Besê Erzincan, Koordinationsmitglied der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK), hat sich im ANF-Interview zur Erdbebenkatastrophe in Kurdistan, der Türkei und Syrien geäußert.
Wie bewerten Sie die Erdbebenkatastrophe in Kurdistan und das Bild, das sich danach ergab?
Von diesem Erdbeben waren viele Städte in der Türkei und im Nordosten Syriens betroffen, darunter Pazarcık, Elbistan, Maraş, Malatya, Adıyaman, Antakya, Amed, Sehba, Aleppo, Idlib und Latakia. Inoffiziellen Angaben zufolge gibt es hunderttausend Tote und Verwundete. Die Zerstörung, der Verlust von Menschenleben und die Migration nach diesem als Jahrhundertkatastrophe bezeichneten Erdbeben trifft die gesamte Menschheit, unser Volk, unsere Freundinnen und Freunde und uns alle zutiefst. Auf dieser Grundlage sprechen wir den Angehörigen derjenigen, die bei dieser Erdbebenkatastrophe ihr Leben verloren haben, unser Beileid aus und wünschen den Verletzten eine rasche Genesung.
Offenbarung von Staat und Regierung
Dieses schreckliche Erdbeben hat die Realität des Staates und der Regierung der Türkei auf eindrucksvolle Weise offenbart. Das Gründungsprinzip der Republik Türkei beruht auf der Politik der Türkisierung und Sunnitisierung aller Völker und Glaubensrichtungen, insbesondere der Armenier:innen und Kurd:innen. Diese faschistische, monistische, nationalistische, religiöse und sexistische Staatsmentalität hat sich heute unter dem Deckmantel des politischen Islams noch weiter dogmatisiert und verhärtet und mit der AKP-Regierung als Spezialkriegsregierung ihren Höhepunkt erreicht. Der unter der Führung des Faschisten Erdoğan verfolgte Ansatz, Anatolien und Mesopotamien zu turkifizieren und die alte osmanische, expansionistische Politik in diesen Regionen auszubauen, ist allseits bekannt.
Da sich die AKP/MHP-Regierung in diesem Zusammenhang völker-, frauen- und glaubensfeindlich profiliert hat und dies als Existenzprinzip ansieht, betrachtet sie es als ihr gutes Recht, alle möglichen hässlichen Praktiken auszuüben, um an der Macht zu bleiben. Sie geht bei ihrer Politik des Völkermords, der Verleugnung und der Ausrottung keine Kompromisse ein, ganz gleich, wie schwerwiegend die gesellschaftlichen Katastrophen auch sein mögen. Mit großer Unehrlichkeit und Heuchelei erklären die Staatsvertreter nun, dass die Erdbebenkatastrophe ein Schicksal sei. Es ist jedoch kein Schicksal. Es ist nicht das Schicksal, das Menschen in den Tod führt. Es ist nicht das Erdbeben. Es sind die unsoziale, volksfeindliche Politik, die Nachlässigkeit, der Diebstahl und die Korruption der Regierung. Die AKP/MHP-Regierung mit ihrem faschistischen Nationalismus spaltet und zersplittert die Gesellschaft und hetzt Menschen gegeneinander auf. Gleichzeitig verlangt sie von der Gesellschaft, die sie mit einem extremen Nationalismus ausgestattet und geformt hat, die Augen vor der Völkermordpolitik zu verschließen, die sie gegen die Kurdinnen und Kurden betreibt. Sie versucht, ihre Macht zu verewigen und dauerhaft zu machen, indem sie aus der Feindseligkeit dem kurdischen Volk gegenüber Profit zu schlagen versucht.
Mit ihrer opportunistisch-profitorientierten Politik hat sich diese menschenverachtende Regierung bereichert. Sie hat einen faschistisch-nationalistischen Diskurs propagiert, um die Ausbeutung der Gesellschaft zu intensivieren. Durch ihre profitorientierte und auf Krieg basierende Wirtschaft hat sie eine Handvoll männlich dominierter Monopolisten bereichert und die Gesellschaft verarmen lassen.
Die Regierung hat in Kurdistan bewusst nicht interveniert
Die AKP/MHP-Regierung hat nach dem Erdbeben in Nordkurdistan bewusst nicht vor Ort eingegriffen. Obwohl die ersten Stunden und Tage nach einem Erdbeben lebenswichtig sind, wurde nichts Ernsthaftes unternommen und staatliche Einrichtungen wurden in keiner Weise in die Region mobilisiert. Denn bei der Bevölkerung in der Erdbebenregion handelt es sich überwiegend um kurdische und arabische Alevitinnen und Aleviten. Unser Volk wurde eindeutig und absichtlich unter den Trümmern zurückgelassen.
Es ist allgemein bekannt, dass die Region auf der Erdbebenlinie liegt. Erdbeben sind extreme Naturkatastrophen. Das technische Niveau, das die Menschheit erreicht hat, ist in der Lage, die Zahl der Todesopfer auf den Nullpunkt zu bringen. In Ländern wie zum Beispiel Japan sind Erdbeben viel stärker als in Nordkurdistan. Trotzdem kann die Zahl der Verletzten und Toten extrem niedrig bleiben. Die faschistische AKP/MHP-Regierung ist für den Tod von Hunderttausenden von Menschen verantwortlich, und zwar sowohl mit ihrer Siedlungspolitik, der Städteplanung und dem Zwangsverwaltungsregime vor dem Erdbeben als auch mit ihrer äußerst unzureichenden Hilfspolitik nach dem Erdbeben.
Wie bewerten Sie das Verhalten der AKP/MHP-Regierung nach dem Erdbeben?
Die faschistische Regierung ist nicht nur für die Todesfälle und Massaker nach dem Erdbeben verantwortlich. Gleichzeitig entführt sie Waisenkinder und übergibt sie an Sekten und staatliche Einrichtungen, sie verhindert und stiehlt eingehende Hilfe. Menschen, die sich auf den Weg machen, um den Erdbebenopfern zu helfen, wird mit Misstrauen und Hass begegnet. Sie werden misshandelt und es wird versucht, sie davon abzubringen. In Pazarcık, Maraş, Adıyaman, Hatay soll die alevitische kurdische und arabische Bevölkerung ihre Wohnorte verlassen und auswandern. Der Staat unterlässt nicht nur die Hilfeleistung, er verschärft die Situation. Diese Politik wird offen und heimlich durchgeführt und verletzt die Gesellschaft zutiefst.
In der Türkei war der Staat noch nie so feindselig gegenüber der gesamten Gesellschaft, insbesondere gegenüber unserem Volk, wie unter der AKP-Regierung. Die faschistische Erdoğan-Regierung hat auf die hässlichste, verachtenswerteste, grausamste und rücksichtsloseste Art und Weise in einem Moment, in dem die Bevölkerung den größten Schmerz erlitt, von dieser Situation zu profitieren versucht. Das ist das Ende der Menschlichkeit. Dass die AKP selbst in den schlimmsten Situationen, in denen die Menschen hungern und frieren, nur an ihre eigenen Anhänger denkt, zeigt wie abgrundtief unmoralisch sie ist.
Die Erdoğan-Regierung hat seit ihrer Machtübernahme die grausamsten Maßnahmen gegen die Gesellschaft ergriffen. So wurde beispielsweise vor diesem Erdbeben mehrmals eine Amnestie für den Bau von Gebäuden erlassen. Tausende von Bauunternehmern wurden nicht bestraft, obwohl sie jede Unregelmäßigkeit begingen. Die Türkei hat sich zu einem Paradies der Lüge, des Betrugs, der Mafia, des Wuchers, der Rechtlosigkeit, der Willkür und der Gesetzlosigkeit entwickelt. Bereits die unrechtmäßige und ungerechte Ernennung von kolonialen Zwangsverwaltern für die Städte und Gemeinden in Nordkurdistan hat die Unverfrorenheit und die Gier dieser faschistischen Macht gezeigt. Sie hat der Gesellschaft einen eigenen Willen abgesprochen und sich dabei auf die Staatsgewalt verlassen.
Vom Staat ist keine Hilfe zu erwarten
Von der blutigsten Regierung in der Geschichte der Türkei zu erwarten, dass sie den Völkern, den Kurd:innen, den Araber:innen, den Alevit:innen und den Frauen nach dem Erdbeben hilft, ist daher wirklich naiv. Wir sollten nicht vergessen, dass das, was eine Regierung in der Vergangenheit getan hat, der grundlegende Indikator dafür ist, was sie heute und in Zukunft tun wird.
Die AKP-Regierung mit ihrer faschistischen, kolonialistischen Politik hat die Türkei in jeder Hinsicht in eine große Zerstörung und Tragödie gestürzt. Obwohl die Möglichkeit eines Erdbebens von Wissenschaftler:innen im Voraus festgestellt wurde, wurden keine Maßnahmen ergriffen. Die Erdoğan-Regierung hat einerseits keine Maßnahmen ergriffen und keine Vorbereitungen getroffen, andererseits hat sie die Eigendynamik und Eigeninitiative der Gesellschaft, die lokalen Initiativen, Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsparteien nicht zu Hilfe kommen lassen und die gesammelten Hilfsgüter beschlagnahmt, wodurch das Massaker noch schlimmer wurde. Daher sollten Erdoğan, Bahçeli, Soylu und andere Minister an der Spitze der faschistischen Regierung sofort zurücktreten. Sie geben jedoch weiterhin die schamlosesten und dreistesten Erklärungen ab, als ob nichts geschehen wäre, und erheben obendrein die schwersten Anschuldigungen gegen die Opposition. Mit diesem Erdbeben und seinen Ergebnissen wurde das hässliche und grausame Gesicht der AKP-Regierung enthüllt. Die Menschen in der Türkei, die Frauen, werden dieser faschistischen Regierung bei den Wahlen die notwendige Antwort geben. Die AKP wird unter den Trümmern begraben werden und verlieren.
Ihre Bewegung hat beschlossen, in dieser Zeit keine Aktionen durchzuführen, und das kurdische macht Solidaritätsarbeit. Was können Sie dazu sagen?
Im Zusammenhang mit dem Erdbeben hat der KCK-Vorsitzende einen Aufruf an die HPG und YJA Star gerichtet und erklärt, dass in dieser Zeit keine Aktionen durchgeführt werden sollten, sondern dass sie nur dann reagieren sollten, wenn es einen Angriff gibt. Die HPG und YJA Star haben diesen Ansatz akzeptiert und erklärt, in diesem für unser Volk schmerzhaften Prozess nicht aktiv zu werden. Entgegen dieser humanitären und bewundernswerten Haltung setzt die AKP-Regierung die Angriffe gegen die Guerilla in den Regionen Zap und Avaşîn fort und nutzt dabei alle möglichen Techniken, einschließlich verbotener chemischer Waffen. Anlässlich des Erdbebens hat sie ihre Angriffe gegen unser Volk mit der Verhängung des Ausnahmezustands noch verstärkt. Damit hat sie der Welt ihr unmenschliches, skrupelloses Gesicht in seiner ganzen Nacktheit gezeigt. Dagegen werden die Guerilla und unser Volk natürlich weiterhin ihre eigene Selbstverteidigung unter allen Umständen und auf die wirksamste Weise durchführen.
Was ist mit den von Frauen geführten Solidaritätskampagnen?
Die humanitäre, geschwisterliche und freundschaftliche Haltung des kurdischen Volkes, der Frauen und der Völker und Religionen des Nahen Ostens angesichts dieses Erdbebens und ihre Haltung, den Menschen in den Erdbebengebieten zu helfen und sie zu unterstützen, haben ein Beispiel für die ganze Welt gesetzt. Aus verschiedenen Teilen Kurdistans und der Türkei, insbesondere von unseren Landsleuten in Botan, sowie aus Europa wurde Hilfe geschickt. Und die Menschen, die in die Erdbebengebiete gingen und arbeiteten, haben mit ihrem selbstlosen Einsatz zur Einheit des kurdischen Volkes und der Völker im Nahen Osten, zum Gefühl der Geschwisterlichkeit, zur Entwicklung von Liebe und Respekt, zu Moral und Motivation und zum Widerstand und Überleben der Bevölkerung im Erdbebengebiet beigetragen. Die Frauen haben angesichts des Erdbebens ein vorbildliches Verhalten gezeigt. Diejenigen, die in die Erdbebengebiete strömten, standen unserem Volk unter der Führung von HDP und TJA [Bewegung Freier Frauen] zur Seite und versuchten, die Wunden der Erdbebenopfer zu heilen. Auch viele Oppositionsparteien und Nichtregierungsorganisationen aus der Türkei standen den Menschen zur Seite. Frauen gingen freiwillig in das Erdbebengebiet, organisierten sich und übernahmen eine sichtbare Führungsrolle in der Gesellschaft. Hilfskonvois wurden von Südkurdistan nach Nordkurdistan und Nordsyrien, bis nach Şehba, geschickt. Die Menschen in Europa sind seit dem ersten Tag des Erdbebens mit viel gesundem Menschenverstand auf den Beinen gewesen. Sie haben sich mit allem, was sie haben, mobilisiert. Unser Volk, unsere Freundinnen und Freunde und Hilfsorganisationen aus verschiedenen Ländern haben den Erdbebenopfern beigestanden.
Solidarität ist der einzig mögliche Ansatz
Bei dieser Gelegenheit grüßen und beglückwünschen wir alle Menschen, die Hilfe in die Erdbebengebiete geschickt und dort persönlich gearbeitet haben. Wir grüßen vor allem die Menschen in Pazarcık, Adıyaman, Malatya, Hatay, Aleppo und Şehba. Sich in diesen sehr schwierigen Tagen gegenseitig zu helfen, zusammen zu sein, den Schmerz zu teilen und die Bedürfnisse zu erfüllen, ist in ethischer und humanitärer Hinsicht der einzig mögliche Ansatz. Es ist eine patriotische Aufgabe, eine freiheitliche, sozialistische Haltung.
Obwohl der Schmerz dieses Erdbebens sehr groß ist, kann er mit Hilfe, Solidarität, tiefen Gefühlen der Nächstenliebe, Freundschaft und Einheit überwunden werden. Wie groß unser Leid auch sein mag, wir können die Last dieser Katastrophe lindern, indem wir uns gegenseitig stärken. Auf dieser Grundlage müssen die Völker, insbesondere die Frauen und unser gesamtes Volk, den Menschen in den Erdbebengebieten weiterhin organisiert zur Seite stehen und noch mehr tun als bisher.
Die größte Kraft ist die geistige Stärke, die aus der Gesellschaft kommt und Menschen erfüllt, die sich gegenseitig stärken. Diese geistige Kraft kann auch materielle Defizite Schritt für Schritt überwinden. Sie ist es, die uns die Kraft gibt, den Schwierigkeiten des Lebens zu widerstehen und wieder aufzustehen. Mit anderen Worten: Die Selbstkraft der Gesellschaft ist die grundlegendste, die einzige Kraft, die aus unserer Sicht alle Arten von Schwierigkeiten überwinden kann. Diese schwierigen Tage können nur mit der Unterstützung und Hilfe überwunden werden, die die Frauen an der Spitze der Gesellschaft und die gesamte Gesellschaft den Menschen in den Erdbebengebieten aus eigener Kraft bieten.
Unser Volk kann alle Arten von Katastrophen mit seiner eigenen Selbstorganisation überwinden, ohne etwas vom Staat zu erwarten. Es kann den Schmerz der Wunden lindern. Es kann heilen.
Wie bewerten Sie die Bemühungen der AKP/MHP-Regierung zur Entvölkerung der Erdbebengebiete?
Die Politik der Türkisierung westlich des Euphrat, die der Staat zuvor mit dem Östlichen Reformplan vor allem in Pazarcık, Adıyaman und Hatay umzusetzen versuchte, soll jetzt durch Erdbeben und Zerstörung realisiert werden. Die demografische Struktur Kurdistans wird unter dem Vorwand des Erdbebens verändert. Unser Volk wird zur Auswanderung gezwungen. Die Araber aus Antakya und die Kurden aus Adıyaman und Maraş sollen von ihrer Heimat getrennt werden. Diese Gebiete sollen in rein türkische Provinzen verwandelt werden. In Anbetracht dieser Politik sollte unser Volk niemals sein eigenes Land verlassen. Die zerstörten Häuser, Viertel und Städte müssen auf irgendeine Weise wieder aufgebaut werden. Diejenigen, die ihre eigenen Städte und Dörfer gezwungenermaßen verlassen haben, müssen die Voraussetzungen dafür schaffen und zurückkehren. Auf dieser Grundlage rufen wir unser Volk dazu auf, sich seiner eigenen Städte und Dörfer anzunehmen.
Für die Kinder muss ernsthaft gekämpft werden
Zudem geht es um die staatliche Politik, sich nach dem Erdbeben Hunderte Waisen anzueignen und die elternlosen Kinder von der eigenen Gemeinschaft zu entfremden, um sie zu Soldaten, Beamten, Agenten und Mördern des eigenen Volkes zu machen. Das hat Tradition im türkischen Staat. Nach dem Dersim-Aufstand sind Tausende Kinder verschleppt worden. Diese Kinder werden der Assimilation unterworfen, was eine grausame und sehr hässliche Form des Völkermords ist.
Unser Volk, politische Parteien, Institutionen und Nichtregierungsorganisationen sollten diese Angelegenheit unbedingt verfolgen. Die Kinder sollten zu ihren Verwandten, zu ihrer eigenen Gemeinschaft gebracht werden. Die Familien und Verwandten sollten sich während des Erdbebens gegenseitig um die Kinder der anderen kümmern. Kein einziges Kind sollte dem Staat überlassen werden. Dies erfordert eine ganz besondere Arbeit, Recherche und Sensibilität, das Thema muss auf die öffentliche Agenda kommen. Frauenorganisationen, juristische Organisationen und die Gesellschaft müssen sich sehr ernsthaft dafür einsetzen. Für diese Kinder muss ernsthaft gekämpft werden.
In diesem Sinne möchten wir noch einmal betonen, dass wir immer an der Seite unseres Volkes, der Gesellschaft und der Frauen überall stehen.
Die faschistische AKP/MHP-Regierung wird für die schrecklichen Massaker, die durch diese Erdbebenkatastrophe verursacht wurden, zur Rechenschaft gezogen werden. Die Bevölkerung der Türkei und die Frauen werden diesen blutigen Faschismus zur Rechenschaft ziehen und es wird ihnen mit Sicherheit gelingen, die AKP/MHP-Regierung auf die dunklen Seiten der Geschichte zu verbannen.