Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat Strafanzeige gegen den Verleger und Menschenrechtler Ragip Zarakolu gestellt. Hintergrund ist eine Kolumne des 72 Jahre alten Intellektuellen mit dem Titel „Vor dem Schicksal gibt es kein Entrinnen“. Darin schreibt Zarakolu, dass Erdoğan der von der Demokratischen Partei (Demokrat Parti) nicht vervollständigten, von Süleyman Demirel nur mäßig erfolgreich umgesetzten Autokratie – anlehnend an die türkisch-islamische Synthese – ein strukturelles Fundament gelegt habe. Der AKP-Chef sieht in der Aussage einen „Aufruf zum Putsch“ und bezichtigt Zarakolu einer „Straftat gegen die Verfassungsordnung und ihr Funktionieren“.
Die Kolumne mit dem Originaltitel „Makus kaderden kaçış yok“ erschien vor einer Woche bei der linken Tageszeitung Evrensel und dem regierungskritischen Internetportal Artı Gerçek, das seinen Sitz in Köln hat und an die Stiftung Artı Media gebunden ist. Neben Zarakolu wurde deshalb auch der Stiftungsvorstand verklagt. Zudem hat der Journalist und verantwortliche Redakteur von Evrensel, Fatih Polat, eine Vorladung von der Polizei erhalten.
Ragip Zarakolu ist dem türkischen Regimechef und seiner Anhängerschaft nicht erst seit gestern ein Dorn im Auge. Im September 2018 machte Erdoğan über die internationale kriminalpolizeiliche Organisation Interpol Jagd auf den Intellektuellen. Zarakolu, der zu den Gründern des türkischen Menschenrechtsvereins IHD (İnsan Hakları Derneği) zählt und in seinem Verlag Belge (türkisch: Dokument) seit 1977 Bücher herausbrachte, die an türkischen Tabus rütteln, vor allem Werke über Kurd*innen und Armenier*innen, war Ende Oktober 2011 im Rahmen der „KCK-Operationen“ verhaftet worden. Aufgrund einer Rede, die er an der Bildungsakademie der Partei der demokratischen Regionen DBP (damals noch Partei des Friedens und der Demokratie, BDP) für die Verabschiedung der Absolvent*innen gehalten hatte, wurde er der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ bezichtigt. Nach fast sieben Monaten in Untersuchungshaft wurde Zarakolu vorzeitig entlassen. 2013 verließ er das Land und lebt seitdem im schwedischen Asyl. Im Dezember 2019 lehnte das schwedische Oberste Gericht einen Auslieferungsantrag für den 72-Jährigen ab. Nur zwei Tage später beschlagnahmte die Erdoğan-Regierung einen erheblichen Teil des Vermögens von Zarakolu. Auch seine Rentenleistungen wurden eingezogen. Damit will Erdoğan die Rückkehr des Intellektuellen erzwingen.