Kommende Woche beginnt in Agirî (türk. Ağrı) das Hauptverfahren gegen den Journalisten Aziz Oruç wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Terrorpropaganda“. Der 36-jährige ehemalige Korrespondent der in der Türkei per Dekret verbotenen kurdischen Nachrichtenagentur DIHA ist im Dezember in Bazîd (Doğubayazıt) verhaftet worden. Davor arbeitete er ungefähr drei Jahre lang in der südkurdischen Stadt Silêmanî für RojNews. Oruç hatte Anfang 2017 das Land verlassen, um sich einer Freiheitsstrafe wegen Terrorismusvorwürfen zu entziehen. Es war eines von mehreren Verfahren gegen den missliebigen kurdischen Journalisten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ein Urteil aus dem Jahr 2011 über eine mehrjährige Haftstrafe wird derzeit noch vom Kassationsgericht überprüft. Auch andere Verfahren sind anhängig.
Vor seiner Festnahme in der Türkei hatte Oruç versucht, vom Iran aus über Armenien nach Europa zu gelangen, um politisches Asyl zu beantragen. An der armenisch-iranischen Grenze wurde er festgenommen und gefoltert. Ein daraufhin aus der Not heraus gestelltes Asylgesuch wurde erst gar nicht an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Stattdessen wurde der Vater von zwei Kindern an iranische Sicherheitskräfte übergeben. Nach einer weiteren Festnahme auf iranischer Seite der Grenze, erneuter Folter und einer Geldstrafe wurde Oruç schließlich in der Nacht zum 11. Dezember 2019 barfuß und nur in Unterwäsche gekleidet im türkischen Grenzgebiet ausgesetzt. Dort konnte er selbst telefonisch Hilfe verständigen und wurde von zwei Lokalpolitikern der HDP vor dem Erfrierungstod gerettet.
Retter*innen wegen „Terroristen-Unterstützung“ angeklagt
Nachdem Verletzungen, die er sich am Grenzzaun hinzugezogen hatte, versorgt worden waren, versuchte Oruç zu seiner Familie zu gelangen. Als er und Abdullah Ekelek, der Ko-Vorsitzende des HDP-Kreisverbands in Bazîd, sowie Muhammet İkram Müftüoğlu auf dem Weg Richtung Amed (Diyarbakir) waren, erfolgte der Zugriff der Polizei und die Festnahme der drei Männer. Oruç wurde vermutlich seit seinem Grenzübertritt observiert. Nach einer Woche in Polizeigewahrsam wurde am 18. Dezember Haftbefehl gegen den Journalisten erlassen. Auch Ekelek und Müftüoğlu sitzen seitdem im Gefängnis. Ihnen wird „Unterstützung einer Terrororganisation” vorgeworfen. Dieselben Vorwürfe stehen gegen die Journalistin und MA-Redakteurin Dicle Müftüoğlu und die beiden HDP-Abgeordnetenmitarbeiter Yücel Ilhan und Turgay Ilboğa ebenfalls im Raum.
„Gefällt mir“-Markierungen bei Facebook Beweis für Terrorismus
Die Anklageschrift gegen die fünf Angeklagten liest sich wie eine kafkaeske Satire. Als Beweis für die vermeintliche Mitgliedschaft in einer Terrororganisation von Oruç – konkret geht es um eine angebliche Zugehörigkeit zur „PKK/KCK“ – führt die Generalstaatsanwaltschaft in Agirî unter anderem einen „illegalen Grenzübertritt in das Land, dessen Staatsbürger er ist“, an. Auch Protokolle der Telefonüberwachung, bereits geschlossene Ermittlungsakten gegen den Journalisten sowie Anklageschriften aus laufenden Verfahren, seine Beiträge in Online-Netzwerken und die Tatsache, dass er nach Betreten des Staatsgebiets nicht bei den Sicherheitsbehörden vorstellig wurde, sind Bestandteil der Beweisaufnahme. Die Anklagepunkte werden zudem auch durch „Gefällt mir“-Markierungen der Facebook-Seiten von RojNews und IMC TV und einem von Oruç mit dem Hungerstreik-Aktivisten Nasir Yağız geführten Interview untermauert.
Die Vorwürfe gegen die Helfer*innen des Journalisten klingen noch absurder. Sie sollen sich strafbar gemacht haben, weil sie sicherstellten, dass Oruç „ins Stadtzentrum gebracht, ihm in einer Wohnung Unterschlupf gewährt, seine Wunden verarztet, er mit Nahrung gesättigt und mit Kleidung ausgestattet wurde“. Somit hätten sie eindeutig „planmäßig, systematisch und koordiniert für ein Mitglied der Terrororganisation gehandelt“.
Oruç bekommt anwaltliche Pro-Bono-Unterstützung
Der Prozess gegen Aziz Oruç und seine Unterstützer*innen findet am Dienstag, den 21. Juli, vor dem 2. Schwurgerichtshof in Agirî statt. Vertreten wird der Journalist von der Organisation Media and Law Studies Association (MLSA), die ihm anwaltliche Pro-Bono-Unterstützung bietet.