Al-Shabili: Der militärische Sieg über den IS reicht nicht aus

In den vergangenen Tagen haben sich etwa 2000 IS-Mitglieder in Ostsyrien den QSD ergeben. Die endgültige militärische Niederlage des IS steht bevor. Für die Selbstverwaltung von Nordostsyrien geht der Kampf gegen die vom IS verbreitete Kultur weiter.

Der „Islamische Staat“ ist militärisch besiegt. Die letzten Einheiten im Dorf al-Bagouz sind von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) umstellt. In der ostsyrischen Wüste nahe der Grenze zum Irak spielen sich unglaubliche Szenen ab. Die Dschihadisten, die 2014 Teile des Irak und Syriens mit äußerst brutaler Gewalt besetzten und deren Vormarsch in den Medien als „unaufhaltsam“ beschrieben wurde, ergeben sich in langen Reihen mit erhobenen Händen den QSD. Vor viereinhalb Jahren, nach dem Überfall auf das ezidische Siedlungsgebiet Şengal in Südkurdistan, gingen die Bilder um die Welt, wie in Ketten gelegte Ezidinnen auf Sklavenmärkten verkauft wurden. Aus den Berichten der Ezidinnen geht hervor, dass einige von ihnen zehn Mal weiterverkauft wurden. Die bärtigen Täter, die al-Bagouz in den letzten Tagen verlassen, stehen jetzt vor den Kämpferinnen der YPJ, die Teil des Militärverbands QSD sind.

Nach jüngsten Zahlen haben sich bisher etwa 2000 Dschihadisten ergeben. Sie werden verhört und in Gefängnisse überführt. Frauen und Kinder werden von der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Lagern untergebracht. Die QSD arbeiten unermüdlich daran, die letzten Zivilisten aus dem Kampfgebiet zu evakuieren.

Ferhad al-Shibili ist stellvertretender Vorsitzender der Demokratisch-Autonomen Leitung von Nord- und Ostsyrien. Er weist darauf hin, dass die militärische Niederlage des IS mit dem Kampf um Kobanê im Jahr 2014 begonnen hat. Der Kampf gegen die Hinterlassenschaften des IS ist seiner Ansicht nach noch lange nicht vorbei.

„Im Moment findet die letzte Phase im Kampf gegen die militärische Existenz des IS und sein selbstdeklariertes Kalifat statt. Militärisch wird er in Kürze vernichtet sein. In den kommenden Tagen ist eine entsprechende Erklärung der QSD zu erwarten. Die gesamte Menschheit wartet auf diesen Tag, aber vor allem sind es die Menschen in Rojava, in Şengal und in allen vier Teilen Kurdistans. Niemand hat erwartet, dass eines Tages der Sieg über den IS verkündet werden wird. Jetzt bewegen wir uns jedoch darauf zu.

Es ist allgemein bekannt, dass dieser Sieg einem von den Kurden angeführten Bündnis der Völker Nordostsyrien – Turkmenen, Araber, Suryoye – zu verdanken ist. Die grausamen, barbarischen und terroristischen Angriffe des IS galten nicht nur den Kurden, sondern allen Völkern der Region. Alle haben unter der unvorstellbaren Grausamkeit des IS gelitten. Daher warten alle voller Aufregung und Hoffnung auf den Sieg.

Der lähmenden Angst ein Ende bereitet

Die ersten Schritte zu diesem Sieg wurden in dem legendären Kampf um Kobanê gesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt befand sich der IS mit seinen Unterstützern und Kollaborateuren in Angriffsposition. Unterstützt von regionalen und internationalen Kräften hatte sich der IS zu einem Imperium der Angst entwickelt. Wo er auftauchte, ließen die Menschen alles stehen und liegen, um nur noch zu flüchten. Das taten nicht nur die Zivilisten, sondern auch bewaffnete Kräfte. Wenn der IS irgendwo angriff, hieß es, dass alles verloren und Widerstand zwecklos sei. Und genau in dieser Zeit haben unsere kurdischen Geschwister in Kobanê einen legendären Widerstand geleistet. Die Heldinnen und Helden von Kobanê haben den Siegeszug des IS gestoppt. Damit haben sie gleichzeitig der lähmenden Angst ein Ende bereitet, den die IS-Barbarei bei den Menschen ausgelöst hat. Mit Kobanê ist die Hoffnung entstanden, dass der Widerstand gegen den IS Erfolg haben kann.

Nach dem Sieg von Kobanê wurde Girê Spî befreit. Nach der Befreiung von Girê Spî hat sich die Bevölkerung von Minbic (Manbidsch) organisiert und gemeinsam mit den YPG/YPJ die Stadt befreit. Nach Minbic schlossen sich Menschen aus Tabqa und Raqqa massenweise den QSD an und die IS-Hauptstadt Raqqa konnte befreit werden. Und jetzt steht die gänzliche Befreiung von Deir ez-Zor bevor.

Die Pläne der Türkei

Nach der ersten Niederlage des IS in Kobanê haben die internationalen und regionalen Kräfte damit begonnen, neue Pläne für Syrien zu entwerfen. Als die militärische Niederlage des IS immer absehbarer wurde, wurden auch diese Pläne eindeutiger.

