Veranstaltung in Hamburg: Die verborgene Revolution der ezidischen Frauen

Çiçek Yıldız und Birthe Witthöft haben das ezidische Şengal besucht, um Frauen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu treffen und sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen. Im Hamburger „TATORT Kurdistan“-Café berichteten sie von ihren Eindrücken.

Eine Delegation des Dachverbands des ezidischen Frauenrats e.V. (Sîwana Meclîsên Jinên Êzidî, SMJÊ) und der feministischen Organisierung „Gemeinsam kämpfen!“ besuchte im April für zwei Wochen die Region Şengal im Norden des Irak, um Frauen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu treffen und sich ein Bild von der aktuellen Situation zu verschaffen. Am gestrigen Mittwoch berichten Çiçek Yıldız und Birthe Witthöft im „TATORT Kurdistan“-Café in Hamburg über ihre Erfahrungen. Mehr als 40 Zuhörer:innen verfolgten gespannt die in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Centro Sociale organisierte Veranstaltung.

Genozid und Femizid an den Ezid:innen

Zunächst berichtete Çiçek Yıldız vom SMJÊ über den Genozid und Femizid an den Ezid:innen im Şengal, der am 3. August 2014 mit einem Überfall der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) begann. In der Folge verübten die Dschihadisten brutale Massaker, denen Schätzungen nach etwa 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden vom IS entführt, mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und weitere Tausende werden bis heute vermisst. Das grausame Ausmaß dieser Verbrechen liege laut Yıldız in Teilen auch in der Verantwortung der mehr als 12.000 Peschmerga der Kurdistan-Region Irak (KRI), die zum damaligen Zeitpunkt in Şengal stationiert waren. Sie hatten die Region fluchtartig verlassen, als der IS immer näherrückte, und so die Bevölkerung schutzlos zurückgelassen. Eine Handvoll Kämpferinnen und Kämpfer der PKK-Guerilla eilte den Ezid:innen damals zur Hilfe. Mit Unterstützung der YPG und YPJ öffneten sie einen Fluchtkorridor nach Rojava, über den bis zu 150.000 Menschen vor den Angriffen des IS in Sicherheit gebracht werden konnten.

Antwort auf Genozid: Selbstverteidigung und Selbstverwaltung

Die Antwort der ezidischen Gesellschaft auf das Pogrom in Şengal lautete Selbstverteidigung und Selbstverwaltung. Die Ezidinnen und Eziden bauten unter dem Eindruck des Genozids eigene Verteidigungsstrukturen und eine Autonomieverwaltung auf. Diese Selbstverwaltung wurde jedoch von keiner Seite anerkannt. Im Oktober 2020 schlossen die irakische Zentralregierung und die unter dem Einfluss der Türkei stehende KRI ein Abkommen über Şengal, das die Autonomiebestrebung und Selbstverwaltung der Menschen negiert. „Diese Ignoranz der Autonomiebestrebungen, sowie die seit 2017 andauernden Angriffe des NATO-Mitglieds Türkei auf die Region bedeuten eine Fortführung der Genozid-Politik gegenüber den Ezid:innen in Şengal, sowie aller Ezid:innen weltweit“, betonte Çiçek.

Aktuelle Situation in Şengal

Birthe Witthöft von „Gemeinsam kämpfen!“ kritisierte, dass die Stimmen der Ezid:innen ignoriert würden. Das gegen die Region verhängte Embargo verschärfe die Lage zusätzlich, da es das ökonomische Auskommen der Bevölkerung bedrohe und den Wiederaufbau in Şengal unterbinde. „Der Irak, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), die die KRI-Regierung dominiert, und die Türkei verhindern, dass Şengal irgendeine Form eines autonomen Status erhält“, stellte Witthöft fest. Die Gesellschaft werde durch gezielte psychologische Kriegsführung der PDK und der irakischen Zentralregierung gespalten. Morde an führenden Persönlichkeiten, oftmals verübt durch gezielte Drohnenangriffe des türkischen Staates, sollten die Gesellschaft demoralisieren.

