Fast drei Wochen sind seit den verheerenden Erdbeben an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien vergangen. Mittlerweile sind über 50.000 Tote in beiden Ländern offiziell gezählt worden und die Zahlen werden noch steigen. Und noch immer ist die ohnehin schleppend angelaufene Hilfe in überwiegend kurdisch, alevitisch und arabisch bewohnten Gebieten vielerorts kaum spürbar. Zahlreiche Menschen beklagen, noch gar keine staatliche Hilfe erhalten zu haben.
Zügiger ging es bei der regierenden Erdogan-Partei AKP und deren faschistischen Partnern von der MHP demgegenüber bei der Verhängung des Ausnahmezustands über die zunächst noch zehn, mittlerweile elf Erdbebenprovinzen zu. Das hat in der Vergangenheit schon öfter dazu gedient, mit Repressionen gegen die Opposition vorzugehen, Versammlungsfreiheit einzuschränken und ohne begründeten Verdacht Menschen festzunehmen. Doch der Ausnahmezustand dient nicht nur der Unterdrückung kritischer Stimmen, Medienschaffenden und Oppositionellen, sondern auch der absoluten Kontrolle über Hilfeleistungen und die Profite am Wiederaufbau.
Selbstermächtigung Erdoğans
Statt Hilfe und einen erdbebensicheren Wiederaufbau der betroffenen Gebiete zu gewährleisten, wurden dem Ministerium für Umwelt, Stadtentwicklung und Klimawandel nahezu unbegrenzte Vollmachten erteilt und insbesondere den AKP-nahen Baukonzernen ein neues Feld eröffnet, um Profite zu generieren. Mit Hilfe des Ausnahmezustands bevollmächtigt sich der türkische Regimechef Recep Tayyip Erdogan damit de facto selbst, ohne jede Kontrolle über den Wiederaufbau der Regionen zu verfügen.
„Bausicherheit und Umweltschutz werden vollständig ausgehebelt“
Die hohen Opferzahlen bei den Erdbeben vom 6. Februar hängen vor allem auch mit den andauernden Bauamnestien des Regimes zusammen. Die Erdogan-Regierung legalisierte gegen Geldzahlung unzählige Bauten, ohne deren Statik zu überprüfen. Nun soll nach Dekret weiter ohne jede Kontrolle gebaut werden. Der ehemalige Vorsitzende der Architektenkammer in Amed (tr. Diyarbakır), Şerefhan Aydın warnt, dass dem Umweltministerium durch das Präsidialdekret „Supervollmachten“ verliehen worden seien, die Bausicherheit und Umweltschutz vollkommen aushebelten. „Dieser Erlass gibt dem Ministerium die Erlaubnis, in einer völlig ungeregelten, katastrophalen Situation alles zu tun, was es für richtig hält. Es ist, als würde man einer einzigen Institution die Alleinherrschaft übertragen“, beschreibt der Architekt gegenüber ANF die Konsequenzen.
„Weg für neue skrupellose Profitwirtschaft geöffnet“
Aydın unterstreicht, dieser Erlass bedeute, dass Institutionen mit Fachkenntnissen umgangen und der Kontrollmechanismus von Zivilgesellschaft und Berufsverbänden völlig ausgeschaltet würden. Dabei handelt es sich bei diesem Ministerium um eine jener Institutionen in der Türkei, die durch Korruption, enge Verbindungen zum Bausektor und die Durchsetzung von Regierungsprojekten ohne Rücksicht auf Verluste eine zentrale Mitverantwortung für das Ausmaß der Opferzahlen des Erdbebens trägt. „Faktisch alle Berufsverbände, die Zivilgesellschaft und selbst andere Ministerien wurden vollständig zum Schweigen gebracht, und jede Diskussion durch das Dekret im Ansatz verhindert. Jedoch machen Berufsverbände nicht nur Dienst nach Vorschrift. Da sie sich am Gewissen der Gesellschaft orientieren, werden Organisationen wie die TMMOB [Architekten- und Ingenieurskammer] entsprechend reagieren und protestieren. Aber da die Verordnung legal ist, sind die Schritte, die darüber hinaus unternommen werden können, blockiert“, betont Aydın. Vor der Ausrufung des Ausnahmezustands sei es Berufsverbänden möglich gewesen, mit Widersprüchen für die Aussetzung bestimmter Pläne zu sorgen. „Aber jetzt wird dieser Prozess durch das Dekret völlig außer Kraft gesetzt. Wir können ohne weiteres sagen, dass der Weg für eine neue skrupellose Profitwirtschaft geebnet ist.“
