Der Vertrag von Lausanne, unterzeichnet am 24. Juli 1923 zwischen der Türkei sowie Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, hat Grenzen neu gezogen und Länder definiert, und den türkischen Alleinanspruch auf Kleinasien bestätigt. Damit hat er die weitgehend schon erfolgte Vertreibung der griechisch-christlichen Bevölkerung sowie die Vernichtung der armenischen Nation legalisiert – und die Vierteilung Kurdistans diplomatisch abgesegnet.
Nachdem den Kurdinnen und Kurden 1920 im Vertrag von Sèvres – abgeschlossen zwischen den Alliierten des Ersten Weltkriegs und der türkischen Regierung – noch das Recht auf Selbstbestimmung zugebilligt worden war, legten die Türkei sowie England, Frankreich und Italien dann aber im Vertrag von Lausanne die Teilung Kurdistans fest, dessen anatolischen, irakischen und syrischen Teil (nicht jedoch der iranische Teil) vorher zum Osmanischen Reich gehört hatten. Damit wurde die systematische Politik der Verleugnung, der Assimilation und des Ethnozids gegen das kurdische Volk eingeleitet und Kurdistan in eine internationale Kolonie verwandelt.
100 Jahre Zustand der Nichtexistenz
2023 nehmen Kurdinnen und Kurden das hundertjährige Jubiläum des Vertrags zum Anlass, um über dessen Hintergründe und seine bis heute andauernden, schwerwiegenden Folgen für die kurdische Gesellschaft in allen vier Teilen ihrer Heimat zu informieren und gegen den aufgezwungenen Umstand der politischen und juristischen Nichtexistenz zu protestieren. Seit Monaten finden in der Schweiz verschiedene Veranstaltungen rund um den Vertrag von Lausanne und die Forderung der kurdischen Gemeinschaft an die verantwortlichen Staaten statt, die sich aus dem Abkommen ergebenen Probleme zu korrigieren und zu lösen. Für den 22. Juli ist in Lausanne eine Großdemonstration geplant, die das Motto „100 Jahre koloniale Teilung Kurdistans – 50 Jahre Kampf für die Befreiung“ trägt und von der internationalen Kampagne „Defend Kurdistan“ unterstützt wird. In einem internationalistischen Aufruf erklärt die Kampagne zu den Hintergründen:
Politik des Aushungerns, der Folter, der Verleugnung und der Assimilation
„Nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne begann in Kurdistan eine dunkle Zeit. Von 1925 bis 1938 wurden im nördlichen Teil hunderttausende Menschen Opfer von Massakern und Vertreibungen. Überall in den kurdischen Siedlungsgebieten wurde die Politik des Aushungerns, der Folter, der Verleugnung und der Assimilation eingeführt. In Südkurdistan folgte auf den Vertrag von Lausanne in den 1980er Jahren der Anfal-Genozid mit über hunderttausend Toten. In Helebce, dem kurdischen Pendant zu Guernica, verübte die irakische Luftwaffe einen Angriff mit deutschem Giftgas, bei dem mindestens 5.000 Menschen starben. Mindestens 7.000 Menschen wurden verletzt, von denen einige bis heute bleibende gesundheitliche Schäden davongetragen haben. In Ostkurdistan verübten das brutale und vom Westen unterstützte Regime des Schahs von Persien und in den 1980er Jahren die neuen islamistischen Machthaber zahlreiche Massaker an führenden Köpfen des kurdischen Befreiungskampfes und den Revolutionären von Şîno, Mahabad und Sine. Das nationalistische Baath-Regime in Syrien versuchte, die kurdische Existenz im Norden des Landes auszurotten, indem es Hunderttausende aus Rojava vertrieben und systematisch ein Siedlungsprojekt zur Arabisierung der kurdischen Siedlungsgebiete umgesetzt hat.
Folgen des Vertrags bis heute spürbar
Die Folgen des Vertrags von Lausanne sind für die Menschen in Kurdistan noch heute schmerzhaft spürbar. Der Stacheldraht und die Minenfelder, die noch 100 Jahre nach der Unterzeichnung die Grenzlinien der vier Teile Kurdistans prägen, und die vielen Folterkammern sind nur die offensichtlichsten. Bis heute sind Familien durch Zäune und Mauern getrennt, Kurdinnen und Kurden werden beim Versuch, Grenzen zu überwinden, getötet, und ganze Städte werden durch willkürlich gezogene Grenzen in zwei Teile gerissen. Der Vertrag von Lausanne ist ein Dolch im Herzen Kurdistans und bildet die Grundlage für die 100-jährige Leugnungs- und Völkermordpolitik, die heute in den mörderischen Angriffen des türkischen Faschismus gegen die befreiten Gebiete von Rojava, Şengal, Mexmûr und die freien Berge Kurdistans ihre Fortsetzung findet. Dass das kurdische Volk bis heute keinen anerkannten politischen Status hat, dass der Kampf für ihre elementarsten Rechte mit irrsinnigen Terrorismusvorwürfen kriminalisiert wird, dass kurdische Kämpferinnen und Kämpfer mit chemischen Waffen ermordet werden können, ohne dass jemand seine Stimme erhebt, und dass der politische Repräsentant eines ganzen Volkes, Abdullah Öcalan, nach wie vor im Widerspruch zu jeglichem Recht in totaler Isolation inhaftiert ist – all das wäre ohne den Vertrag von Lausanne nicht möglich.
Kurdistan ist das Herz der Revolution
Doch in den 100 Jahren, die seit dem Tag der Unterzeichnung vergangen sind, hat das kurdische Volk seine Existenz durch unermüdlichen Widerstand gegen Dutzende von diktatorischen Regimen verteidigt. Mit ihrem ununterbrochenen Kampf seit 1978 hat die Freiheitsbewegung Kurdistans den Widerstand in der Vielvölkerregion Kurdistan auf die höchste Stufe gehoben. Sie hat eine unbesiegbare Kultur des Widerstands geschaffen, und heute zeigen die Ideen dieser Bewegung und ihres Vordenkers Abdullah Öcalan nicht nur den Völkern Kurdistans und des Nahen Ostens, sondern auch den Völkern der ganzen Welt, dass eine andere Welt möglich ist. In Kurdistan, dem Herzen der Revolution des 21. Jahrhunderts, breitet sich eine neue Welle des Internationalismus auf die ganze Welt aus.
Nach 100 Jahren Ausbeutung, Massakern und Widerstand kommen die Kurdinnen und Kurden dieses Jahr nach Lausanne in die Schweiz, um ein für alle Mal klarzustellen: Auch nach 100 Jahren wird der Vertrag von Lausanne nicht akzeptiert! Nach 100 Jahren ist es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen und die Ära der Fremdherrschaft und Besatzung zu beenden. Der Vertrag von Lausanne ist ein Vertrag, der über die Köpfe der Völker der Region hinweg diktiert wurde und keine Legitimität besitzt.
Als Freundinnen und Freunde des kurdischen Volkes werden wir ihm auf den Straßen von Lausanne zur Seite stehen. Unsere Kämpfe sind ähnlich. Deshalb rufen wir, die Initiative zur Verteidigung Kurdistans, zu einer internationalistischen Teilnahme an der historischen Demonstration in Lausanne am 22. Juli 2023 auf. Wir laden alle unsere Solidaritätsstrukturen und Weggefährten ein, sich dem großen internationalistischen Block anzuschließen.“
Ort: Place de la Navigation / Lausanne / Schweiz
Versammlungsbeginn: 11.30 Uhr
Start der Demonstration: 13.00 Uhr