lediglich um eine ausgeklügelte Aktion des IS handelte.

Der IS-Angriff vom 20. Januar auf das Sina-Gefängnis in Hesekê, in dem rund fünftausend Gefangene festgehalten werden, hat weitreichende Auswirkungen. Selbst wenn diese groß angelegte Erstürmung von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) und den Kräften der inneren Sicherheit (Asayîş) vereitelt wurde, bleiben einige Fragen offen.

Während die QSD und Asayîş-Einheiten den IS-Angriff Stück für Stück zurückschlugen, haben sich mit jedem Schritt immer neue Hinweise auf den Hintergrund und die inneren sowie äußeren Verbindungen hervorgetan. Erste Erkenntnisse deuten auf den türkischen Staat und die syrische Regierung in Damaskus hin.

Wirft man einen Blick auf einige der im Vorfeld abgehaltenen Treffen, die Vorbereitungs- und Planungsphase des Angriffs und die Ziele, wird deutlich, dass es sich bei dem fraglichen Anschlag nicht lediglich um eine ausgeklügelte Aktion des IS handelte, sondern es eine ernsthafte multilaterale Zusammenarbeit mit äußeren Kräften gab. Einige der gewonnenen Erkenntnisse und die Situation vor Ort zeigen, dass der Anschlag von Ankara aus organisiert wurde.

Wie wurde die Erstürmung organisiert?

Aus den ersten Geständnissen der nach dem Anschlag gefangen genommenen IS-Mitglieder lässt sich ableiten, dass der Sturm auf das Sina-Gefängnis von langer Hand vorbereitet und in der türkischen Besatzungszone um Serêkaniyê (ar. Ras al-Ain) geplant wurde. Bereits Monate vor dem Anschlag haben sich IS-Mitglieder einzeln oder in kleinen Gruppen im Stadtteil Xiwêran (Ghweiran), wo sich das Haftzentrum befindet, niedergelassen und dort die ersten Vorbereitungen ins Rollen gebracht.

Nach vorliegenden Informationen erstreckte sich die Vorbereitungszeit für den Anschlag über einen Zeitraum von sieben bis acht Monaten. Laut dem Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, stellte der Angriff sogar mehr als ein Jahr lang eine der obersten Prioritäten des IS dar. Denn unter den Insassen dieser Haftanstalt befinden sich hochrangige IS-Führer.

Schläferzellen aus Syrien und Irak

Als IS-Überbleibsel unter türkischer Ägide weiter existent, gingen diese in Xiwêran eingeschleusten Schläferzellen weitestgehend unbehelligt verschiedenen Tätigkeiten nach. Munition und Waffen wurden über unterschiedliche Kanäle geliefert. Laut einer vorläufigen QSD-Bilanz quartierten sich insgesamt etwa 200 Dschihadisten aus Serêkaniyê, Girê Spî (Tall Abyad) und dem irakischen Ramadi im Stadtteil Xiwêran und dem direkten Umland des Gefängnisses ein.

Großteil der Häftlinge aus dem Ausland

Innerhalb des Haftzentrums begannen einige der Häftlinge ebenfalls, Vorbereitungen für die Befreiungsaktion zu treffen. Die IS-Gefangenen, die schon zuvor mehrmals eine „Meuterei“ losgetreten hatten, waren vor dem bevorstehenden Angriff in Bereitschaft versetzt worden. Bei einem erheblichen Teil der etwa fünftausend Insassen dieses Haftzentrums handelt es sich um „Muhadschirat“ – Auswanderer, wie sich die ausländischen IS-Anhänger nennen. Viele von ihnen sind Personen, die vor ihrer Verhaftung zum militärischen Flügel des IS gehörten.

Der Anschlag

Nach dem Angriffsbefehl wurde zunächst ein mit Sprengstoff präpariertes Fahrzeug an der Xiwêran-Kreuzung zur Explosion gebracht. Die Detonation erfolgte in direkter Näher mehrerer Dieselfässer, wodurch die Intensität der Explosion um ein Vielfaches verstärkt wurde. In der Folge wurde die Hauptstraße, über die Sicherheitskräfte zum Gefängnis hätten gelangen können, blockiert. Etwa zeitgleich wurde eine weitere Fahrzeugbombe in der Nähe des Gefängnistors und des Gebäudes der Erka Xweparastin (Selbstverteidigungskräfte) gesprengt, um ein Eingreifen von dort aus zu verhindern.

