Ein unfassbarer neuer Höhepunkt der Knebelung kritischer Medien ereignet sich dieser Tage in der Türkei. Das resümiert der kurdische Journalistenverein Tigris-Euphrat (Dicle Fırat Gazeteciler Derneği, kurz: DFG) in seinem Bericht über die Verletzung der Rechte von Medienschaffenden und der Verletzung der Pressefreiheit nach den Erdbeben im Südosten der Türkei und im Nordwesten Syriens. Die in Amed (tr. Diyarbakır) ansässige Organisation ist entrüstet darüber, dass die türkischen Behörden sogar nach einer Katastrophe wie der Erdbebenserie vom 6. Februar ihren „Krieg gegen die freie Presse“ fortsetzen würden und die Arbeitsbedingungen von Medienschaffenden in alarmierender Weise verschlechterten. Die Vorwürfe gegen die Regierung reichen von Einschüchterung und Schikanierung über physische Gewalt, Festnahmen sowie willkürliche Ermittlungsverfahren bis zur digitalen Verfolgung mit dem Ziel, kritische Berichterstattung über das staatliche Versagen nach den Erdbeben zu unterbinden.
25 Medienschaffende bei Erdbeben gestorben
Über 50.000 Menschen sind offiziellen Angaben zufolge durch die schweren Erschütterungen in der türkisch-syrischen Grenzregion vor knapp drei Wochen ums Leben gekommen, mehr als 44.000 allein in der Türkei. Unter ihnen waren auch mindestens 25 Medienschaffende, wie DFG in seinem Bericht festhält. Ihre Namen: Burak Alkuş, Hidayet Özdemir, İskender Korkut, Kemal Öner, Muhammed Akan, Ruhi Akan, Yunus Emre Doğan, Zübeyir Pektaş, İsmail Hakkı Koçak, Fatih Bayın, Barış Can Tabakçı (gestorben in Semsûr/Adıyaman); Ayşe Figen Arl, Burak Milli, Gökhan Aklan, İzzet Nazlı, Neşet Alkan, Erhan Yılmaz, Mehmet Tekin, Hasan Seid Okay, Berkay Akay (gestorben in Hatay); Mustafa Yüzbaşıoğlu, Aziz Çevlik, Fatih Nalbantbaşı (gestorben in Gurgum/Maraş); Meltem Özgen (gestorben in Adana) und Fatma Erdoğan (gestorben in Dîlok/Antep). „Unsere Kolleginnen und Kollegen würden noch leben, wenn die Einhaltung von Bauvorschriften durchgesetzt worden wäre, statt durch die Missachtung von Sicherheitsstandards Profite zu erzielen, und staatliche Hilfe nach den Erdbeben rechtzeitig angekommen wäre“, betont der Bericht.
Notstandsverordnung Grundlage von Menschenrechtsverletzungen
Das türkische Regime befindet sich schon seit vielen Jahren in einer Eskalationsspirale gegen jegliche kritische Stimmen, in der Repression verstärkt und Menschenrechtsstandards ausgehöhlt werden. Über 95 Prozent der türkischen TV-Sender und Printmedien werden von Erdogan-nahen Unternehmen kontrolliert und berichten regierungskonform. Lange Zeit nutzten die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien die schrumpfenden, aber dennoch weiterhin vorhandenen Spielräume und Gelegenheiten, um ihrer Arbeit nachzugehen. Doch mit dem dreimonatigen Ausnahmezustand, den die Regierung über die vom Erdbeben betroffenen Provinzen verhängte, hat das repressive Vorgehen gegen die freie Presse eine neue Qualität erlangt, die man nicht als bloße Steigerung des Bisherigen begreifen kann. So weist DFG auf zahlreiche und alarmierende Verstöße gegen die Pressefreiheit und Menschenrechtsverletzungen hin, die mittels Notstandsverordnung legitimiert würden.
Hunderte Webseiten auf Anordnung der Justiz gesperrt
„Vier Medienschaffende wurden unter dem Vorwand festgenommen, keine offiziellen Presseausweise zu besitzen oder sich des ‚Schürens von Hass‘ und des ‚Verbreitens falscher oder irreführender Nachrichten‘ schuldig gemacht zu haben. In 14 Fällen wurden gewaltsame Übergriffe verzeichnet – sowohl durch Staatsbedienstete als auch Privatpersonen. Mindestens 19-mal haben wir dokumentiert, dass die freie Berichterstattung gezielt verhindert worden ist. Gegen sechs Kolleginnen und Kollegen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil sie verdächtigt werden, die Polizei oder den Staat ‚diffamiert‘ zu haben. Gegen drei oppositionelle Fernsehsender sind Strafen wegen ihrer kritischen Berichterstattung nach dem schweren Erdbeben verhängt worden. Darüber hinaus hat die türkische Informationstechnologiebehörde auf Beschluss der 4. großen Strafkammer von Ankara ohne nähere Begründung den Zugang zu insgesamt 340 Webseiten sperren lassen. Betroffen von dieser Zensurmaßnahme sind neben diversen YouTube-Kanälen und Twitter-Accounts auch Internetpräsenzen von Medieneinrichtungen, darunter Xwebûn, einzige kurdische Zeitung in der Türkei, sowie die Frauennachrichtenagentur NûJINHA. Als DFG betonen wir, dass sich unser Einsatz für die Pressefreiheit nicht aufhalten lässt. Ganz gleich, wie schwer die Steine sind, die uns in den Weg gelegt werden: Wir sind der Wahrheit verpflichtet und werden die Suche nach ihr nicht aufgeben.“