An diesem Dienstag, dem 25. April, wird zum dritten Mal der Gedenktag für die Gefallenen von Nord- und Ostsyrien begangen. Die Autonomieverwaltung (AANES) hatte 2021 die Einführung des Gedenktags und dessen jährliche Begehung beschlossen. Das Datum markiert einen tiefen Einschnitt in die Revolution von Rojava, denn an diesem Tag im Jahr 2017 bombardierte die türkische Luftwaffe das auf dem Berg Qereçox bei Dêrik liegende Hauptquartier der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ). Vierzehn Kämpferinnen und sechs Kämpfer kamen ums Leben, achtzehn weitere wurden teils schwer verletzt.
26 Kampfjets bombardieren Qereçox
Der Berg Qereçox befindet sich im Dreiländereck Syrien-Irak-Türkei und ist von strategischer Bedeutung. Früher war er Treffpunkt von Handelskarawanen, 1956 fand hier die erste Erdölbohrung in Syrien statt. Für den Angriff am 25. April 2017 drangen um etwa 2 Uhr in der Nacht mehr als zwei Dutzend Kampfbomber der türkischen Luftwaffe in den von der internationalen Koalition gegen den IS kontrollierten syrischen Luftraum ein. Das Ziel war ein Geländekomplex, auf dem neben dem Hauptquartier der Generalkommandanturen von YPG und YPJ auch das Gebäude des Pressezentrums, der Radiosender Dengê Rojava, eine Druckerei sowie weitere militärische Einrichtungen untergebracht waren.
Untersuchung des Angriffsortes am Tag danach | ANF
Drei der Qereçox-Gefallenen von der Medien-Arbeit
Bereits in den Anfangsjahren der Revolution von Rojava spielte das Gelände auf dem Qereçox in Sachen Verteidigung eine wichtige Rolle. Die Selbstschutzeinheiten „Yekinêyên Xweparastina Gel“ (YXG), die im Jahr 2011 kurz nach dem Aufkommen des „Arabischen Frühlings“ in Syrien konspirativ gegründet worden waren, nutzen es für ihre militärische Ausbildung. Nach der Umstrukturierung der YXG zu den YPG entstand auf dem Qereçox Ende 2013 das Hauptquartier des Kampfverbands. Einige Monate zuvor hatte eine Gruppe kurdischer Studierender den Radiosender Rojava FM dort gegründet. Die Radiostation wurde später in das Pressezentrum der YPG umgewandelt. Drei der Gefallenen vom 25. April waren Mitarbeitende dieser Einrichtung.
Zeitgleiche Luftschläge in Şengal
Zeitgleich zu den Angriffen gegen die YPG und YPJ in Rojava flogen türkische Kampfjets auch Luftschläge auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal auf der anderen Seite der Grenze. Bis zu fünfzehn Bombeneinschläge wurden in der Nähe mehrerer Flüchtlingslager, in denen sich seit August 2014 tausende Überlebende des vom IS in der Region verübten Genozids und Femizids aufhielten, bis vier Uhr morgens verzeichnet. Dabei wurden fünf Peschmerga-Kämpfer der südkurdischen Autonomieregierung getötet. Es handelte sich um die ersten Luftangriffe der Türkei auf Şengal.
Ein Helfer beobachtet Hubschrauber der Koalition über dem Qereçox | ANF
Entlastungsangriff für den unter Druck geratenen IS
In Nord- und Ostsyrien, aber auch international wurden die von Recep Tayyip Erdoğan befehligten Luftschläge auf Rojava und Şengal als Entlastungsangriff für den unter Druck geratenen Verbündeten, die Terrororganisation „Islamischer Staat” (IS), gewertet. Die Kämpfe gegen die Dschihadisten hatten an Intensität gewonnen – die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) waren mit ihrer Befreiungsoffensive „Zorn des Euphrats” auf dem Vormarsch und standen im April 2017 vor den äußeren Stadtgrenzen von Raqqa, der „Hauptstadt“ des selbsternannten IS-Kalifats, im Irak lief noch die Großoffensive zur Rückeroberung von Mossul. Erdoğan selbst stand innenpolitisch unter Druck – durch den knappen und von Wahlfälschungsvorwürfen begleiteten Ausgang seines Verfassungsreferendums, in dem beschlossen wurde, nach der zusammengelegten Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Jahr darauf die Regierungsform in ein Präsidialsystem und damit in das Ein-Mann-Regime umzuwandeln.
Marsch auf den Qereçox | ANF
Türkische Rechtfertigung: „Kampf gegen den [kurdischen] Terror“
So wunderte es nicht, dass die Türkei die Luftangriffe vom 25. April 2017 mit ihrem „Kampf gegen den [kurdischen] Terror“ rechtfertigte – und einmal mehr auf die nationalistische Karte setzte. Es seien Luftangriffe „auf die PKK und die Verlängerungen dieser Organisation in Syrien und im Irak“ geflogen worden, behauptete die Regierung in Ankara. Ziel sei die „Zerstörung dieser Terrornester“ in Nordostsyrien und im Nordirak gewesen, man habe die Ziele präzise getroffen. Von den angegriffenen Regionen aus kämen „Terroristen“ in die Türkei und brächten Waffen und Sprengstoff ins Land, die dann bei Anschlägen im Land eingesetzt würden. Das Ausspielen der antikurdischen Terror-Karte gehört seit jeher zur geopolitischen Strategie Erdoğans.
Muslim: „Die Türkei attackiert diejenigen, die gegen die Terroristen kämpfen“
Salih Muslim, damals wie heute Ko-Vorsitzender der Partei der demokratischen Einheit (PYD), warf der Türkei vor, Terroristen zu unterstützen. „Anstatt den IS anzugreifen, attackiert die Türkei diejenigen, die gegen die Terroristen kämpfen“, sagte er damals den Medien. Erdoğan gab an, dass die USA, Russland und die südkurdische Regierung im Vorfeld der Luftschläge in Kenntnis gesetzt worden seien. Aus Washington hieß es, die Luftangriffe seien ohne Zustimmung der USA und der US-geführten internationalen Anti-IS-Allianz erfolgt, zu deren Mitgliedern paradoxerweise auch die Türkei gehört – und deren Hauptverbündete in Syrien die QSD sind.
Beseitigung der Trümmer | ANF
Die Luftschläge von damals stellten eine neue Eskalationsstufe im Konflikt zwischen dem türkischen Staat und „den Kurden“ dar. Es drohte eine Konfrontation mit unabsehbaren Konsequenzen, da die QSD in Erwägung zogen, die Operation „Zorn des Euphrats” zur Befreiung von Raqqa abzubrechen. Die Türkei sorgte in den nächsten Tagen für weitere Spannungen und griff vom 26. bis zum 28. April YPG-Stellungen und Dörfer in Dirbêsiyê, Efrîn und Amûdê an, die dadurch provozierten Zusammenstöße führten zu dutzenden Opfern.
Die Gefallenen vom Qereçox. Bis heute hat Nord- und Ostsyrien mehr als 11.000 Gefallene im Kampf gegen Terror und Besatzung zu verzeichnen. Hinzu kommen weit über 20.000 Kriegsversehrte.