Dennoch gebe der Aufbau der Frauenrevolution unter der Philosophie „Jin, Jiyan , Azadî“ den Frauen viel Kraft, die eigene Aktivität und Kraft heile Wunden und Traumata, sagte Witthöft. Die Frauen organisierten sich basisdemokratisch, verwalteten sich selbst und orientierten sich dabei an den Prinzipien des von Abdullah Öcalan entworfenen demokratischen Konföderalismus, verbunden mit den Prinzipien des ezidischen Philosophie, was sich sehr gut ergänze.

Yıldız und Witthöft berichteten ebenfalls darüber, dass es fehlende Konsequenzen der im Bundestag beschlossenen Anerkennung des Genozids an der ezidischen Gesellschaft durch Deutschland gebe. Zwar sei Annalena Baerbock nach Şengal gereist, hätte es aber bewusst vermieden, mit Vertreter:innen der ezidischen Selbstverwaltung zu sprechen. Es werde bewusst ignoriert, dass der Genozid an den Ezid:innen aktuell fortgeführt werde. Die Unsichtbarkeit der Frauenrevolution und die Reduktion der Darstellung der ezidischen Frauen auf die Opferrolle negiere den Kampf und die Selbstorganisierung, die großen Erfolge der Frauen.

Der Dachverband der ezidischen Frauen in Şengal (TAJÊ) etwa wurde 2015, nur ein Jahr nach dem Genozid, gegründet. Seither hätten die ezidischen Frauen parallel zur Selbstverwaltung in allen Bereichen ihre eigenen Gremien und Institutionen aufgebaut, betonte Yıldız. „Als Konsequenz des Genozids fand eine Bewusstwerdung statt, dass Frauen sich selbst schützen müssen. So war es nur natürlich, dass bereits im November 2015 militärische Selbstverteidigungseinheiten von und für Frauen gegründet wurden“, so die Aktivistin. Auch wirtschaftlich würden die Frauen in Şengal immer unabhängiger werden. So sei 2022 ein Frauenkomitee für Ökonomie gegründet worden, das zahlreiche Projekte und Kooperativen ins Leben gerufen habe, darunter eine Cafeteria mit Parkanlage, eine Süßwarenbäckerei, drei Brotbäckereien, eine Baumschule und eine Obstbaumplantage mit Mischkultur. „Wir nennen diese Frauenrevolution, die in Şengal stattfindet, eine verborgene Revolution der Frauen. Denn die Frauen dort haben in neun Jahren unter schwersten Bedingungen Unglaubliches geschaffen, aber sie werden überall nur als Opfer dargestellt“, so Yıldız.

Aktuelle Forderungen

Yıldız schloss mit den Worten, die Ezid:innen wollten nichts anderes als ihre Freiheit in Form einer Selbstverwaltung innerhalb der bestehenden Territorien sowie Sicherheit, indem sie einen integrierten Schutzmechanismus zur Abwendung der äußeren Gefahren und Angriffe aufbauen. Sie forderten eine offizielle Anerkennung der Selbstverwaltungs- und Selbstverteidigungsstrukturen, eine sofortige Beendigung der Angriffe türkischer Drohnen, Unterstützung des Wiederaufbaus und der Rückkehrmöglichkeiten. Noch immer lebten zehntausende Ezid:innen in Geflüchtetenlagern unter Verwaltung der KRI.

Kundgebung am 3. August in Altona

Zum Schluss der Veranstaltung wurde auf eine zum Jahrestag des Beginns des Genozids geplante Kundgebung am 3. August um 18 Uhr vor dem Mercado in Hamburg-Altona hingewiesen. Das nächste Infocafé von TATORT Kurdistan wird Anfang September zum Thema Frauenrevolution in Rojhilat (Ostkurdistan) stattfinden.