Seit der Befreiung der Region Şengal von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ sind neun Jahre vergangen. Die Region im Nordwesten des Irak war am 3. August 2014 vom IS überfallen worden, die für die Sicherheit zuständigen Truppen der irakischen Armee und die Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK zogen sich damals kampflos zurück. Der IS verübte einen Genozid und Femizid an der ezidischen Gemeinschaft.
Nur mit Hilfe eines knappen Dutzends von Guerillakämpfern der PKK konnten Hunderttausende Menschen vor dem sicheren Tod oder der Versklavung gerettet werden. Anschließend rückte Verstärkung der HPG und YJA Star aus den kurdischen Bergen an. Zusammen mit den Verteidigungseinheiten YPG und YPJ wurde ein Fluchtkorridor nach Rojava geschaffen. Es wurden die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) und Fraueneinheiten Şengals (YJŞ) aufgebaut, und die Region wurde Schritt für Schritt befreit. Im Januar 2015 wurde ein Selbstverwaltungsrat ausgerufen. Am 31. Oktober 2015 begann mit internationaler Unterstützung eine Offensive zur Befreiung der Dörfer im Westen der Stadt Şengal, und am 13. November 2015 war der IS vollständig aus der Region vertrieben.
Türkische Angriffe auf Şengal
Şengal ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der ezidischen Gemeinschaft. Seit 2017 wird die Region häufig von türkischen Kampfflugzeugen und Drohnen bombardiert. Konkrete Ziele sind hierbei zumeist Einrichtungen des Verwaltungsgremiums „Demokratischer Autonomierat Şengals“ (MXDŞ) oder die Selbstverteidigungseinheiten. Viele der Todesopfer sind Menschen aus der Zivilbevölkerung, oft waren sie Überlebende des IS-Genozids von 2014. Auch viele Militante der PKK-Bewegung, die am Kampf gegen den IS in Şengal teilgenommen und die ezidische Gemeinschaft geschützt haben, sind bei Angriffen des türkischen Staates ums Leben gekommen. Dennoch geht der Wiederaufbau in Şengal weiter. In der Region sind Volksräte gegründet worden, und die ezidische Frauenbewegung ist eine treibende Kraft im Kampf um Selbstbestimmung und Existenz.
Bîro Berakat, Mitglied im Autonomierat Şengals
Bîro Berakat vom Autonomierat Şengals erklärte gegenüber MA zu den damaligen Ereignissen: „Als das Massaker in Şengal begann, waren viele militärische Kräfte vor Ort. Sie hatten zugesagt, die ezidische Gemeinschaft zu schützen. Aber dann ließen sie Şengal im Stich. Die irakische Regierung reduzierte erst ihre Anzahl und zog die Truppen dann nach Bagdad zurück. Eine andere Truppe, die den Eziden Schutz zugesagt hatte, waren die Peschmerga der PDK. Aber sie verteidigten die Ezidinnen und Eziden nicht und überließen sie den grausamen Banden. Vorher hatte die PKK die Initiative ergriffen, um Guerillaeinheiten ins Şengal-Gebirge zu schicken. Aber die Kräfte, die Şengal nicht schützten und verteidigten, behinderten auch die Guerilla. Sie wollten, dass die ezidische Gemeinschaft ausgelöscht wird. Zwölf HPG-Kämpfer leisteten jedoch großen Widerstand. Sie erreichten das Gebirge und schützten die fliehenden Menschen.“
Der Guerillakommandant
Dilşêr Herekol war einer von zwölf HPG-Kämpfern, die auf Anregung von Abdullah Öcalan bereits vor dem IS-Massaker nach Şengal geschickt wurden und vermutlich Hunderttausenden Menschen das Leben retteten. Die PKK sah insbesondere die ezidische Bevölkerung von Şengal durch den IS bedroht und entsandte eine erste Gruppe unter dem Kommando von Dilşêr Herekol in die Region. Die Gruppe versuchte, die Bevölkerung zu organisieren und auf den drohenden Angriff vorzubereiten. Aufgrund dieser Vorbereitungen konnten die Kämpfer den am 3. August 2014 beginnenden IS-Genozid aufhalten und die Flucht großer Teile der Bevölkerung ins Gebirge organisieren. Dilşêr Herekol blieb bis 2016 in Şengal, dann kehrte er zurück in die Medya-Verteidigungsgebiete. Im Oktober 2020, nach 23 Jahren im kurdischen Befreiungskampf, kam er bei einem Gefecht mit der türkischen Armee im Amanos-Gebirge in Hatay ums Leben. In dem Film „
Briefe aus Şengal“ ist Dilşêr Herekol eine der Hauptfiguren.
Bîro Berakat sagte, dass der Kampf der HPG-Vorhut das Blatt gewendet habe. „Diese zwölf Freunde wurden von Heval Dilşêr und Heval Memo angeführt. Dank des von ihnen angeführten Widerstands konnte sich unsere Gemeinschaft vor den Banden retten. Später wurde ein Korridor geöffnet und die Menschen wurden an sichere Orte gebracht. Es war diese Kraft, die der ezidischen Gemeinschaft wieder auf die Beine half.“
Wiederaufbau von Şengal
Später sei damit begonnen worden, Şengal nach dem von Abdullah Öcalan vorgeschlagenen Modell einer demokratischen Nation wiederaufzubauen, berichtete Bîro Berakat: „Rêber Apos Schülerinnen und Schüler haben monatelang hier gekämpft. Sie sahen es als ihre Aufgabe, die ezidische Gemeinschaft zu schützen, auch um den Preis des eigenen Lebens. Durch ihre Selbstlosigkeit konnten wir als Gemeinschaft weiter existieren. Alle Ezidinnen und Eziden können sich heute in Rêber Apos Ideen wiederfinden. Nach der Befreiung sind diejenigen zurückgekehrt, die Şengal damals nicht verteidigt haben. Sie kamen nicht zurück, um Şengal zu schützen, sondern um die PKK schlecht zu machen. Der Verrat an der ezidischen Gemeinschaft wird immer als schwarzer Fleck an ihnen haften bleiben.“
Nach der Befreiung seien fast 300.000 Ezidinnen und Eziden nach Şengal zurückgekehrt, sagte Bîro Berakat, das sei erfreulich: „In Şengal leben wir gemeinsam mit anderen Glaubensgemeinschaften. Wenn es keine weiteren Interventionen gibt, können alle Religionen, Ethnien und Sprachen hier zusammenleben. Wir wünschen uns, dass alle Eziden in ihre Heimat zurückkommen. Sie sollen die Lager in Südkurdistan verlassen und wiederkommen. Wir haben einen hohen Preis gezahlt, aber das bereuen wir nicht. Wir werden unsere Gemeinschaft immer verteidigen. Was damals geschehen ist, darf nie vergessen werden.“
Titelfoto: Egîd Civyan und Dilşêr Herekol 2015 in Şengal