Noch keine Woche ist seit den Erdbeben in Kurdistan, der Türkei und Syrien vergangen. Die Opferzahlen sind auf über 28.000 gestiegen, Tausende Häuser sind zerstört und unzählige Menschen unter ihnen begraben. Für die hohe Opferzahl in der Türkei wird insbesondere auch die seit dem Militärputsch herrschende neoliberale Politik verantwortlich gemacht. So hat das AKP-Regime seit 2002 allein acht Bauamnestien durchgeführt. Die neunte liegt bereits in der Schublade. Bauamnestien sind Regelungen, mit denen Gebäude gegen Geldzahlung an das Regime legalisiert werden können. Dabei wird die Überprüfung der Sicherheit der Gebäude den Eigentümern überlassen. Die Konsequenz dieser Politik zeigt sich in den unzähligen Toten, die unter den Trümmern des letzten Erdbebens liegen. Irregulärer Bau ist in der Türkei und Nordkurdistan nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Neben dem Präsidentenpalast, der selbst der größte illegale Bau in der Türkei ist, wurden ganze Stadtteile, Flughäfen und Krankenhäuser komplett jeder Bauvorschrift zu wider errichtet. Neben der fehlenden Eignung des Geländes wird vor allem an Bausubstanz gespart, Gebäude werden immer weiter in die Höhe gebaut, so dass die Mauern es kaum noch tragen.
Allein 2018 fast sechs Millionen illegale Bauprojekte legalisiert
Unter der Ministerpräsidentschaft von Turgut Özal (1983-1989) wurde das durch die Militärjunta durchgesetzte neoliberale Wirtschaftsprogramm im Bausektor umgesetzt. So erließ Özal 1984 eine Amnestie für illegale Bauten. Seitdem gab es regelmäßig solche Amnestien. Zuletzt wurden im Jahr 2018 als Wahlkampfgeschenk der AKP 5.848.927 Wohnungen in der Türkei und Nordkurdistan legalisiert. Insgesamt handelte es sich sogar um 7.085.969 Gebäude. Unter der Herrschaft der AKP wurde die neoliberale Orientierung der Ökonomie ab 2002 zum Hauptziel. 2022 brachte die faschistische BBP, der kleinste Juniorpartner des AKP/MHP-Regimes, einen erneuten Gesetzentwurf für eine weitere Amnestie ein. Diese neunte Bauamnestie liegt im Moment dem Ausschuss für Umwelt- und Stadtentwicklung des Parlaments vor. Sie wurde erneut einerseits als eine Investition für die Wahl befördert, andererseits aber auch als profitversprechende Anlage entworfen. Der Gesetzentwurf übersteigt vorherige Amnestien in seiner Dreistigkeit. Gebäude, die entgegen dem Baurecht errichtet wurden, die Flächennutzungsprobleme aufweisen, die widerrechtlich Gärten, Balkons oder Parkplätze oder illegal aufgebaute weitere Etagen haben sind mit einbezogen. Der vom BBP-Vorsitzenden Mustafa Destici am 11. Oktober 2022 dem Präsidium des türkischen Parlaments vorgelegte „Gesetzesentwurf zur Änderung des Raumordnungsgesetzes“ zielt auf eine Legalisierung aller vor dem 30. Juli 2022 illegal errichteten Gebäude ab. Mit der auf die Tagesordnung gesetzten Amnestie sollen alle illegalen Bauten, einschließlich Gebäude und Anlagen in Küstengebieten, landwirtschaftlichen Flächen, Waldgebieten, Trinkwassereinzugsgebieten und historischen, natürlichen und archäologischen Stätten, legalisiert werden.
Ministerium: Sorge wegen Einsturzgefahr endet mit Legalisierung
Die Aussage des Ministeriums im Hinblick auf die Bauamnestie 2018, dass die Sorge wegen der Einsturzgefahr von Gebäuden mit deren Eintragung ins Bauregister enden werde, zeigt symptomatisch die zynische Logik des Regimes. In typisch neoliberaler Art stellte sich das Ministerium auf den Standpunkt, die Prüfung der Erdbebensicherheit von gefährdeten Gebäuden sei nicht Sache des Ministeriums, sondern der Eigentümer.
Der Staat entzieht sich der Verantwortung – Legalisierung gegen Geld
Die herrschenden Eliten argumentieren vordergründig immer mit der „Belastung der Bürger“. Real stehen aber ganz andere Interessen hinter den Amnestieregelungen. Das einzige Kriterium für eine Legalisierung ist nämlich, dass der Bauherr des illegalen Gebäudes einen Antrag stellt und Geld an den Staat zahlt. Das Ministerium übernahm die Aufgabe, die Staatskasse zu füllen, während die Verantwortung zur Kontrolle und Prüfung der Bauten der Gesellschaft übertragen wurde. Der Staat entzieht sich mit der Zuweisung der Verantwortung an die Gesellschaft, die notwendigen Gutachten für die Gebäude einzuholen, den Boden und die Materialien zu untersuchen und zu überprüfen, ob die Bauweise dem angegebenen Plan entspricht.
Der für Stadtplanung verantwortliche Minister Murat Kurum (AKP) brachte die hinter den Bauamnestien liegende Logik auf den Punkt. Er sagte, dass man die Ausdehnung der Amnestie (von 2018) in Betracht ziehe, da die angestrebten Einnahmen nicht erzielt werden konnten. Kurum erinnerte daran, dass die Antragsfrist am 31. Oktober ablaufe, und erklärte, dass die Einnahmen, die zuvor auf 40 Mrd. TL angesetzt worden waren, weiterhin nur bei 5 Mrd. TL lägen.
Ingenieursverband 2020: „Die Bauamnestien müssen verboten werden“
Bereits nach dem Erdbeben im Jahr 2020 in Izmir forderte der Verband der Ingenieure und Architekten (TMMOB) im Fazit eines Berichts, dass alle im Rahmen der letzten Amnestie erteilten Genehmigungen annulliert werden müssten: „Es ist wichtig, bereits bei der Auswahl des Standorts einen dem Katastrophenrisiko entsprechenden Flächennutzungsplan zu erstellen. Wenn die Planung, der Bau, die Inspektion und die Instandhaltung der Gebäude, in denen wir leben, weiterhin nach dem Rentabilitätsprinzip erfolgt, werden Erdbeben weiter verheerende Folgen haben. Der einzig bekannte Weg, erdbebensichere Siedlungen und Gebäude zu entwerfen und zu bauen und Erdbebenschäden und den Verlust von Menschenleben zu verringern, ist die umfassende Einbeziehung von Ingenieuren, Architekten und Stadtplanern. In diesem Rahmen müssen unkontrollierte und illegale Bauvorhaben sofort gestoppt werden. Bauamnestien müssen verboten werden und alle in diesem Rahmen erteilten Genehmigungen müssen annulliert werden.“
Architektenkammer 2022: „Bauamnestie bedeutet ein Massaker“
Der Vorsitzende der Architektenkammer von Gurgum (tr. Maraş) und des Maraş-Koordinierungsausschusses, der Architekt Yunus Emre Kaçamaz, hatte bereits 2022 vor der neu vorgelegten Bauamnestie gewarnt und erklärt, dass die Amnestien nichts weiter bedeuten als ein Massaker in Kauf zu nehmen. Er warnte, dass die aktuelle Bauamnestie große Gefahren mit sich bringen würde.