„Wir konnten unsere Existenz nur durch Widerstand bewahren“

Hundert Jahre nach dem Vertrag von Lausanne versuchen verschiedene kurdische Bewegungen, einen politischen Konsens gegen die Völkermordpolitik in Kurdistan herzustellen. Çiçek Yıldız kommentiert die Lage aus ezidischem Blickwinkel.

Vor hundert Jahren, am 24. Juli 1923, wurde Kurdistan mit dem Vertrag von Lausanne auf die Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Aus Anlass des Jahrestages protestieren kurdische Parteien und Organisationen gegen das Abkommen und fordern einen Status ein. Çiçek Yıldız ist Ko-Vorsitzende der Ezidischen Europakoordination und hat sich gegenüber ANF zu der Vorgeschichte und den Auswirkungen des Lausanner Vertrags geäußert.


Çiçek Yıldız sagte, dass der Völkermord an der ezidischen Gemeinschaft, die wiederholten Massaker und die Vertreibung aus ihren Siedlungsgebieten ein Ergebnis des Vertrags von Lausanne sind: „Was bedeutet der Vertrag von Lausanne für uns? Was haben wir in diesem Jahrhundert erlebt? Die kurdische Gesellschaft kennt den Vertrag von Lausanne gut. Dieser Vertrag hat den Völkermord an den Völkern des Nahen Ostens hundert Jahre lang in seiner eigenen Realität am Leben erhalten. Die Zersplitterung Kurdistans begann im 17. Jahrhundert, als es zwischen dem iranischen und dem osmanischen Staat zweigeteilt wurde. In der Folgezeit wollten sie nicht, dass das kurdische Volk als Nation mit eigenem Willen in der Geographie Kurdistans lebt. Vor hundert Jahren wurde das Gebiet Kurdistans unter der Führung von Großbritannien und Frankreich, den einflussreichsten imperialistischen Staaten der damaligen Zeit, durch den neuen türkischen Staat geteilt. Das Ziel war nicht nur die Teilung Kurdistans, sondern auch ein Genozid am kurdischen Volk. Die Nationen, die sich seit tausend Jahren in Kurdistan verschanzt hatten, waren ebenfalls Teil dieser Politik. In diesem Vertrag wurde der Wille der internationalen Mächte nach Wunsch des türkischen Staates geformt."

Wir konnten unsere Existenz nur durch Widerstand bewahren“

Der Vertrag von Lausanne basiere auf der totalen Vernichtung des kurdischen Volkes, erklärte Yıldız weiter: „Die verschiedene Religionen, Sprachen und historische Glaubensrichtungen in Kurdistan wurden nicht berücksichtigt. Der älteste dieser Glaubensrichtungen ist der ezidische Glaube. Er war auch das Ziel dieser Politik. Die Ezidinnen und Eziden haben jedoch eine alte Tradition, sie haben sich seit Tausenden von Jahren keiner herrschenden Macht unterworfen. Sie haben in der Geschichte Widerstand geleistet und leisten auch heute noch Widerstand. Sie werden ihren Willen mit dieser Tradition des Kampfes durchsetzen. Das Ziel des Vertrags von Lausanne war die Zerstörung der Gesellschaften in der Region, die Feindschaft zwischen den Religionen und die Nicht-Akzeptanz von Unterschieden. Die Umsetzung der Massaker gegen die ezidische Gemeinschaft erfolgte auf dem durch den Vertrag von Lausanne geschaffenen Boden. Sie wurden von dem neu gegründeten faschistischen türkischen Staat umgesetzt. Dagegen entwickelte sich ein historischer Widerstand in der ezidischen Gemeinschaft. Dank dieses Widerstands konnte sie ihre Existenz bewahren. Eines der Ziele bei der Gründung des türkischen Staates war es, die verschiedenen Gemeinschaften, Sprachen und Religionen durch Tyrannei und Völkermord zu vernichten. Unsere Gesellschaft hat diese Politik der Vernichtung durch ihren Widerstand verhindert. Durch diesen Widerstand schöpften die in der Region lebenden Gemeinschaften Hoffnung und gaben nicht auf. Das gab diesen Gemeinschaften Moral und Kraft und befähigte sie zum Widerstand.

Im letzten Jahrhundert wurde der Völkermord durch Massaker, Vertreibung und Veränderung der demografischen Struktur praktiziert, aber auch durch die Auslöschung des historischen Gedächtnisses der Gesellschaft. Für die Besetzung Kurdistans wurden alle brutalen Methoden an der Gesellschaft ausprobiert. Im letzten Jahrhundert gab es Massaker in Kocgirî (1925), Dersim (1937-38), Gelîyê Zîlan und anderen Orten. Die Aufstände von Şêx Seîd, Seyîd Riza, Agirî und Qazî Mihemed wurden von den Besatzungsstaaten niedergeschlagen, weil es keine nationale Einheit gab. In diesem letzten Jahrhundert wurde Kurdistan geplündert, es wurden Verbrechen am kurdischen Volk verübt. Gleichzeitig gab es auch immer Widerstand. Und in den letzten 50 Jahren hat sich das kurdische Volk unter der Führung der Freiheitsbewegung und mit der Philosophie von Rêber Apo (Abdullah Öcalan) widersetzt. Der kurdische Nationalgeist ist wieder erwacht. Die heute gebildete Einheit hat die Zukunftshoffnungen der Völker der Region erneuert und verhindert, dass der Vertrag von Lausanne sein Ziel erreicht. Sie wollten den Völkermord am kurdischen Volk zu Ende bringen. Sie wollten ihn vollenden, aber sie sind gescheitert.“

Die ezidische Gemeinschaft fordert Selbstbestimmung

Die ezidische Gemeinschaft habe ihre Existenz bewahrt, indem sie sich gegen die Völkermordmentalität gewehrt habe, so Çiçek Yıldız: „Die heutigen Bedingungen sind nicht die Bedingungen von vor hundert Jahren. Die Welt ist nicht mehr die alte Welt. Auch die Politik der imperialistischen Staaten hat sich entsprechend der neuen Welt verändert. In jeder Hinsicht sind die alten und die heutigen Bedingungen nicht die gleichen. Die ezidische Gemeinschaft hat einen Willen gebildet. Sie wird keine Politik akzeptieren, die in irgendeiner Weise von außen aufgezwungen wird. Als Gesellschaft kämpfen wir für Selbstbestimmung und lehnen jede Politik ab, die ohne unsere Beteiligung beschlossen wird.“

Für einen Konsens in der kurdischen Politik

An der Konferenz, die am 22. und 23. Juli in Lausanne stattfindet und an der zahlreiche kurdische politische Bewegungen teilnehmen, werden auch ezidische Institutionen vertreten sein, sagte Yıldız: „Wir finden es wichtig, auf dieser Konferenz über die nationale Einheit des kurdischen Volkes zu diskutieren. Unsere Priorität ist die Einheit der Kurdinnen und Kurden. Wir legen Wert darauf, dass die kurdische Politik gemeinsam handelt. Auch das kurdische Volk fordert eine Einheit. Diejenigen, die diese anführen werden, sind unsere politischen Bewegungen, Politikerinnen und Politiker und Intellektuellen. Sie sollten im Bündnis gegen die Besatzer vorgehen und eine klare nationale Politik vertreten. Sie müssen die Existenz und die Zukunft des kurdischen Volkes schützen. Die Existenz aller Völker und Nationen basiert auf einer eigenen Politik. Für das kurdische Volk ist eine nationale Einheit heute sehr wichtig."