In vielen Städten in Europa haben am Samstag Demonstrationen gegen das Vorgehen des türkischen Staats nach der Erdbebenkatastrophe stattgefunden. Aufgerufen zu den Protesten hatten der Verband Demokratischer Kräfte in Europa (ADGB) und die Plattform der Kurdistan-Institutionen in Europa und die Kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E). Die Verbände machen die Erdogan-Regierung für das Ausmaß der Folgen verantwortlich und prangern Korruption im Bauwesen an.
Die türkische Regierung sei direkt verantwortlich für die Entstehung und Ausweitung dieser Katastrophe. Sie habe die Krise von Anfang an nicht bewältigen können und das Leid durch die Blockade freiwilliger Helferinnen und Helfer vergrößert. Durch die Verzögerung der Hilfsarbeiten seien noch mehr Menschen in den Trümmern gestorben. Viele Orte seien von Hilfslieferungen ausgeschlossen worden, Freiwillige wurden drangsaliert und festgenommen. Zivilgesellschaftlich organisierte Hilfsgüter seien beschlagnahmt und als staatliche oder AKP-Leistung deklariert worden, erklärte die TJK-E.
Auch in Deutschland sind Menschen gegen diese Politik auf die Straßen gegangen und haben zur verstärkten Solidarität mit den Erdbebenopfern aufgerufen.
Demonstration in Stuttgart: „Das Erdbeben erschüttert, doch der türkische Staat mordet“
In Stuttgart trafen sich Aktivist:innen auf der Lautenschlagerstraße und gedachten der Zehntausenden Toten der Erdbebenserie im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Anschließend setzte sich ein Schweigemarsch zum Rotebühlplatz in Bewegung. Auf dem Fronttransparent stand „Das Erdbeben erschüttert, doch der türkische Staat mordet“, auf mitgeführten Bildern wurde das Leid der Erdbebenopfer gezeigt. Offiziellen Angaben zufolge sind allein in der Türkei zwanzig Millionen Menschen von den Erdbeben betroffen. Auf dem Rotebühlplatz wurden Kerzen angezündet und es wurde eine gemeinsame Erklärung des ADGB und politischer Parteien aus Kurdistan verlesen. Die Aktivist:innen warnten vor einer Zweckentfremdung internationaler Hilfe durch die türkische Regierung und riefen zu Spenden an den Kurdischen Roten Halbmond (Heyva Sor A Kurdistanê e.V.) auf.
Schweigemarsch in Hamburg: „Nicht das Erdbeben tötet, sondern der Profit“
Auch in Hamburg fand ein Schweigemarsch statt. Auftakt war in der Ottenser Hauptstraße in Altona, wo die kurdische Kulturbewegung zeitgleich an einem Stand selbst zubereitetes Essen gegen Spenden für die Erdbebenopfer anbot. Die ADGB-Vertreterin Leman Stehn informierte in einer Ansprache über die Folgen des Erdbebens und warnte vor einer demografischen Veränderung im Erdbebengebiet. Der türkische Staat nutze die Katastrophe für „seine Politik der Entkurdifizierung der Region und der Ausdünnung der arabischen, alevitischen und christlichen Bevölkerung von Hatay“, erklärte Stehn: „Aus diesem Grund wurden die unter den Trümmern Verschütteten drei Tage lang nicht geborgen, und Such- und Rettungsteams aus verschiedenen Ländern der Welt mussten stundenlang auf den Flughäfen warten, was ihren Einsatz verzögerte.“
Die Hamburger Linksfraktionsvorsitzende Cansu Özdemir, die selbst mehrere Angehörige in Meletî (tr. Malatya) verloren hat, sagte in einer Rede: „Ein Erdbeben ist eine Naturkatastrophe, ein korrupter Staat ist es nicht. Durch unterlassene Hilfeleistung und profitable Baugeschäfte hat die Regierung Zehntausende Menschenleben auf dem Gewissen. Es erschüttert mich immer wieder aufs Neue, wie kaltblütig die AKP ist.“ Özdemir rief dazu auf, den Betroffenen im Erdbebengebiet solidarisch zur Seite zu stehen.
Die Demonstration führte von Altona zur Sternschanze.
Foto-Archiv-Kollektiv im Archiv der Sozialen Bewegungen
Kundgebung in Leipzig: „Türkei bombardiert Erdbebengebiete“
Das „Rojava Soli Bündnis Leipzig“ protestierte auf dem Willy-Brandt-Platz gegen die türkische Regierung. „Der türkische Staat hat genau das getan, was von ihm erwartet wurde. Der Grund für die Verzögerung des Eingreifens ist die Tatsache, dass im Erdbebengebiet kurdische und arabische Menschen unterschiedlichen Glaubens sowie Alevitinnen und Aleviten leben“, hieß es in einer Rede. Bei der Protestaktion wurde darauf hingewiesen, dass die kurdische Bewegung unmittelbar nach dem Erdbeben alle militanten Aktivitäten eingestellt hat und die Türkei ihre Angriffe in Kurdistan unvermindert fortsetze. In Nordsyrien seien sogar Erdbebengebiete bombardiert worden, unter anderem wurde ein Überlebender des Bebens in Aleppo, ein siebzigjähriger Zivilist, bei einem türkischen Angriff getötet. „Während die Menschen in der Türkei und in Kurdistan unter den Trümmern auf Rettung warteten, hat der türkische Staat seine mörderische Politik in Rojava und Südkurdistan fortgesetzt. Wir verurteilen diese Politik und werden unsere Solidarität vergrößern“, so die Leipziger Aktivist:innen.