Architekt Şerefhan Aydın
Abholzung, Flächenversiegelung und Umweltzerstörung auf der Agenda
Aydın warnt, dass aufgrund der Vollmachten eine massive weitere Umweltzerstörung droht: „Unter normalen Bedingungen sind beispielsweise Weideflächen unantastbar. Denn sie sind die wichtigsten Flächen in der Region, auf denen Viehzucht betrieben und Tiere ernährt werden. Daher sind sie unverzichtbar. Nach diesem Erlass werden die Weideflächen jedoch auf direkten Antrag des Ministeriums umgestaltet und dem Staat übertragen. Damit wird der Weg für eine massive ökologische Zerstörung geebnet.“ Aydın berichtet darüber hinaus, dass entsprechend der Verordnung auch Waldgebiete abgeholzt und zugebaut werden dürfen. Erklärungen der Regierung, dass man stattdessen die Wälder an anderer Stelle wiedererstehen ließe, seien absurd, da Waldgebiete nicht von heute auf morgen wüchsen. Auch Waldgebiete, die explizit von der Verfassung geschützt sind, sollen in Bauland umgewandelt werden.
Die neuen Katastrophenbauten entstehen bereits
„Schon jetzt, während es laufend zu Nachbeben kommt, finden Bauarbeiten statt“, kritisiert Aydın. Dies berge ein großes Risiko: „Bei Erdbeben und Nachbeben darf kein Bauwerk errichtet werden, denn es besteht das Risiko neuer Einstürze. Angenommen, der frisch gegossene Beton wird durch Nachbeben bewegt, bevor er trocknet. Dann bedeutet das, dass er nicht stabil ist. Auch die Formen, in die Beton gegossen wird, bewegen sich und die Metallstreben verziehen sich.“ Das Ministerium spreche von obligatorischen Bodengutachten, aber diese lieferten erst ein Jahr nach dem Beben sinnvolle Resultate. In der Praxis würden die Bauvorhaben aber im Eilverfahren genehmigt. So wird die nächste Katastrophe bereits vorprogrammiert.
Antakya, das antike Antiochia, gehört nach den jüngsten Erdbeben zu den besonders stark zerstörten Gebieten in der Türkei. Etwa 80 Prozent der Stadt liegen in Schutt und Asche | Foto: © MA
Gesammelte Hilfen von AFAD können an Ministerium fließen
Die von der Katastrophenschutzbehörde AFAD gesammelten Hilfen können indes direkt an das Ministerium weitergeleitet werden, berichtet Aydın weiter: „In einem Paragraphen des Dekrets heißt es, dass AFAD seine Mittel an das Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel überweist. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die für das Erdbeben gesammelten Hilfsgelder direkt an diese Behörde weitergeleitet werden. Wir wissen, dass die Macht der AKP seit Übernahme der Regierung vor 20 Jahren durch die Bauwirtschaft gestützt und erhalten wird. Da aber auch die Bauwirtschaft zusammengebrochen ist, wird es hier zu einer sehr fragwürdigen Situation kommen. Auch der Paragraph zum Thema Ausschreibungen ist so gestaltet, dass die Transparenz völlig in den Hintergrund tritt.“
Fünferbande soll sich die Taschen füllen
An welche Unternehmen das Geld des Ministeriums fließt, liegt ebenfalls im Gutdünken des Präsidenten. Dies wird vor allem die sogenannte Fünferbande des Regimechefs profitieren lassen. Die Fünferbande ist ein Zusammenschluss aus den Konzernen Cengiz, Limak, Kolin, Kalyon und Makyol. Diese fünf Megafirmen haben einen Großteil der Wirtschaft in der Türkei unter sich aufgeteilt und erhalten die Mehrheit der Staatsaufträge. Dabei geht es insbesondere um den Bau von Flughäfen, Brücken, Tunneln oder Krankenhäusern, auch ist die Fünferbande an Medienunternehmen beteiligt. An der Spitze dieser Bau-Lobby um Erdogan steht der Wirtschaftsboss Mehmet Cengiz, der seit dem Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002 zu viel Geld, Macht und Einfluss gekommen ist. Er und weitere Mitglieder seiner Familie tauchen oft auf der Forbes-Liste der reichsten Türken auf. Auch in den Panama Papers ist der Name von Mehmet Cengiz zu lesen.
