KCK warnt vor kurdisch-alevitischem Exodus

Das Epizentrum des Erdbebens lag in Maraş, einer kurdisch-alevitischen Region, in der bereits mit dem Pogrom von 1978 eine Massenauswanderung ausgelöst wurde. Die Entvölkerung soll jetzt fortgesetzt werden, warnt die KCK und ruft zum Widerstand auf.

Nach dem schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet droht weiteren Gebieten Kurdistans die Entvölkerung. Das Epizentrum lag in einer Region mit einem hohen alevitischen Bevölkerungsanteil, die Menschen haben ihre Lebensgrundlage verloren. Auf ANF-Anfrage hat sich das Komitee für Völker- und Glaubensangelegenheiten der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) zu dem Thema geäußert. Das Komitee weist auf die auf einen Völkermord abzielende Politik des türkischen Staates hin und ruft die kurdisch-alevitische Bevölkerung dazu auf, ihre Heimat nicht zu verlassen und ihre Identität nicht aufzugeben.

Der Staat ist für die zerstörerischen Folgen verantwortlich

Zu der Erdbebenkatastrophe und der staatlichen Verantwortung für die Folgen erklärt das KCK-Komitee: „Ein Erdbeben ist zweifellos eine Naturkatastrophe. Die Natur, von der wir ein Teil sind und in der wir leben, hat eine funktionierende Ordnung. Sie ist in ständiger Bewegung und versucht, ihr eigenes Gleichgewicht gemäß ihrer eigenen Sprache herzustellen. In dieser Hinsicht ist das Erdbeben etwas Natürliches. Unnatürlich ist die Art und Weise, wie die menschliche Spezies auf dieses Erdbeben reagiert. Es ist nicht normal, dass die Menschen die zerstörerischen Folgen von Erdbeben in einem solchen Ausmaß erleben, obwohl die Verwerfungslinien bekannt sind und sogar der Ort und die Stärke möglicher Erdbeben vorhergesagt werden können. Auch hier besteht kein Zweifel, dass der Staat, der das Recht auf Selbstverwaltung der Gesellschaft usurpiert und alle Lebensbereiche monopolisiert hat, dafür verantwortlich ist. Der Staat ist verantwortlich für die Organisation der Siedlungen, in denen das gesellschaftliche Leben stattfindet. Deshalb ist die Republik Türkei für die Folgen der beiden Erdbeben mit Epizentrum in Maraş [ku. Gurgum] verantwortlich. Es wurden so viele Menschen getötet, weil nicht die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, und der Mörder ist die Republik Türkei unter der kapitalistischen, geldgierigen und unmoralischen AKP/MHP-Regierung. Sie hat aus Profitgier die Bebauung ungeeigneter Gebiete zugelassen, mehrfach Amnestien als Baufrieden durchgesetzt, keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen und die vorgeschriebenen Anforderungen in den Erdbebengebieten in Kurdistan und der Türkei ignoriert. Es besteht kein Zweifel, dass die Regierung für dieses schmerzliche und schockierende Bild zur Rechenschaft gezogen werden muss“, erklärt das Komitee.

Kurdisch-alevitische Bevölkerungsdichte im Erdbebengebiet

Über diese direkte Verantwortung für die Folgen des Erdbebens hinaus zeige die Regierung wieder einmal, „wie niederträchtig, eigennützig und menschenfeindlich sie ist, indem sie den Menschen in den zerstörten Orten nicht die notwendige Hilfe zukommen lässt und Menschen, die helfen wollen, daran hindert.“ Der Regierung gehe es selbst in dieser apokalyptischen Situation nur um den eigenen Machterhalt, betont das KCK-Komitee und führt dazu weiter aus:

„Bekanntlich lag das Epizentrum der Erdbeben in einer Region mit einer hohen kurdisch-alevitischen Bevölkerungsdichte. Die Menschen im Erdbebengebiet sagen, dass der Grund, warum die Republik Türkei, die sich damit rühmt, einer der mächtigsten Staaten der Welt zu sein, ihnen Hilfe zukommen lässt und sogar die Hilfe von gesellschaftlichen Gruppen und unserem Volk verhindert, darin liegt, dass sie Kurd:innen und Alevit:innen sind. Das ist eine Tatsache, denn die türkische Republik hat seit dem Tag ihrer Gründung nur eine Politik gegenüber diesen beiden Identitäten verfolgt: den Völkermord. Das kurdische Volk ist seit hundert Jahren einem physischen Völkermord ausgesetzt und soll mit einem kulturellen Völkermord durch die Auflösung innerhalb des Türkentums vernichtet werden. Das Alevitentum ist ein Glaube, der innerhalb des türkisch-islamistischen Nationalstaates eingeschmolzen und zerstört werden soll. Der Grund, warum die nach dem Erdbeben mobilisierte Hilfe blockiert wird, ist die kurdisch-alevitische Identität der Bevölkerung in den betroffenen Regionen. Diese Identität soll zerstört werden und die durch das Erdbeben verursachte Zerstörung und die Todesopfer werden von der Regierung als günstige Gelegenheit für ihre Völkermordpolitik betrachtet. Denn diese Regierung sieht die Menschen in dieser Region als Feind, der vernichtet werden muss. Dass der Staat die vom Erdbeben betroffenen Menschen im Stich lässt, ist also nicht das Ergebnis von Unmöglichkeiten, sondern einer ganz bewussten und geplanten Völkermordpolitik.

1978: Das Pogrom von Maraş

Es handelt sich dabei um eine hundertjährige staatliche Politik. Bekanntlich wurde unmittelbar nach der Gründung der PKK im Dezember 1978 ein groß angelegtes Pogrom durchgeführt, um Maraş von seiner kurdischen und alevitischen Bevölkerung zu säubern. Mehr als tausend Menschen wurden brutal massakriert, während der Rest aus dem Land fliehen sollte. Bereits damals wurde die einheimische Bevölkerung mit Drohungen, Erpressung und Druck aufgefordert, Kurdistan zu verlassen. Das geschah sowohl durch Ausreiseerleichterungen durch den türkischen Staat als auch die Aufnahmebereitschaft einiger europäischer Staaten, die mit der Türkei kooperierten. Was tatsächlich geschah, war die Umsetzung eines Gladio-Plans. Es sollte verhindert werden, dass unsere sich entwickelnde Bewegung in den kurdisch-alevitischen Gebieten Fuß fassen konnte. In dieser Region wurde eine Politik des Völkermords und der Entvölkerung betrieben, die sowohl historische als auch aktuelle Ziele verfolgte und bis zu einem gewissen Grad auch erfolgreich war. Ein sehr großer Teil der in dieser Region lebenden Bevölkerung wanderte aus ihrem angestammten Land Kurdistan in die Metropolen der Türkei, vor allem aber auch nach Europa aus.

Die Regierung will das Erdbeben für sich nutzen

Die aktuellen Geschehnisse zeigen, dass diese unvollendete Politik des Völkermords und der Vertreibung anlässlich des Erdbebens vollendet werden soll. In der gegenwärtigen Situation wird alles dafür getan, damit die kurdisch-alevitische Bevölkerung das Erdbebengebiet dauerhaft verlässt. Indem man nicht hilft und darüber hinaus verhindert, dass die nichtstaatliche Hilfe ankommt, wird den Menschen signalisiert: ,Hier gibt es kein Leben mehr'. Auf diese Weise soll die jahrhundertealte Politik der forcierten Auswanderung vollendet werden. Die Orte, an denen kurdische Alevitinnen und Aleviten leben, werden entvölkert. An ihrer Stelle sollen die vom türkischen Staat instrumentalisierten ,Migranten' angesiedelt werden. Schon vor einiger Zeit wurde in den Medien berichtet, dass in Maraş, wo die gesamte Bevölkerung kurdisch und alevitisch ist, Lager für sunnitisch-arabische Einwanderer eingerichtet werden. Das allein zeigt schon, welche Politik in Bezug auf die kurdisch-alevitischen Siedlungsgebiete betrieben wird und welche Art von demografischem Wandel man anstrebt. Jetzt soll das Erdbeben zum Anlass genommen werden, diese systematische Politik der Vertreibung und des Völkermords zu einem endgültigen Ergebnis zu bringen.“

Das Erdbeben hat gezeigt, wie lebendig und solidarisch die Gesellschaft ist

Das KCK-Komitee appelliert an die kurdisch-alevitisch Bevölkerung, sich diese Politik bewusst zu machen und zu vereiteln, indem sie ihre angestammte Heimat nicht verlässt, ihrem Land und ihrer Kultur verbunden bleibt und Widerstand leistet. Das gesamte kurdische Volk und allen demokratischen Kreisen falle die Aufgabe zu, diesen Widerstand zu unterstützen.

Das Erdbeben habe gezeigt, „wie unsozial der Staat, wie unmoralisch und geldgierig die AKP/MHP-Regierung und wie solidarisch und widerstandsfähig die Gesellschaft ist“. Auf der einen Seite stehe „eine Schande, die nicht in Worte zu fassen ist“, auf der anderen Seite „eine Tugend, auf die die ganze Menschheit stolz sein kann. Auf der einen Seite stehen Kreaturen, die sich als Menschen ausgeben, aber längst nicht mehr menschlich sind, und auf der anderen Seite die schönsten und unverzichtbarsten Beispiele für die Solidarität im menschlichen Leben. Die ganze Welt hat diese Gegenpole gesehen“.

Den Geist der Solidarität und Einheit stärken

Jetzt sei es an der Zeit, „den Geist der Solidarität und Einheit zu stärken, die Wunden in den Erdbebengebieten zu heilen und die Mobilisierung zur Überwindung der Probleme zu intensivieren“, fordert das Komitee: „Die Solidarität sollte so groß sein, dass die Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen. Solidarität ist notwendig für den Wiederaufbau der zerstörten Siedlungen an geeigneteren Orten und auf robuste Weise. Zu diesem Zweck können Arbeitskollektive gebildet, Häuser gebaut, die notwendigen finanziellen Hilfen bereitgestellt und Wohnräum in geeigneter Weise und unter den möglichen Bedingungen wieder aufgebaut werden. Es gibt nichts, was die Gesellschaft nicht tun kann, wenn sie ihre Kräfte bündelt. Denn die größte Macht ist die Gesellschaft selbst. Es genügt, wenn wir uns von dem individualistischen Leben befreien, das uns die kapitalistische Moderne aufzwingt, und von der Ausbeutung durch das kolonialistisch-genozidale Regime, das die Völker voneinander entfernt. Nach dem Erdbeben kamen sofort Menschen aus allen sozialen Schichten der Türkei in das Katastrophengebiet, um zu helfen. Das zeigte einmal mehr, wie erfolglos die kapitalistische Moderne und das Regime sind und wie mächtig die Gesellschaft. Alle haben gesehen, wie hilflos, schwach und egoistisch die Herrschenden sind und wie solidarisch, sensibel und gemeinschaftlich die Gesellschaft ist. Es wurde wieder einmal deutlich, wie lebendig die gemeinschaftliche und soziale Natur der Menschen trotz aller Angriffe ist. Wir können alle Schmerzen lindern und alle Schwierigkeiten überwinden, indem wir uns auf die soziale Gesellschaft stützen und sie wachsen lassen. Zweifelsohne hat die demokratische Politik in dieser Hinsicht viel zu tun. Denn es ist sehr wichtig und notwendig, dieses Solidaritätsnetz zu organisieren. Demokratische Politik bedeutet, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Es ist die Aufgabe der Politik, die Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gesellschaft zu organisieren. Die bisherige Sensibilität und Entschlossenheit zeigen, dass dies gelingen kann. Deshalb müssen wir als gesellschaftliche Kräfte alles selbst tun, ohne von den lebens-, natur-, gesellschafts- und menschenfeindlichen Herrschenden und vom Staat etwas zu erwarten.

Wir müssen uns wehren

Darüber hinaus müssen wir gegen den Staat und die Regierung kämpfen, die für diese Zerstörungen verantwortlich sind. Wir müssen Rechenschaft fordern, indem wir uns wehren. Wir müssen sie für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen, damit wir unsere Natur, uns selbst und das Leben aller Völker garantieren können. Andernfalls werden die Türkei und Kurdistan als Erdbebenland viele ähnliche Zerstörungen erleben."

Foto: MA