Zivilisten als Geiseln genommen

Nach den Explosionen traten die zuvor in den Wohnvierteln von Xiwêran angesiedelten Schläferzellen in Aktion, und an einigen Orten wurden Zivilisten als Geiseln genommen. Die Angreifer hatten es jedoch nicht auf das Tor des Gefängnisses abgesehen. Sie starteten die Erstürmung in der angrenzenden Nachbarschaft. Das Eindringen in das Haftzentrum gelang schließlich über die Gefängnismauern, die zuvor von schweren Baumaschinen demoliert wurden. Umgehend wurden an die warteten IS-Gefangenen Waffen verteilt. Einige Mitarbeiter des Personals gerieten in Gefangenschaft.

Belagerungsring verhindert Ausweitung der Angriffsfläche

Die Asayîş und die QSD haben umgehend auf die Bedrohung reagiert und zum Schutz der Zivilbevölkerung sowohl Xiwêran als auch Heyî Zihur abgeriegelt. Durch einen breiten Sicherheitskorridor wurden Wohngebiete vom Sina-Gefängnis abgetrennt. Während einerseits ein Belagerungsring gezogen und dadurch eine Ausweitung der Angriffsfläche verhindert wurde, konnten andererseits die Bewohnerinnen und Bewohner der angrenzenden Nachbarschaft evakuiert und in Sicherheit gebracht werden.

In den ersten vier Tagen der Kämpfe wurden mehr als 200 IS-Mitglieder, davon etwa 150 Attentäter von Schläferzellen, getötet und einige hundert flüchtige Gefangene wieder gefasst. Die QSD und die Kräfte der inneren Sicherheit dämmten die Bedrohung durch die IS-Schläfer mittels punktgenauer Operationen und Präzisionsangriffen ein.

Alle Pfeile zeigen auf Ankara und Damaskus

Die Einzelheiten dieses massiven IS-Anschlags in Hesekê werden mit dem Voranschreiten der Operation bekannt werden, aber die wichtigste Frage ist, wer der Drahtzieher des Angriffs war. Bisher zeigen alle Pfeile auf Ankara und Damaskus.

Nach den vorliegenden Informationen sollte die Erstürmung des Sina-Gefängnisses ursprünglich im letzten Oktober oder November durchgeführt werden. Zu dieser Zeit bereitete sich die Türkei auf eine neue Invasion in Nord- und Ostsyrien vor und zog weitere Truppen in der Region zusammen. Im Oktober traf sich Erdoğan zunächst mit US-Präsident Joe Biden und anschließend mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Grünes Licht für eine weitere Besatzungsoffensive bekam er jedoch nicht.

Vereitelter Befreiungsversuch

In einer Phase, in der die Türkei in Moskau und Washington um die Zustimmung für eine Invasion warb, führten die QSD in Nordostsyrien eine Reihe wichtiger Operationen durch und setzten mehrere Mitglieder von IS-Zellen fest. Im Zuge der Ermittlungen wurde relativ schnell auch ein führender Kopf der Dschihadistenmiliz verhaftet, der zuständig war für diejenige IS-Zelle, die 2021 den vereitelten Überfall auf das Gefängnis in Hesekê ausführen sollte.

IS und Türkei greifen zeitgleich an

Scheiterte die erste Befreiungsaktion mit der Ergreifung der hierfür rekrutierten Attentäter zunächst, wurde die versuchte Erstürmung des Gefängnisses nun mit etwas Verspätung doch noch umgesetzt. In den ersten Momenten des Anschlags in Hesekê wurden auch die türkische Armee und ihre Proxy-Truppen in der Besatzungszone aktiviert. Die Artillerieangriffe auf Zirgan (Abu Rasen), Til Temir und Ain Issa fanden zeitgleich mit der versuchten Gefangenenbefreiung statt.

Der türkische Staat, der den IS von innen heraus mobilisierte, positionierte seine Truppen entlang der Linie von Zirgan, Til Temir und Ain Issa und führte Luft- und Bodenangriffe durch. Insbesondere die zuvor in den Norden von Til Temir verlegten Truppenkontingente wurde bereitgehalten, um den IS-Angriff in Hesekê zu unterstützen.