Die Reste eines Galeria-Wohnturms, eine Wohnanlage mit 36 Apartments an den römischen Stadtmauern der kurdischen Stadt Amed (tr. Diyarbakır) | Foto: © MA
Zuletzt wurden der Fünferbande 418 Milliarden US-Dollar Steuerschulden vom Regime erlassen. Dennoch sind sich Konzerne wie die Cengiz Holding nicht zu schade, sich mit Spenden in Höhe von 150 Millionen Euro als Retter darzustellen. Der Staat sekundierte und erließ darauf dem Unternehmen für ein Großprojekt in Konya die Steuern und Sozialversicherungsausgaben und sprach ihm zusätzliche Subventionen zu.
Spendengalas als Geldwaschanlagen
Dieses Rad der Korruption und der Plünderung der gesellschaftlichen Ressourcen dreht sich durch das Beben immer schneller. Spendengalas scheinen für die Regierung und ihre Profiteure zu Geldwaschanlagen geworden zu sein. So wurden auf der Spendengala, auf der sich Mehmet Cengiz als Wohltäter präsentierte („Türkiye Tek Yürek“) 5,7 Milliarden Euro gesammelt. Dabei fließen die Spenden aus den Unternehmen, viele von ihnen mit direkter staatlicher Beteiligung, an den staatlichen Katastrophenschutz AFAD und stehen dem Ministerium für Umwelt, Stadtentwicklung und Klimawandel und damit dem Regimechef Erdogan zur Verfügung, um sie den AKP-Profiteuren im Bausektor zukommen zu lassen. Bei den größten Spendern handelt es sich um die türkische Zentralbank, mit 1,5 Milliarden Euro, gefolgt von Staatsunternehmen wie Turkish Airlines. Gleichzeitig wird so der Kriegshaushalt des Regimes entlastet.
Erdogan will Erdbebengebiet mit TOKI-Bauten überziehen
Seit dem Erdbeben von Gölcük 1999 mit knapp 18.000 Toten gibt es in der Türkei eigentlich strengere Bauvorschriften. Aus einem kürzlich erschienenen Bericht der TMMOB geht aber hervor, dass auch Neubauten bei den jüngsten Beben nicht wirklich Schutz boten. Knapp die Hälfte der Gebäude in der vom Erdbeben betroffenen Region sei nach 2001 gebaut worden - einer Zeit, in der bereits scharfe Bauvorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft waren. Trotzdem sei auch die Hälfte der eingestürzten oder stark beschädigten Gebäude aus dieser Zeit. Die TMMOB wirft der Regierung deshalb große Mitschuld am Ausmaß der Erdbebenkatastrophe vor. Durch die nachträgliche Legalisierung Tausender ungenehmigter Bauten und die Übertragung der Bauaufsicht auf die Privatwirtschaft habe sie das Leben etlicher Menschen aufs Spiel gesetzt und ihre Verantwortung für die Allgemeinheit vernachlässigt.
Es wird befürchtet, dass der Wiederaufbau der betroffenen Regionen unter den gleichen Prämissen betrieben wird. Erdogan verkündigte bereits die „frohe Botschaft“, das Erdbebengebiet innerhalb eines Jahres mit neuen TOKI-Bauten zu überziehen. Diese überdimensionalen und mangelhaften Hochhäuser mit „Sozialwohnungen“, die seit Jahren überall im Land wie Pilze aus dem Boden schießen, richten sich offiziell an Bevölkerungsteile mit geringem und mittlerem Einkommen. Die Bauaufträge vergibt die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI, die dem Ministerium für Stadtentwicklung untersteht. Die Fünferbande des AKP-Netzwerks sitzt bereits in den Startlöchern und wartet auf die öffentlichen Aufträge.