Der kurdische Journalist Aziz Oruç ist in der Türkei vom Vorwurf, Straftaten für eine Terrororganisation begangen zu haben, freigesprochen worden. Ein Gericht im westtürkischen Denizli urteilte am Donnerstag, dass die Anklage keine überzeugenden Beweise dafür vorlegen konnte, den 37-Jährigen nach Artikel 220/6* des türkischen Strafgesetzbuches (tStGB) zu verurteilen. Das Verfahren sei mit einem Freispruch abzuschließen.
Aziz Oruç gehört zu insgesamt 36 ehemaligen Studentinnen und Studenten der Pamukkale-Universität in der Ägäismetropole Denizli, die 2011 in Izmir zu jeweils sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden waren. Begründet wurde die Haftstrafe mit der Teilnahme der Studierenden an diversen Veranstaltungen, darunter die Eröffnung eines Büros der HDP-Schwesterpartei DBP, eine Kundgebung zum internationalen Frauenkampftag 8. März und mehrere Baumpflanzaktionen. Auch wurde ihnen zur Last gelegt, „in Begleitung von Musik in einer nicht verständlichen Sprache“ – gemeint ist Kurdisch – getanzt zu haben.
Vergangenen Juni hieß der Kassationshof als eines der obersten Gerichte der Türkei die 2018 eingereichte Beschwerde von Oruç gut. Das Urteil gegen den zweifachen Familienvater wurde einkassiert und eine Neuverhandlung angeordnet. Da die 8. Große Strafkammer zu Izmir mittlerweile geschlossen wurde, musste sich ein Gericht in Denizli als Vorinstanz mit dem Fall befassen.
Weitere Verfahren anhängig
Die juristische Repression gegen Aziz Oruç endet mit dem Freispruch in Denizli aber nicht. Mehrere Verfahren unter sogenannten Terrorvorwürfen sind gegen den Journalisten weiter anhängig. In Agirî (tr. Ağrı) muss er sich wegen vermeintlicher „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Terrorpropaganda“ verantworten. Begründet wird die Anklage unter anderem mit einem „illegalen Grenzübertritt in das Land, dessen Staatsbürger er ist“. Auch Protokolle der Telefonüberwachung, bereits geschlossene Ermittlungsakten, Beiträge in Online-Netzwerken und die Tatsache, dass Oruç nach Betreten des Staatsgebiets nicht bei den Sicherheitsbehörden vorstellig wurde, sind Bestandteil der Beweisaufnahme. Die Anklagepunkte werden zudem durch „Gefällt mir“-Markierungen der Facebook-Seiten von kurdischen und oppositionellen Medieneinrichtungen und einem von Oruç mit dem Hungerstreik-Aktivisten Nasir Yağız geführten Interview untermauert.
Im Grenzgebiet ausgesetzt
Aziz Oruç war im Dezember 2019 in Bazîd (Doğubayazıt) verhaftet worden. Davor arbeitete er ungefähr drei Jahre lang in der südkurdischen Stadt Silêmanî für die Agentur RojNews. Vor seiner Inhaftierung hatte er versucht, vom Iran aus über Armenien nach Europa zu gelangen, um politisches Asyl zu beantragen. An der armenisch-iranischen Grenze wurde er festgenommen und gefoltert. Ein daraufhin aus der Not heraus gestelltes Asylgesuch wurde erst gar nicht an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Stattdessen wurde Oruç an iranische Sicherheitskräfte übergeben. Nach einer weiteren Festnahme auf iranischer Seite der Grenze, erneuter Folter und einer Geldstrafe wurde Oruç schließlich in der Nacht zum 11. Dezember 2019 barfuß und nur in Unterwäsche gekleidet im türkischen Grenzgebiet ausgesetzt. Dort konnte er selbst telefonisch Hilfe herbeirufen und wurde von zwei Lokalpolitikern der HDP vor dem Erfrierungstod gerettet.
Prozess wird im Dezember fortgesetzt
Nachdem Verletzungen, die er sich am Grenzzaun hinzugezogen hatte, versorgt worden waren, versuchte Oruç zu seiner Familie zu gelangen. Als er und Abdullah Ekelek, der Ko-Vorsitzende des HDP-Kreisverbands in Bazîd, sowie Muhammet İkram Müftüoğlu auf dem Weg Richtung Amed (Diyarbakir) waren, erfolgte der Zugriff der Polizei und die Festnahme der drei Männer. Oruç wurde vermutlich seit seinem Grenzübertritt observiert. Nach einer Woche in Polizeigewahrsam wurde am 18. Dezember 2019 Haftbefehl erlassen. Ekelek und Müftüoğlu sind seit Juli 2020 wieder auf freiem Fuß. Aziz Oruç kam erst im November vergangenen Jahres aus der Untersuchungshaft. Der Prozess gegen sie wird am 8. Dezember fortgesetzt.
*Artikel 220 des tStGB über die Bildung krimineller Vereinigungen besagt: „Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeiten darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen, oder wer eine solche Vereinigung anführt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu sechs Jahren bestraft.” Im Absatz (6) heißt es: „Wer, ohne Teil einer Organisation zu sein, im Namen der Organisation eine Straftat begeht, wird wie ein Mitglied der Organisation bestraft.”