Syrisches Regime an Angriff beteiligt

Einige der bisher gewonnenen Erkenntnisse deuten gleichermaßen auf die syrische Regierung in Damaskus hin. Die außergewöhnlichen militärischen Aktivitäten der Regimekräfte in Hesekê vor dem Angriff und die Verleumdungskampagne gegen die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens und die QSD durch regimetreue Medien erinnern an die jüngste Annäherung zwischen den türkischen (MIT) und syrischen (Mukhabarat) Geheimdiensten.

Treffen in Jordanien

Am 30. Dezember berichteten türkische Medien, dass es in der jordanischen Stadt Akaba Gespräche zwischen dem MIT und Mukhabarat gegeben hat. Auf der Agenda des Treffens standen demnach „gemeinsame Operationen in Nordostsyrien“, „eine türkische Militäroperation in einer Tiefe von 35 Kilometern durch Überarbeitung des Adana-Abkommens“, „der Aufstand der Stämme in Deir ez-Zor, Raqqa und Hesekê“, „die Freilassung der Gefangenen in den Haftzentren“ und „der Wiederaufbau von Aleppo“. Es wurde behauptet, dass Russland und Syrien den türkischen Forderungen entgegengekommen seien.

17. Runde der Astana-Gespräche

Nur eine Woche vor diesen Meldungen hieß es in der gemeinsamen Erklärung des letzten Astana-Treffens zwischen Russland, Iran und Türkei vom 22. Dezember 2021, dass die Parteien übereingekommen seien, sich „separatistischen Aktivitäten, die die nationale Sicherheit der Nachbarländer östlich des Euphrat bedrohen“, und der „illegalen Aneignung der syrischen Öleinnahmen“ entgegenzustellen. Aus diesen diplomatischen Wortspielen lassen sich die Pläne gegen die Region herauslesen.

Koordinierter Angriff aus Norden und Süden?

Laut einigen Kreisen wäre es sicherlich keine Spekulation anzunehmen, dass der türkische Staat nördlich von Til Temir den ersten Schritt für eine Großoffensive gesetzt hätte, während das syrische Regime vom Süden kommend Richtung Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor aufmarschiert wäre, wenn die Erstürmung des Gefängnisses in Hesekê Erfolg gehabt hätte. Der IS hätte in der Folge ein schweres Massaker verübt. Dieses Szenario entspräche auch dem Inhalt des Treffens zwischen den Geheimdiensten MIT und Mukhabarat.

Bisherige Auswertungen sprechen für sich

Die Auswertung der bisherigen Erkenntnisse aus Nato-Waffen mit türkischer Seriennummer, Telefonaten von inhaftierten IS-Mitgliedern mit Gesprächspartnern in der Türkei, Geständnissen der gefangenen Attentäter und ihrem misslungenen Plan, sich in die Besatzungszone Serêkaniyê abzusetzen, neu ausgestellten syrischen Ausweisen für Mitglieder der Schläferzellen, der Aktivität des syrischen Regimes in der Region – all dies deutet darauf hin, dass Ankara und Damaskus hinter der geplanten Erstürmung des Gefängnisses in Hesekê stecken. Es ist anzunehmen, dass in den nächsten Tagen weitere Informationen, Erkenntnisse und Dokumente an die Öffentlichkeit gelangen.

QSD vereiteln schmutzige Pläne

Die QSD haben den Anschlag von Hesekê weitgehend vereitelt und damit nicht nur dem IS einen erneuten und empfindlichen Schlag versetzt, sondern auch den Regimen in Ankara und Damaskus. Auch wenn das hauptsächliche Ziel dieser Akteure die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien und die QSD sind, hat sich herauskristallisiert, dass auch die USA und die globale Anti-IS-Koalition im Visier liegen.

Nicht der erste und letzte Angriff

Die Selbstverwaltung von Nordostsyrien und die QSD haben in den elf Jahren der Syrien-Krise eine Vielzahl organisierter Angriffe abgewehrt und dabei reichlich an militärischen Erfahrungen sammeln können. Es ist jedoch mehr als wahrscheinlich, dass es auch in der kommenden Zeit zu ähnlichen Angriffen kommen wird. Der Anschlag von Hesekê war nicht der erste dieser Art und wird auch nicht der letzte bleiben.