MLSA-Bericht: Die Kosten der freien Meinungsäußerung in der Türkei

Die Media and Law Studies Association (MLSA) beobachtet seit 2018 Prozesse zur freien Meinungsäußerung in der Türkei. Medienschaffende in Terrorismusprozessen anzuklagen, gehört zur gängigen Praxis der türkischen Justiz.

Die Media and Law Studies Association (MLSA), die seit 2018 Prozesse zur freien Meinungsäußerung beobachtet und derzeit das größte Prozessbeobachtungsprogramm in der Türkei durchführt, hat einen Jahresbericht veröffentlicht. Der Bericht enthält Daten, die durch die Überwachung von 446 Verhandlungen in 210 Strafverfahren zur freien Meinungsäußerung in 23 verschiedenen Städten mit Unterstützung des Königlichen Norwegischen Außenministeriums und des Türkei-Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung gesammelt wurden. 

Dem Bericht zufolge wurden weitere Journalist:innen in „Terrorprozessen“ vor Gericht gestellt, in denen ihre Nachrichtenartikel und Beiträge in sozialen Medien als Beweis für die Anschuldigungen angeführt wurden. In dem Bericht heißt es auch, dass die Zahl der Verfahren gegen Personen, die an friedlichen Demonstrationen und Protesten teilgenommen haben, gestiegen ist. Der Bericht hebt hervor, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte erster Instanz die Urteile des Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) missachten. Außerdem wird auf den radikalen Anstieg der in Verfahren zur freien Meinungsäußerung verhängten Haftstrafen hingewiesen.

Medienschaffende wegen terroristischer Anschuldigungen angeklagt

Aus dem Bericht geht hervor, dass die gängige Praxis, Journalist:innen als vermeintliche Terroristen anzuklagen, im Beobachtungszeitraum fortgesetzt wurde. Den Recherchen der MLSA zufolge wurde in 62 Verfahren gegen insgesamt 143 Journalist:innen der Vorwurf „Propaganda für eine terroristische Organisation" erhoben. In ähnlicher Weise wird berichtet, dass in 38 von 44 Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" die Angeklagten Journalist:innen waren. Insgesamt standen 132 Journalist:innen wegen „Propaganda"-Anschuldigungen vor Gericht, als Beweismittel wurden größtenteils Nachrichtenartikel und Posts der Journalist:innen in den sozialen Medien angeführt.

Rechtswidrige Beweise in Fällen von „Präsidentenbeleidigung"

Laut MLSA wurden in Fällen von „Präsidentenbeleidigung" am häufigsten Journalist:innen angeklagt. In 29 Prozessen wegen „Beleidigung des Präsidenten" wurden 34 Personen vor Gericht gestellt, und 18 dieser 34 Angeklagten waren Journalist:innen.

Es wird hervorgehoben, dass in 19 Fällen die Posts der Angeklagten in den sozialen Medien die einzigen Beweise waren, die für die Anklage angeführt wurden. Der Bericht weist auf die Tatsache hin, dass in 14 Fällen Social-Media-Posts über die so genannte „virtuelle Patrouille" gesammelt wurden, die das Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Februar 2020 für verfassungswidrig erklärte und damit den entsprechenden Gesetzesartikel aufhob, der der Polizei die Anwendung dieser Methode erlaubte. In dem Bericht wird hervorgehoben, dass die Gerichte acht Anklagen akzeptierten, die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts erstellt wurden und in denen Social-Media-Posts, die unrechtmäßig über die „Virtuelle Patrouille"-Methode gesammelt wurden, als Beweise gegen die Angeklagten angeführt wurden.

800 Verurteilungen wegen friedlichen Protesten

Dem Bericht zufolge wurden 800 Personen vor Gericht gestellt, weil sie an friedlichen Protesten und Demonstrationen teilgenommen hatten, wie es ihnen in Artikel 34 der Verfassung garantiert wird. Unter den wegen „Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Demonstrationen und Versammlungen" Angeklagten befanden sich 328 Aktivist:innen, darunter Mitglieder der Initiative der „Samstagsmütter“ und 285 Studierende, die in neun verschiedenen Verfahren wegen der Proteste nach der Ernennung der Rektoren der Boğaziçi-Universität durch Präsident Erdoğan angeklagt wurden.

In dem Bericht wird auch mitgeteilt, dass die Staatsanwaltschaften in einigen Fällen willkürlich von Gouverneuren und Gesundheitsämtern während der Corona-Pandemie verhängte Demonstrationsverbote als Beweismitteil für die „Rechtswidrigkeit“ von Protesten anführten.

Fast 300 Jahre Freiheitsstrafe unter Missachtung von EGMR-Urteilen

Der Bericht weist auf den radikalen Anstieg der in Verfahren wegen Meinungsfreiheit verhängten Haftstrafen hin. Demnach wurden 67 Personen zu insgesamt 299 Jahren, 2 Monaten und 24 Tagen Haft verurteilt wurden, weil sie von ihren Grundrechten Gebrauch gemacht haben. MLSA unterstreicht, dass die gegen 36 Personen verhängten Freiheitsstrafen auf Gesetzesartikeln beruhten, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) immer wieder als Quellen systematischer Rechtsverletzungen bezeichnet hat.

Der Bericht geht auch auf einzelne schwere Haftstrafen ein, die während des Überwachungszeitraums verhängt wurden. So wurde der preisgekrönte Journalist Rojhat Doğru wegen seiner journalistischen Tätigkeit zu lebenslanger Haft verurteilt und der Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala sogar zu einer verschärften lebenslänglichen Haftstrafe, ohne dass Beweise vorlagen und aufgrund einer Anklage, von der er 2020 freigesprochen wurde.

In dem Bericht wird ein Anstieg der Zahl der mit Freispruch beendeten Verfahren festgestellt. Dieser Anstieg wird als Indikator dafür gewertet, dass strafrechtliche Ermittlungen im Zusammenhang mit der freien Meinungsäußerung leicht in Gerichtsverfahren münden. Dem Bericht zufolge wurden während des Überwachungszeitraums 226 Personen in 51 Fällen von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen.

Der Bericht trägt den Titel „299 Jahre, 2 Monate und 24 Tage: Die Kosten der freien Meinungsäußerung in der Türkei" und enthält auch detaillierte Hinweise auf Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren.