Vor dem 2. Schwurgerichtshof in der nordkurdischen Provinz Agirî (türk. Ağrı) wurde am Dienstag das Hauptverfahren gegen den Journalisten Aziz Oruç eröffnet. Dem 36-jährigen ehemaligen Korrespondenten der in der Türkei per Dekret verbotenen Nachrichtenagentur DIHA wird „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Terrorpropaganda“ vorgeworfen. Bei einer Verurteilung droht ihm eine langjährige Freiheitsstrafe.
Aziz Oruç ist im Dezember in Bazîd (Doğubayazıt) verhaftet worden. Davor arbeitete er ungefähr drei Jahre lang in der südkurdischen Stadt Silêmanî für RojNews. Vor seiner Inhaftierung in der Türkei hatte Oruç versucht, vom Iran aus über Armenien nach Europa zu gelangen, um politisches Asyl zu beantragen. An der armenisch-iranischen Grenze wurde er festgenommen und gefoltert. Ein daraufhin aus der Not heraus gestelltes Asylgesuch wurde erst gar nicht an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Stattdessen wurde der Vater von zwei Kindern an iranische Sicherheitskräfte übergeben. Nach einer weiteren Festnahme auf iranischer Seite der Grenze, erneuter Folter und einer Geldstrafe wurde Oruç schließlich in der Nacht zum 11. Dezember 2019 barfuß und nur in Unterwäsche gekleidet im türkischen Grenzgebiet ausgesetzt. Dort konnte er selbst telefonisch Hilfe herbeirufen und wurde von zwei Lokalpolitikern der HDP vor dem Erfrierungstod gerettet.
Nachdem Verletzungen, die er sich am Grenzzaun hinzugezogen hatte, versorgt worden waren, versuchte Oruç zu seiner Familie zu gelangen. Als er und Abdullah Ekelek, der Ko-Vorsitzende des HDP-Kreisverbands in Bazîd, sowie Muhammet İkram Müftüoğlu auf dem Weg Richtung Amed (Diyarbakir) waren, erfolgte der Zugriff der Polizei und die Festnahme der drei Männer. Oruç wurde vermutlich seit seinem Grenzübertritt observiert. Nach einer Woche in Polizeigewahrsam wurde am 18. Dezember Haftbefehl gegen den Journalisten erlassen. Auch Ekelek und Müftüoğlu saßen seitdem im Gefängnis. Ihnen wird „Unterstützung einer Terrororganisation” vorgeworfen. In ihrem Fall ordnete das Gericht bei der heutigen Verhandlung die Aufhebung des Haftbefehls gegen Meldeauflagen an. Sie wurden inzwischen aus dem L-Typ-Gefängnis in Patnos entlassen.
Die Generalstaatsanwaltschaft in Agirî begründet ihre Anklage gegen Oruç unter anderem mit einem „illegalen Grenzübertritt in das Land, dessen Staatsbürger er ist“. Auch Protokolle der Telefonüberwachung, bereits geschlossene Ermittlungsakten gegen den Journalisten sowie Anklageschriften aus laufenden Verfahren, Beiträge in Online-Netzwerken und die Tatsache, dass er nach Betreten des Staatsgebiets nicht bei den Sicherheitsbehörden vorstellig wurde, sind Bestandteil der Beweisaufnahme. Die Anklagepunkte werden zudem auch durch „Gefällt mir“-Markierungen der Facebook-Seiten von RojNews und IMC TV und einem von Oruç mit dem Hungerstreik-Aktivisten Nasir Yağız geführten Interview untermauert. Der Prozess gegen Oruç, der ebenfalls in Patnos inhaftiert ist, wird am 21. September fortgesetzt.
Repression - Alltag für kritische Journalist*innen
Staatliche Repression, Anklagen wegen vermeintlicher Terrorunterstützung oder Präsidentenbeleidigung, Behinderungen bei der Recherche und Bedrohungen auf der Straße - all das gehört in der Türkei zum Alltag kritischer Journalist*innen. Wer aus den kurdischen Regionen des Landes berichtet, steht unter besonderer Beobachtung von Behörden und Justiz. Nach einem Bericht des Journalistenvereins DFG (Dicle Fırat Gazeteciler Derneği) befinden sich zur Zeit mindestens 97 Journalistinnen und Journalisten (Stand 30. Juni 2020) in türkischen Gefängnissen.