Der gefährlichste und aggressivste Plan war der auf eine Besatzung abzielende Plan der Türkei, in den auch dschihadistisch-terroristische Gruppierungen einbezogen wurden. Er beinhaltete die Mobilisierung von Schläferzellen des IS für Angriffe. Zusätzlich entstanden Gruppierungen unter anderen Namen, die zwar zum IS gehörten, sich jedoch anders darstellten. Die Türkei arbeitete daran, diese Gruppen zu stärken und an die Stelle des IS zu setzen. All diese Gruppen werden weltweit als terroristisch betrachtet, aber die Türkei hält offen an ihnen fest. Auch die Besatzung von Efrîn wurde mit diesen Gruppen bewerkstelligt.

Die Beziehungen zur Türkei hinterfragen

Die IS-Mitglieder, die gefangengenommen worden sind oder sich ergeben haben, haben sehr wichtige Aussagen über die Unterstützung der Türkei für den IS gemacht. Es liegen eindeutige Informationen und Belege über diese Unterstützung vor. Dschihadisten aus aller Welt sind in die Türkei gekommen, haben sich dort eine Zeitlang aufgehalten und sind dann ohne Probleme über die Grenze nach Syrien gegangen. Die IS-Mitglieder und ihre Ehefrauen haben in allen Einzelheiten ausgesagt, woher sie auf welchem Weg gekommen sind. Wir gehen davon aus, dass die internationalen Kräfte nach der militärischen Niederlage des IS und der dokumentierten Offenlegung der von der Türkei geleisteten Unterstützung für den IS ihre Augen nicht länger verschließen werden. Damit einhergehend denken wir, dass ein neuer Prozess einsetzen wird, in dem die Beziehungen zur Türkei hinterfragt werden.

Der IS ist ein internationales Problem

Vor der jetzigen Offensive in Deir ez-Zor hatten wir zwischen 800 und 1000 IS-Gefangene aus 46 Ländern. Dazu kommen ungefähr 800 Ehefrauen und über 1500 Kinder. Diese Zahl hat sich in den vergangenen Tagen stark erhöht.

Das IS-Problem geht nicht nur Nordostsyrien und Syrien etwas an. Es handelt sich um ein internationales Problem. Dschihadisten aus der ganzen Welt haben sich dem IS angeschlossen. Sie haben Straftaten begangen und vom IS eine barbarische und grausame Kultur angenommen. Sie sind wie explosionsbereite Bomben oder Minen. Daher stellen sie eine Gefahr für die Region und die ganze Welt dar. Wir haben zu verschiedenen Zeiten die Herkunftsstaaten aufgefordert, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Bis jetzt haben wir leider noch keine ernsthafte Antwort auf unseren Aufruf erhalten. Die internationalen Kräfte und die Herkunftsländer der in unserer Gefangenschaft befindlichen IS-Mitglieder müssen eine Lösung finden. Sie müssen ihre Staatsangehörigen zurückführen und vor Gericht stellen oder es muss ein international anerkanntes Gericht in Nordostsyrien installiert werden. Wir allein können die Verantwortung für diese Personen nicht tragen. Wir haben nicht genügend Gefängnisse für diese große Anzahl an Gefangenen. Für die Frauen und Kinder, die wir nicht ins Gefängnis stecken können, sind gesonderte Camps notwendig. In diesen Camps muss für die Sicherheit gesorgt werden, sie müssen unter Kontrolle gehalten werden. Bei längeren Aufenthalten in den Camps entstehen wieder neue Probleme. All das muss bedacht werden. Außerdem entstehen dabei hohe Kosten, die wir nicht bewältigen können. Das sind offene Fragen, die auf eine Antwort warten. Wir sind der Meinung, dass auf internationaler Ebene eine Lösung gefunden werden muss. Das ist nicht nur eine Meinung, sondern gleichzeitig eine Forderung. Wir fordern die Länder auf, ihre bei uns befindlichen Staatsbürger zurückzunehmen.

Unter den IS-Gefangenen waren viele, die aus Russland stammen. Russland hat sie unverzüglich und in offizieller Form zurückgeführt. Diese Eile hat natürlich Fragen aufgeworfen. Hat Russland seine Dschihadisten zurückgenommen, damit seine Beziehungen zum IS nicht auffliegen? Oder sollen sie vielleicht an einem anderen Ort eingesetzt werden?

Das Modell der demokratischen Nation gegen die IS-Barbarei

Nach der militärischen Niederlage des IS geht der Kampf weiter. Das militärische Ende bedeutet nicht, dass es mit dem IS vorbei ist. In militärischer Hinsicht hat der IS überall Schläferzellen hinterlassen, diese Zellen existieren weiter. Außerdem gibt es eine Kultur, die der IS überall verbreitet hat. Es gibt Kreise, die ideologisch vom IS beeinflusst sind. Der IS hat zwischen den Völkern eine Kultur der Feindschaft ins Leben gerufen. Es ist eine Kultur der Unterdrückung und Grausamkeit verbreitet worden. Gegen all das muss ernsthaft weiter gekämpft werden. Darüber hinaus gibt es eine große Anzahl Menschen, die keine Schuld trifft, aber vom IS beeinflusst sind. Auch für diese Menschen müssen wir etwas tun. Seit 2012 arbeiten wir am Aufbau des Systems einer demokratischen Nation. Dieses System beinhaltet Demokratie, die Geschwisterlichkeit der Völker und ein friedliches Zusammenleben in gegenseitigem Respekt. In unserem System soll jedes Volk, jede Kultur und jede Gruppe mit der eigenen Geschichte, Kultur und Identität vertreten sein. Nur mit einem solchen System können der IS und seine Unterstützer bekämpft werden.“