Salih Muslim: Wir wollen keine Feindschaft, sondern eine Lösung

Dass es bisher nicht zu einer politischen Lösung für Syrien gekommen ist, liegt mitunter auch daran, dass die Selbstverwaltung von den Verhandlungen ausgeschlossen wurde, sagt der PYD-Politiker Salih Muslim und äußert sich zur derzeitigen Lage im Land.

Lage in Syrien

Seit dem 27. November hat sich die Lage in Syrien schlagartig verändert. In einem raschen Vormarsch hat der Al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) einen großen Teil Syriens erobert und steht bereits in Damaskus. Hinter der Offensive steht die Türkei, deren dschihadistische Proxy-Truppe „Syrische Nationalarmee“ (SNA) die Einnahme von Aleppo unterstützt hat und sich anschließend gegen die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) wandte. Inzwischen ist der Kanton Efrîn-Şehba zerschlagen; zehntausende Menschen sind auf der Flucht. Währenddessen halten sich die selbstverwalteten Viertel Şêxmeqsûd und Eşrefiyê im von HTS besetzten Aleppo. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) haben bei Verhandlungen offenbar erreicht, dass die Dschihadistenallianz nicht gegen die kurdischen Stadtteile vorgeht. Dies dürfte die Türkei schwer verärgert haben. Ob HTS dauerhaft von der türkischen Agenda abgewichen ist, bleibt abzuwarten. Der kurdische Politiker Salih Muslim (PYD) gibt im ANF-Interview eine Einschätzung zu den aktuellen Entwicklungen.

Was bedeutet die mit dem Angriff auf Aleppo am 27. November eingetretene neue Situation für Syrien?

Diese Angriffe werden von HTS, früher al-Nusra genannt, durchgeführt. Auch die SNA war oder ist an der Offensive beteiligt. HTS ist organisiert und diszipliniert, bei der sogenannten SNA dagegen handelt es sich um eine vom türkischen Staat geschaffene Söldnertruppe, die vom Kurdenhass gespeist wird. Sie erhält ihre Befehle aus Ankara. Innerhalb der SNA gibt es viele Gruppierungen, bei denen es sich ausnahmslos um kriminelle Banden handelt. Kurzum; den Angriff haben SNA und HTS gemeinsam gestartet, kontrolliert und angeführt wird er aber von letzterer.

Wie verlaufen die Konfliktlinien, werden neue Allianzen gebildet?

Russland, die Hisbollah und der Iran bilden eine Front. Auf der anderen Seite steht die HTS, die über gute Beziehungen zum türkischen Staat verfügt. Und dann gibt es noch uns, also die Dynamiken Syriens, die unter dem Dach der Selbstverwaltung agieren.

Besteht unter den derzeitigen Umständen die Möglichkeit, dass der IS in der Region ebenfalls aktiver wird?

Selbstverständlich. Sobald die Offensive startete, setzten auch schon die IS-Attacken ein. Der IS hat Dörfer und Gebiete im Osten von Homs unter seine Kontrolle gebracht und weitet auch andernorts seinen Einflussbereich aus. In den Wüstenregionen war er ohnehin präsent. Da sich diese Gebiete direkt an der Grenze zur Autonomieregion befinden, stellt der IS eine direkte Bedrohung für uns dar. Unsere Kräfte werden sich in dieser Situation bis Deir ez-Zor ausbreiten.

Wenn die Waage in die Richtung der Bildung einer neuen Regierung in Syrien verlagert, wird HTS eine entsprechende Position einnehmen? Hat sich ihre Sicht auf HTS verändert?

Seit Beginn des Syrienkrieges haben alle immer wieder von einer politischen Lösung gesprochen. Die Kurdinnen und Kurden wurden aus den Gesprächen für eine solche Lösung herausgehalten, weil der türkische Staat die Führungsrolle innehatte. Es konnte keine Lösung gefunden werden, weil man sich mit uns nicht an einen Tisch setzen wollte. Jetzt ändert sich die Situation. Die HTS äußert sich anders. Wenn sich HTS in der Praxis ändert und nicht mehr unter dem Kommando des türkischen Staates steht, können wir miteinander reden und verhandeln. HTS spricht von Einheit und sagt, man habe aus den Fehlern von 2012 oder der Vergangenheit gelernt; propagiert ein Syrien mit unterschiedlichen Identitäten, sowohl in religiöser als auch in ethnischer Hinsicht. Nach den meisten Interpretationen und Einschätzungen wird ein föderales System aus drei Regionen für Syrien angestrebt. Es ist die Rede von einer föderalen Struktur, die aus einer sunnitischen Region im Westen, einer kurdischen Region im Osten und einer aus den Regimegebieten bestehenden Region geschaffen werden soll. Ich weiß nicht, inwieweit es verwirklicht wird, aber es ist klar, dass nun definitiv eine neue Ära eingeleitet werden wird.

Gibt es Gespräche oder Kontakte zwischen Ihnen und HTS? 

Es gibt einige Gespräche über Vermittler und die Koalition. Wir hatten Kontakte in Aleppo, um Gefechte in den kurdischen Vierteln zu verhindern. Es gibt solche Kontakte und sie sagen, dass sie nicht die Absicht haben, uns anzugreifen, aber wir wissen nicht, was in Zukunft passieren wird.

Laut verschiedenen Meinungen seien die Dschihadisten-Offensiven durch Syrien auf die Schwächung des Irans und Russlands zurückzuführen. Es wird auch behauptet, dass es ein internationales Abkommen gebe, an dem Russland beteiligt sein soll. Was denken Sie, ist passiert? 

