Yusuf Erdoğan: Kranke Gefangene werden bewusst dem Tod überlassen

Der Ko-Sprecher der Zentralen Gefängniskommission des IHD, Yusuf Erdoğan, verurteilt den Umgang des türkischen Staates mit kranken Gefangenen. Er sagt, kranke Gefangene würden absichtlich zum Sterben in den Gefängnissen behalten.

Yusuf Erdoğan

Insbesondere schwer kranken politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen wird die Entlassung systematisch verweigert. Sie kommen nur sterbend oder tot aus den Gefängnissen. Im Moment befinden sich nach Statistiken des Menschenrechtsvereins IHD 1517 kranke Gefangene in Haft. 651 Gefangene gelten als schwerkrank.

Die Haftbedingungen machen krank

Der Rechtsannwalt und Ko-Sprecher der Gefängniskommission des Menschenrechtsvereins IHD, Yusuf Erdoğan, äußerte sich im ANF-Gespräch zur Lage in den Gefängnissen. Er führte aus: „Eines der größten Probleme, auf das wir bei unserer Arbeit zu kranken Gefangenen stießen, besteht darin, dass Menschen aufgrund der Bedingungen in den Gefängnissen krank werden. Bei einigen Gefangenen schreitet ihre Krankheit während ihrer Zeit in den Gefängnissen aufgrund von Vorerkrankungen voran. Aber auch Gefangene, die als gesund eingeliefert werden, haben aufgrund der Bedingungen in den Gefängnissen mit Krankheiten zu kämpfen.“


Das gerichtsmedizinische Institut verhindert Entlassung von Haftunfähigen

Yusuf Erdoğan erinnerte daran, dass sowohl Gefangene als auch Angehörige aufgrund der vielen Rechtsverletzungen in den Gefängnissen immer wieder versucht hätten, sich juristisch dagegen zu wehren: „Es gibt viele Probleme für kranke Gefangene, insbesondere bei der Verlegung ins Krankenhaus. Wir erhalten Beschwerden darüber, dass bei der Verlegung in Krankenhäuser Untersuchungen in Handschellen durchgeführt werden und dass es Probleme bei der Versorgung von kranken Gefangenen mit Medikamenten gibt. Vor allem besteht das Problem, dass kranke Gefangene, die sich nicht mehr selbst versorgen können, aufgrund von Gutachten des Gerichtsmedizinischen Instituts (ATK) nicht entlassen werden. Das ist schon lange ein riesiges Problem. In unseren Berichten weisen wir immer wieder auf diese Situation hin. Kranke Gefangene werden trotz durch Krankenhäuser festgestellter Haftunfähigkeit aufgrund der Gutachten des Gerichtsmedizinischen Instituts in den Gefängnissen belassen. Dies stellt vornehmlich bei schwerkranken Gefangenen eine Verletzung des Rechts auf Leben dar. Hier sollte die Rolle des Gerichtsmedizinischen Instituts analysiert werden. Dieses Institut scheint die alleinige Entscheidungsinstanz zu sein, wenn es um kranke Gefangene geht. Kranke Gefangene sterben, kurz nachdem das Institut ihnen Haftfähigkeit bescheinigt. Uns begegnet immer wieder das Problem der fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtsmedizinischen Instituts. Denn bei den Meldungen kranker Gefangener an das Institut stoßen wir auf viele Probleme. Manchmal werden Gefangene sogar trotz entsprechender Gutachten des Gerichtsmedizinischen Instituts nicht entlassen. Das ist auf das Gesetz Nr. 5275 über den Strafvollzug und Sicherheitsmaßnahmen zurückzuführen. Wenn man ein politischer Gefangener ist und das Gerichtsmedizinische Institut Haftunfähigkeit bescheinigt, dann entscheidet dennoch am Ende die Staatsanwaltschaft. Es gibt nämlich einen Satz in dem Gesetz mit der Nummer 5275. Darin heißt es, dass die Strafverfolgungsbehörde über die Staatsanwaltschaft prüfen muss, ob die Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Das gilt auch, wenn ein Gutachten vorliegt, dass die Person im Gefängnis nicht allein überleben kann. Wenn die Strafverfolgungsbehörde sagt, dass trotz des Haftunfähigkeitsgutachtens des Gerichtsmedizinischen Instituts eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht, kann der Staatsanwalt hier die Initiative ergreifen und die Freilassung des Gefangenen verhindern.“

Was alten und kranken Gefangenen angetan wird, ist Folter“

Erdoğan berichtete von verschiedenen aktuellen Fällen: „In Wan wurde die 81-jährige Makbule Özer erneut ins Gefängnis gebracht, weil ein zweites gerichtsmedizinisches Gutachten ihr Haftfähigkeit bescheinigte. Das geschah, obwohl das erste Gutachten aussagte, dass sie haftunfähig sei. Dann ist da noch Abdulalim Kaya. Obwohl er ebenfalls sehr alt ist und mit vielen Krankheiten zu kämpfen hat, stellt das Gerichtsmedizinische Institut kein positives Gutachten aus. Es ist notwendig, dieses Thema anzusprechen. Menschenrechtsorganisationen müssen ihre Haltung gegenüber der Situation der kranken Gefangenen klarmachen. Der Umgang mit kranken Gefangenen offenbart auch eine Doppelmoral. Vor kurzem wurde der Präsident der Republik ermächtigt, ein Gesetz über kranke Gefangene auszuarbeiten. Für viele kranke Gefangene wurden Entlassungsentscheidungen getroffen. Wir Menschenrechtsorganisationen finden dies zwar positiv, möchten aber auch auf Folgendes hinweisen. Obwohl wir uns schon in der Vergangenheit an das Justizministerium gewandt und darauf hingewiesen haben, dass der Zustand einiger kranker Gefangener kritisch ist, wurden in letzter Zeit Entlassungsentscheidungen getroffen, insbesondere für einige Gefangene, die mit dem Putschversuch vom 28. Februar (1997) in Verbindung gebracht werden. Allerdings werden immer noch Tausende kranker Gefangener in kritischem Zustand in Gefängnissen festgehalten. Hier müssen die Behörden aufhören, nach einer Doppelmoral vorzugehen.“

Immer mehr Gefangene werden einfach sterben gelassen“

Erdoğan warnte abschließend: „Wir haben das Beispiel von Mehmet Emin Özkan. Seine Freilassung wurde nach langen Bemühungen entschieden. Tatsächlich lässt der Staat kranke Gefangene entweder frei, wenn nur noch sehr wenig Zeit bis zu ihrer regulären Freilassung bleibt, oder er lässt sie nicht frei und lässt sie in Haft sterben. Ja, die Gefangenen werden in Haft sterben gelassen. Das ist eine Form von Misshandlung und anhaltender Folter. Denn wir sehen bei unseren Besuchen, dass sie nicht wirklich behandelt werden. Vor allem bei unseren Besuchen in den sogenannten R-Typ-Gefängnissen, die als Gefängnisse gelten, in denen kranke Gefangene behandelt werden, sehen wir, dass der Zustand der kranken Gefangenen nicht sehr gut ist. Kranke Gefangene werden nicht einmal dort behandelt. Das liegt daran, dass hier ein politischer Ansatz und kein humanitärer und gewissenhafter Ansatz verfolgt wird. Die derzeitige Situation der kranken Gefangenen ist ein Zustand, in dem sie dem Tod überlassen werden. Diese Situation wird immer schlimmer.“