Zum 826. Mal ist die Initiative der Samstagsmütter zusammengekommen, um die staatliche Praxis des „Verschwindenlassens” anzuprangern und Gerechtigkeit für die Opfer zu fordern. Thematisiert wurde im Rahmen der Pandemie-bedingt virtuell gehaltenen Mahnwache das Schicksal von Ayşenur Şimşek, Gründerin und Vorsitzende der Zweigstelle der Gewerkschaft im Gesundheitswesen (Sağlık-Sen) in Ankara. Die 27-Jährige wurde am 24. Januar 1995 in Ankara von der Konterguerilla verschleppt, gefoltert und erschossen. Ihre Mörder sind noch immer frei.
Die Geschichte von Ayşenur Şimşek erzählte ihre Schwester Fatma Şimşek: „Rund einen Monat vor ihrer Entführung wurde mein Vater auf das Polizeirevier bestellt. Die Beamten legten ihm nahe, dass es besser für Ayşenur wäre, wenn sie sich stellen würde. Ansonsten würde die Sache für sie kein gutes Ende nehmen.” Gegen die 1968 geborene Apothekerin lag zum Zeitpunkt ihres Verschwindens ein Haftbefehl vor, denn Ayşenur Şimşek engagierte sich seit Anfang der 1990er Jahre für die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterbewegung. Speziell ging es ihr um die Mobilisierung der Arbeiter*innen aus dem Gesundheitsbereich. Der Militärputsch im September 1980 hatte einen Wendepunkt für die Linke in der Türkei und damit die Gewerkschaften gebildet, alle Strukturen wurden zerschlagen. Die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung begann erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre.
Bereits zuvor festgenommen und gefoltert
Wegen ihrem Einsatz für den Ausbau gewerkschaftlicher Strukturen in Ankara geriet Ayşenur Şimşek schnell ins Visier des türkischen Staatsapparates. Zweimal wurde sie festgenommen und in Gewahrsam schwer gefoltert, mehrfach bedrohte man sie mit dem Tod. Von ihrem Kampf ließ sie sich aber dennoch nicht abbringen. „Sie war eine Revolutionärin, eine Widerstandskämpferin”, sagt Ayşenur Şimşeks Schwester. Deshalb gab es nach ihrer Verschleppung trotz aller Bestrebungen ihrer Familie und reichlich gestellter Gesuche von offizieller Seite keinen Hinweis zu ihrem Verbleib. Die Sicherheitsbehörden erkannten ihre Festnahme gar nicht erst an.
Auf „Friedhof für Namenlose“ beerdigt
Am 28. Januar 1995, vier Tage nach der Entführung, fand man Ayşenur Şimşeks entstellte Leiche im etwa hundert Kilometer von Ankara entfernten Kırıkkale an einem Straßenrand. Die Behörden beerdigten sie jedoch auf einem „Friedhof für Namenlose“, obwohl ihre Identität hätte festgestellt werden können. Ayşenur Şimşek hatte bei ihrer ersten Festnahme im Rahmen einer erkennungsdienstlichen Behandlung Fingerabdrücke abgeben müssen. Drei Monate nach ihrem gewaltsamen Tod tauchte in der türkischen Tageszeitung „Milliyet“ plötzlich eine Kurzmeldung auf, in der vom Fund einer Frauenleiche in Kırıkkale die Rede war. Nur ein Zufall?
Zeitungsbericht erst nach öffentlicher Suchaktion veröffentlicht
Einige Wochen zuvor hatten ihre Angehörigen im Rahmen einer Presseerklärung den Startschuss einer landesweiten Suchaktion gegeben. An der Initiative beteiligten sich damals auch Familienmitglieder von Hasan Ocak. Der kurdische Lehrer aus Dersim war am 21. März 1995 in Istanbul verschwunden gelassen worden. Sein Leichnam tauchte fast zwei Monate später in einem anonymen Grab auf: Der erst 30-Jährige starb durch Foltereinwirkung. Am 27. Mai 1995 führte seine Familie zusammen mit Anwälten einen Sitzstreik auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz durch, um Gerechtigkeit für Hasan Ocak zu fordern. Es war die erste Mahnwache der Samstagsmütter und sollte die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei werden.
Kein Vergeben, kein Vergessen
Nach dem Bericht der Milliyet wandten sich die Eltern von Ayşenur Şimşek an die Staatsanwaltschaft von Kırıkkale. Dort erfuhren sie, dass es sich bei der „unbekannten Toten“ tatsächlich um ihre vermisste Tochter handelte. Doch der Zustand ihrer Leiche stellte eine neue Stufe in der Politik des Verschwindenlassens dar. Hüseyin Ocak erinnert sich: „Die Leiche von Ayşenur war in einem furchtbaren Zustand. Man hatte sie aus nächster Nähe erschossen.” Im Obduktionsbericht hieß es, dass Einschüsse in Kopf, Brust und Kinn festgestellt wurden. Außerdem wies ihr Körper zahlreiche Folterspuren auf.
Mahnwache für Ayşenur Şimşek im Februar 2018 | Foto: Pirha
„Seit dem Fund von Ayşenur sind fast 26 Jahre vergangen. Und seitdem fordern wir Gerechtigkeit”, sagte Hüseyin Ocak. „Gerechtigkeit für Ayşenur, für meinen Bruder und für die vielen anderen, die verschwunden gelassen wurden. Wir werden das Unrecht nicht vergessen. Und wir werden nicht vergeben.”