„In der Türkei ist jegliche Art von Kritik verboten“
Jegliche Kritik in der Türkei sei faktisch illegal, meint Eren Keskin. Der größten Oppositionspartei CHP wirft die Menschenrechtlerin vor, die Repression mit Doppelstandards zu befeuern.
Jegliche Kritik in der Türkei sei faktisch illegal, meint Eren Keskin. Der größten Oppositionspartei CHP wirft die Menschenrechtlerin vor, die Repression mit Doppelstandards zu befeuern.
Die Repression gegen die freie Presse in der Türkei dauert an. Erst diesen Morgen wurden in Amed (tr. Diyarbakir) wieder zwei kurdische Journalistinnen festgenommen. Drei ihrer Kolleg:innen, Mehmet Aslan, Esra Solin Dal und Erdoğan Alayumat, sitzen seit über einer Woche unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“in Untersuchungshaft. Dal wurde im Gefängnis einer entwürdigenden Nacktdurchsuchung unterzogen. Der Vollzugsausschuss versuchte, sie durch Repressalien zu einem Mitgliedschaftsbekenntnis in einer illegalen Organisation zu nötigen.
„Die Presse war hier noch nie frei“
Die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, konnte Dal im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy besuchen. Gegenüber MA äußerte sich die Rechtsanwältin über die Repressalien gegen kritische Medienschaffende. Dass diese selbst am 3. Mai, dem Welttag der Pressefreiheit, mit juristischer Schikane überzogen werden, liege daran, dass dieser Tag in der Türkei noch nie Geltung gehabt habe. „Die oppositionelle Presse war seit der Gründung der Republik noch nie frei. Wenn man eine zur offiziellen Staatsideologie gegenteilige Meinung äußerte oder die roten Linien des Staates überschritt, war es immer aus mit der Freiheit. Aus diesem Grund war die oppositionelle Presse, die wir als freie Presse bezeichnen, in diesem Land noch nie frei“, betonte Keskin.
„Nach 2015 hat die Repression zugenommen“
Diese Situation habe sich insbesondere 2015 weiter verschlechtert, als Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Dialogprozess mit Abdullah Öcalan und der PKK einseitig beendete und den totalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung aufnehmen ließ. „In den 1990er Jahren bediente sich der Staat anderer Methoden. Er zerstörte, tötete und ließ Menschen in Haft verschwinden. Aber was die Meinungsfreiheit anbelangte, gab es gewisse Spielräume. Jetzt haben sich die Methoden geändert. Die freie Meinungsäußerung wird vollkommen behindert, und Haftbefehle werden willkürlich ausgestellt. Früher wurde man zum Beispiel verurteilt, und wenn das Urteil rechtskräftig war, kam man ins Gefängnis. Aber jetzt werden Menschen, vor allem Presseleute, bereits bei einer Vorladung zum Verhör, dessen Grundlage einzig ihre Gedanken sind, festgenommen und verhaftet.“
„Heute ist jede Kritik verboten“
Keskin wirft der Türkei vor, gegen internationalen Konventionen zu verstoßen, die sie selbst unterschrieben hat: „Ich bin keine Journalistin, aber bei Özgür Gündem, der Zeitung von Musa Anter, dem ich mich immer verbunden gefühlt habe, war mein Name drei Jahre lang als Chefredakteurin aufgeführt. Aus diesem Grund wurde ich zusammen mit weiteren Gleichgesinnten wegen ‚Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation‘ verurteilt. Als solches wird man betrachtet, weil man Chefredakteurin einer Zeitung ist oder einen Artikel schreibt. Es gibt auch Anschuldigungen wie ‚Propaganda für eine illegale Organisation‘ und ‚Beleidigung des Präsidenten‘. Kurzum, wir erleben eine Zeit, in der jede Art von Kritik verboten ist. Wir könnten alle Probleme lösen, indem wir reden. Aber wir dürfen nicht reden. Das Problem liegt genau hier.“
„Doppelmoral der Opposition gibt dem Staat Kraft für weitere Rechtsverletzungen“
Keskin kritisierte, dass die Inhaftierung der Journalist:innen Mehmet Aslan, Esra Solin Dal und Erdoğan Alayumat in vielen Medien, auch oppositionellen, keine Rolle gespielt habe. Sie warf Teilen der Opposition Doppelstandards vor: „Die wichtigste Oppositionspartei ist nur an der Meinungsfreiheit derjenigen interessiert, die ihr nahestehen. Ich habe kein einziges Fernseh- oder Presseorgan gesehen, das sich als Teil dieser Opposition bezeichnet und über die Verhaftung der drei Journalist:innen berichtet hätte. Nur diejenigen, die in der Tradition der freien Presse stehen, haben darüber berichtet. Wir müssen über diese Selektivität in Bezug auf die Opfer der Repression reden. Vor kurzem wurde der Journalist Barış Terkoğlu zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Natürlich sind wir auch gegen dieses Urteil. Aber während alle Medien über ihn berichteten, berichteten die gleichen Presseorgane nicht über die Verhaftung von Solin und ihren Kollegen. Diese Doppelmoral gibt dem Staat die Kraft zu noch gravierenden Rechtsverletzungen.“
Journalistin soll zu Organisationsbekenntnis gezwungen werden
Keskin teilte mit, dass die Journalistin Esra Solin Dal nach ihrer Festnahme Gewalt seitens der Polizei und nach ihrer Verhaftung Übergriffe durch die Justiz erfahren habe. „Das einzige, was man ihr zur Last legt, sind die Artikel, die sie geschrieben hat. Wir sprechen hier von einer Journalistin, die wegen ihrer Berichterstattung verhaftet wurde. Esra Solin Dal wird in einer Zelle festgehalten, die mit vier, maximal fünf Schritten durchgangen werden kann. Am ersten Abend erhielt sie keine Nahrung, nur Wasser und Brot. All das sind Rechtsverletzungen. Sie will so bald wie möglich in einen Zellentrakt verlegt werden. In den Gefängnissen gibt es einen Vollzugsausschuss (IGK). Das ist eine Struktur jenseits des Rechts. Diese Ausschüsse haben Vollmachten, die sogar über die Möglichkeiten des Vollzugstaatsanwalts hinausgehen. Solin will in einen Trakt verlegt werden. Der IGK hat von ihr verlangt, dass sie sich zu einer Organisation bekennen muss, um in diese Abteilung verlegt zu werden. Solin machte klar, dass sie in den Trakt wolle, für den sie angeklagt sei, dass sie aber kein Mitglied einer Organisation sei und dies nicht unterschreiben werde. Man versucht also, sie im Gefängnis dazu zu zwingen, sich als Mitglied einer Organisation zu bekennen. Das ist völlig illegal. Es sind Kontramethoden, die in einem demokratischen Rechtssystem niemals vorkommen würden.“