Ich denke, es ist hier von einem gut vorbereiteten Plan zu sprechen. Sobald der Gaza-Krieg begann, sagte jeder voraus, dass neue Entwicklungen folgen werden. Es ist der Beginn der Errichtung des sogenannten Greater Middle East Project. Dieses Projekt wird umgesetzt. Die Gleichgewichte im neuen Nahen Osten werden sich ändern. Ich denke, die jüngsten Entwicklungen zeigen dies. Israel hat der HAMAS und der Hisbollah schwere Schläge versetzt. Es hat den Libanon umgestaltet. Jetzt soll Syrien umgestaltet werden.

Welchen Einfluss hat Israel auf die aktuellen Entwicklungen in Syrien?

Es geht nicht um direkten Einfluss, sondern Israel als Großmacht. So ist zum Beispiel die Schwächung der Hisbollah die Ursache dafür, dass Aleppo gefallen ist. Das ist das Ergebnis der Angriffe Israels. Ob man will oder nicht, es gibt die Angriffe und die aktuelle Situation stehen miteinander in Verbindung.

Wenn man an Syrien denkt, dann fallen einem gleich zwei weitere Mächte ein: Iran und Russland. Wie sehen Sie deren Position?

Der Iran hat immer von Expansion und islamischer Eroberung gesprochen. Ich denke aber, dass er sich jetzt etwas nach innen kehrt.

Und Russland?

Ich kann es nicht sagen, aber es bringt hohe Kosten mit sich, wenn sich Russland hinstellt und für andere kämpft. Russland steht mit der Ukraine ohnehin bereits unter großem Druck. Russland wird sicherlich gezwungen sein, aufgrund der türkischen Erpressungspolitik seine Beziehungen zu diesem Land zu überprüfen.

Was sind Ihrer Meinung nach die Pläne der USA?

Die USA verfolgen ihr Greater Middle East Project. Das ist ein Projekt der NATO, bei dem die USA federführend sind.

Wie werden sich die Beziehungen der Selbstverwaltung zu den USA und Russland vor dem Hintergrund der veränderten Situation gestalten? 

Wie sich diese Beziehungen entwickeln, hängt von der Haltung dieser Staaten ab. Es gibt einige Tatsachen, die man feststellen muss: Bis jetzt wurde keine Lösung für Syrien gefunden, weil die Kurden von jeder Debatte um eine Lösung ferngehalten wurden. Jetzt sind sie dazu gezwungen, die Kurden bei der Lösung zu berücksichtigen. Außerdem hat man erkannt, dass die kurdische Frage ein Problem des gesamten Nahen Ostens ist. Ohne die Lösung der kurdischen Frage können die Probleme im Nahen Osten nicht beseitigt werden. Alle haben verstanden, dass es zwingend notwendig ist, diese Frage zu lösen. Die Selbstverwaltung ist Partei und Teil der Lösung. Feindseligkeit weiter zu pflegen, wäre nichts anderes als Realitätsverweigerung. Die Kurden in Syrien sehen sich als Teil des Landes und wollen eine Lösung. Sie sind niemandem gegenüber feindlich gesinnt. Daher sollten sich die in den Syrien-Krieg verwickelten Mächte nun rational verhalten und diese Realität und das Zusammenleben akzeptieren. Das gilt am stärksten für die Türkei. 

Was bedeuten die Botschaften von Israel in Bezug auf die kurdische Frage?

Es gibt eine Realität, die niemand ignorieren kann. Das jüdische Volk ist Teil des Nahen Ostens. Man mag einiges an der Politik Israels nicht akzeptieren und kritisieren, aber das ändert nichts an der Realität. Wenn es uns als natürliche Verbündete angesehen hätte, dann hätte es das Notwenige bereits getan. So etwas ist mit Sicherheit nicht geschehen.

Werden die Astana-Gespräche noch weiter fortgesetzt werden?

Ich glaube nicht, dass die Astana-Gespräche fortgesetzt werden. Wir wurden im Vorfeld der ersten Astana-Gespräche eingeladen, aber das Vorgehen der Türkei hat alles verhindert. Astana hat einen anderen Weg eingeschlagen. Es hat sich in eine andere Richtung entwickelt, und das, was wir gerade in Syrien sehen, ist das Ergebnis. Wenn es wirklich so gelaufen wäre, wie anfangs besprochen, hätte es eine Lösung geben können. Ich glaube nicht, dass die Gespräche nach den aktuellen Ereignissen weitergehen werden.

Wie ist es um die Präsenz der QSD westlich des Euphrat, in Minbic und Deir ez-Zor bestellt?

Minbic ist ohnehin ein Teil der selbstverwalteten Gebiete. Man sollte es nicht mit Aleppo oder Tall Rifaat vergleichen. Unsere Kräfte verteidigen Minbic.

Was ist Ihrer Meinung nach die Lösung für die Krise?

Als die Revolution in Syrien begann, haben wir uns die Werte der Revolution zu eigen gemacht. Wir haben die Lösung im Sinne einer demokratischen Nation verteidigt und uns entsprechend organisiert. Wir haben eine Selbstverwaltung, an der alle Glaubensrichtungen und Völker beteiligt sind, aufgebaut. Wir haben ein Beispiel für das Zusammenleben geschaffen. Die anderen Seiten in diesem Konflikt haben dies nicht akzeptiert. Der türkische Staat stand dabei an vorderster Front gegen uns. Man hat uns den Krieg aufgezwungen, und dieser Krieg dauert bis heute an. Wir haben dagegen Widerstand geleistet, und jetzt hat jeder erkannt, dass unser Projekt legitim und nachhaltig ist. Natürlich ist die Selbstverteidigung für uns sehr wichtig. Wir setzen sie um und verstärken sie. Wir haben eine wichtige Praxis als Beispiel für die unterdrückten Völker geschaffen. Ich denke, der von uns entwickelte Gesellschaftsvertrag ist beispielhaft.