Bei ihrer mittlerweile 883. Mahnwache gegen das Verschwindenlassen hat die Initiative der Samstagsmütter die türkische Regierung aufgefordert, das Schicksal von Cüneyt Aydınlar aufzuklären. Aydınlar studierte im dritten Jahr Wirtschaftswissenschaften an der Universität Istanbul, als er am 20. Februar 1994 im Alter von 22 Jahren an einer Bushaltestelle in Bakırköy festgenommen und zur politischen Polizei in Gayrettepe gebracht wurde. Das Revier galt damals als berüchtigtes Folterzentrum. Aydınlar wurde dort gemeinsam mit dreizehn weiteren Personen, die im Rahmen derselben Operation in Gewahrsam genommen worden waren, in einer Zelle festgehalten. Erst am 27. Februar wurden die Festnahmen bestätigt.
Einen Tag später wurde die Gruppe an ein Staatssicherheitsgericht (DGM, mittlerweile abgeschafft) überstellt – Cüneyt Aydınlar war nicht darunter. Am 17. März 1994 führte die Gruppe erstmals eine Konsultation mit ihrem Rechtsbeistand. Im Rahmen dieses Gesprächs machte sie öffentlich, dass sich Aydınlar bis zum 2. März 1994 in Gewahrsam befunden hat und schwer gefoltert wurde. So massiv, dass er nicht mehr laufen konnte. Die Polizei behauptete hingegen, der Student sei am 28. Februar 1994 bei einer Ortsbegehung geflohen. Über seinen weiteren Verbleib ist noch immer nichts bekannt.
„Wir nehmen an, dass Cüneyt Aydınlar extralegal hingerichtet worden ist“, sagte die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin bei der pandemiebedingt digital abgehaltenen Mahnwache. Keskin vertrat die Familie Aydınlar als Nebenklageanwältin und hat auf der Suche nach Antworten vielfältig recherchiert. Sie sprach mit Esmer Bardakçı, der Eigentümerin einer der Wohnungen, in die Aydınlar von der Polizei gebracht worden war. „Sie äußerte, dass er in einer schlechten Verfassung war und nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen sei. Er hätte ihr gesagt, dass es die 25. Wohnung sei, in die er geschleppt wurde, und er nicht wisse, weshalb all dies geschieht. Viel später sind dieselben Beamten bei ihr aufgetaucht, um sie zur Unterzeichnung eines Zeugenprotokolls zu zwingen. In dem Papier hieß es, Cüneyt Aydınlar sei bei der Ortsbegehung geflohen und Esmer Bardakçı könne dies bezeugen.”
Keskin konnte damals auch mit Kindern sprechen, die angaben beobachtet zu haben, dass Cüneyt Aydınlar nach der Ortsbegehung von der Polizei auf eine nahegelegene Baustelle gebracht wurde. Kurz darauf hätten sie Schussgeräusche aus der Richtung vernommen, sich jedoch gefürchtet, die Stelle aufzusuchen. Der Menschenrechtsverein IHD konnte Jahre später zwar einen Gerichtsprozess gegen die verantwortlichen Polizisten anstrengen, doch diese wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Akte im Fall von Cüneyt Aydınlar wurde wegen Verjährung geschlossen. Seine Leiche ist bis heute nicht aufgefunden worden.