Die Journalistin Dicle Müftüoğlu hat zu mehr Solidarität mit Medienschaffenden in der Tradition der freien kurdischen Presse aufgerufen. Solange die Solidarität mit kritischen Journalistinnen und Journalisten nicht wächst, würde die vom Regime kontrollierte Justiz weiter „wie ein Damoklesschwert“ über der unabhängigen Presse hängen, sagte die 39-Jährige am Abend vor dem Frauengefängnis Sincan. Und das Recht der Öffentlichkeit auf Information werde weiter ausgehebelt.
Knapp zehn Monate saß Müftüoğlu in der berüchtigten Haftanstalt nahe Ankara. Seit gestern ist sie wieder frei – vorerst. Der in Amed (tr. Diyarbakır) verhandelte Prozess gegen die Redakteurin der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) und Ko-Vorsitzende der Journalistenvereinigung Dicle-Firat (DFG) wegen des Vorwurfs der Gründung und Leitung einer Terrororganisation sowie Mitgliedschaft in selbiger ist weiter anhängig und wird im Juni fortgesetzt. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, drohen Müftüoğlu bis zu 15 Jahre Gefängnis.
Eingeschüchtert von ihrer Zeit in Untersuchungshaft, die sie ohnehin mit der Recherche von Rechtsverletzungen hinter türkischen Gefängnismauern verbrachte, oder einer möglichen Verurteilung wirkte Müftüoğlu aber nicht. Im Gegenteil. Sie wiederholte, was sie bereits mehrfach vor Gericht gesagt hatte: „Ich wurde verhaftet, weil unsere Medien der Führung dieses Landes ein Dorn im Auge sind. Es ging darum, uns im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahl mundtot zu machen, die Arbeit unserer Einrichtungen einzuschränken, uns davon abzuhalten, die Wahrheit zu schreiben. Meine Inhaftierung war willkürlich und rechtswidrig.”
Es handele sich um ein beliebtes Instrument einer Justiz, die unfair sei, sagte Müftüoğlu weiter. Freude darüber, diese Schikane vorerst hinter sich gelassen zu haben, empfinde sie jedoch nicht. Die Trauer über jene, die weiterhin hinter den Gefängnismauern verweilen müssten, überwiege. „Wenn Dutzende Kolleginnen und Kollegen, etliche Aktivistinnen, politische Gefangene, deren Zahl in die Tausende gehen, nicht frei sind, kann sich niemand von uns als frei bezeichnen.“ Müftüoğlu wies auf den Fall von elf Frauen hin, die ihre reguläre Haftzeit eigentlich abgesessen haben, aber nicht freigelassen werden, weil die Vollzugsbehörden ihnen eine „schlechte Sozialprognose“ unterstellen. Für sie und die Gefangenen, die sich seit Monaten an einem Hungerstreik gegen die Isolation und Entwürdigung in türkischen Haftanstalten beteiligen, wolle sie nun mit aller Kraft kämpfen. „Wir müssen ihren Stimmen Gehör verschaffen. Sie leisten einen würdevollen Widerstand gegen die Unterdrückung im Kerker. Wir sind es ihnen schuldig und wir sind es uns selbst schuldig, den Kampf außerhalb der Mauern zu verstärken.“
Nicht zum ersten Mal im Visier der türkischen Justiz
Dicle Müftüoğlu befindet sich schon länger im Fokus der türkischen Verfolgungsbehörden. Ende 2020 wurde sie wegen eines 2014 von ihr im Internet geteilten Fotos vom Kampf gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) im nordsyrischen Kobanê zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Damals war sie Chefredakteurin der im Herbst 2016 nach dem angeblichen Putschversuch in der Türkei per Notstandsdekret verbotenen Nachrichtenagentur DIHA. Das Gericht warf ihr „Propaganda für eine Terrororganisation“ vor. Wenige Wochen später wurde ein neues Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet, ebenfalls wegen vermeintlicher Terrorpropaganda im Netz. Im Juni 2022 wurde die Journalistin erneut verhaftet. Ihre letzte Inhaftierung im Zusammenhang mit dem aktuellen Verfahren fand am 3. Mai 2023 statt, dem internationalen Tag der Pressefreiheit.