„begrüssenswert und doch gefährlich“
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) begrüßt in einer aktuellen Pressemitteilung die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien durch die Europäische Union. „Unter den Sanktionen hat nicht Assad, sondern vor allem die Zivilbevölkerung gelitten“, erinnerte GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido, der gerade von einer Syrienreise zurückgekehrt ist, heute in Göttingen. „Allerdings muss der EU klar sein, dass die neuen islamistischen Machthaber die Aufhebung der Sanktionen instrumentalisieren werden, um ihre eigene Macht und islamistische Strukturen in Syrien zu festigen.“
Gezielte Sanktionen gegen Menschenrechtsverbrecher
Die GfbV stellte klar, dass die Europäische Union und auch die USA gezielt den neuen Machthaber Ahmed al-Scharaa und andere Mitglieder seiner Übergangsregierung sanktionieren müssten. Als dschihadistische Milizionäre hätten diese Kriegsverbrechen begangen und seien auch nach ihrer Machtübernahme an Massakern an der alawitischen, drusischen und kurdischen Bevölkerung beteiligt gewesen.
„Im Westen Syriens sollen mindestens 30.000 Alawiten von Islamisten getötet worden sein. Zehntausende Menschen wurden vertrieben oder mussten fliehen. Dort will die neue Regierung ausländische islamistische Kämpfer mit ihren Familien ansiedeln“, warnte Sido. „Diese Ansiedlung und Vertreibung der Alawiten aus ihrem Siedlungsgebiet an der syrischen Mittelmeerküste ist eine ethnische Säuberung. Alawiten, Ismailiten und Christen, die traditionell ein offenes Leben führen, werden mit den radikalen Islamisten nicht zusammenleben können und ihre Heimat verlassen müssen.“
Sanktions-Aufhebung mit Bedingungen
Eine bedingungslose Aufhebung von Syrien-Sanktionen sei daher inakzeptabel, vielmehr müsse allen voran die EU deutliche Forderungen an al-Scharaa stellen. Neben einer Abkehr von islamistischen Ideologen müssten auch konkrete Schritte zum Aufbau eines demokratischen, pluralistischen und föderalen Systems für alle Syrer:innen gefordert werden, in dem alle Bevölkerungsgruppen die gleichen Rechte innehaben.
Unhaltbare Zustände in Damaskus und Aleppo
Der Nahostreferent schilderte zudem Szenen, die er bei seinem kürzlichen Syrienaufenthalt in der Öffentlichkeit erlebt habe. Sie untermalen nachdrücklich, dass die Situation für Minderheiten unter der aktuellen syrischen Regierung von Diskriminierung bestimmt ist.
„In Damaskus habe ich erlebt, wie in einem öffentlichen Bus auf der gesamten Strecke vom Stadtzentrum in das mehrheitlich von Christen bewohnte Stadtviertel Bab Thoma der Koran aus den Lautsprechern vorgetragen wurde. Keiner der zumeist christlichen Fahrgäste durfte dem Busfahrer widersprechen. In Aleppo habe ich mich mit einem armenischen Apotheker unterhalten. Er sieht für sich und alle Armenier in Syrien keine Zukunft mehr“, berichtete Sido, „auch Bischof Maurice von der syrisch-orthodoxen Kirche im Nordosten Syriens bestätigte mir das und fügte hinzu: ‚Wenn die Situation so bleibt, wird kein Christ mehr in Syrien leben können.‘“
Wachsamkeit geboten
Die Aufhebung der Sanktionen sei vor diesem Hintergrund zwar ein Schritt in die richtige Richtung, sie dürfe aber nicht zur weiteren Islamisierung Syriens beitragen. Die internationale Gemeinschaft müsse das Verhalten der neuen Machthaber genau beobachten und Fehlverhalten gezielt sanktionieren.
Foto: Im Bürgerkrieg zerstörtes Aleppo © Nazım Daştan