Er könne die Proteste während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 nicht als Journalist verfolgt haben, da er nicht im Besitz eines vom türkischen Presseamt ausgestellten Presseausweises gewesen sei. Demzufolge habe er sich als Mitglied einer „bewaffneten Organisation“ und damit als „Terrorist“ an den Protesten beteiligt. Mit dieser haarsträubenden Argumentation rechtfertigt die 8. Schwurgerichtskammer Diyarbakır (ku. Amed) in ihrer schriftlichen Urteilsbegründung die lebenslange Haft für den kurdischen Journalisten Rojhat Doğru. Der 30-Jährige war im Januar wegen „Zerstörung der staatlichen Einheit und der Gesamtheit des Landes“ zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zusätzlich wurde er wegen Mordversuch zu weiteren zehn Jahren und wegen Propaganda für eine terroristische Vereinigung zu knapp zwei Jahren Haft verurteilt.
Rojhat Doğru hatte die Proteste in jenem Herbst vor acht Jahren in Amed als Kameramann des TV-Senders Gali Kurdistan verfolgt. Der Zorn der Menschen, die zu Tausenden auf den Straßen waren, richtete sich gegen die türkische Regierung, da diese ihre Unterstützung für den in Kobanê mordenden IS nicht beendete. Am Abend des 6. Oktober 2014 war es der Terrormiliz nach 21 Tagen Widerstand der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie der Bevölkerung von Kobanê gelungen, ins Zentrum der westkurdischen Stadt einzudringen.
Im Zuge der Proteste kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften und Demonstrierenden. Dabei wurden Dutzende Menschen (die Zahlen schwanken zwischen 37 laut Regierung und 46 laut IHD), größtenteils HDP-Mitglieder, getötet. Über 600 Teilnehmende der Proteste wurden verletzt, mehr als 300 landeten binnen weniger Tage in Untersuchungshaft. Die meisten Todesopfer gab es in Amed. Neben Polizei und Armee eröffneten dort auch Anhänger der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hizbullah und der ihr nahestehenden Partei Hüda Par das Feuer auf Demonstrierende. Ein Großteil der Getöteten starb bei Angriffen dieser offen mit dem IS sympathisierenden Organisationen beziehungsweise bei nachfolgenden Auseinandersetzungen von Aktivisten mit Islamisten. Hüda-Par-Anhänger sollen Protestierende sogar verschleppt, gefoltert und dann der Polizei zur Festnahme übergeben haben.
Preis für journalistische Leistung
Für seine Aufnahmen der Proteste war Rojhat Doğru 2015 von der Journalistenvereinigung im Südosten (GGC) als erfolgreichster Journalist des Jahres ausgezeichnet worden. Das rief die Hüda Par auf den Plan. Auf parteinahen Webseiten wurde gegen Doğru gehetzt, Propaganda-Nachrichten überfluteten digitale Netzwerke – und rückten den Kurden in den Fokus der türkischen Verfolgungsbehörden. Die Anklage wegen vermeintlichem Separatismus ließ nicht lange aus sich warten. Der Vorwurf des Mordversuchs gründet auf den Aussagen des bekennenden Hüda-Par-Anhängers Rıdvan Ö., der behauptete, von Rojhat Doğru angeschossen worden zu sein. Angeblich habe der Kameramann die Proteste mit der einen Hand gefilmt und mit der anderen zeitgleich auf Gegendemonstranten geschossen. Eine anhand von Aufnahmen erstellte Expertise ergab jedoch, dass er im Moment der vermeintlichen Tat keine Waffe getragen hat. Das Gericht glaubte jedoch den Äußerungen von Ö.
Verteidiger kündigt Revision an
In das Urteil gegen Doğru sind auch weitere „Straftaten“ eingeflossen: Beiträge in den sozialen Medien und eine Geldüberweisung ins Gefängnis. Weiterer Anklagepunkt war eine Reportage aus dem Qendîl-Gebirge, bei der Doğru 2014 während der Verhandlungen über eine politische Lösung der kurdischen Frage für seinen Sender gefilmt hatte. „Mit der Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe haben wir als Revisionsführer nun einen Monat Zeit, unsere Rechtsmittel schriftlich zu begründen“, erklärte Doğrus Verteidiger Resul Temur. Der Kassationsgerichtshof (Yargıtay) in Ankara, vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof, entscheidet dann über die Zulässigkeit der Revision.