Am 24. Juli 2023 wird es 100 Jahre her sein, dass der Vertrag von Lausanne die Grundlagen für die Missachtung des kurdischen Volkes und die Verleugnung seiner Existenz gelegt hat. Mit dem Abkommen wurden die heutigen Staatsgrenzen der Türkei festgelegt - und damit die Vierteilung Kurdistans. Seitdem sind Kurdinnen und Kurden unter der Souveränität der Nationalstaaten Türkei, Irak, Iran und Syrien Völkermord, Assimilierung und Massakern ausgesetzt.
Dutzende Parteien und Organisationen am Aktionsplan beteiligt
Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) nimmt wie in den Jahren zuvor auch den hundertsten Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne zum Anlass, deutlich zu machen, dass die kurdische Gesellschaft den aufgezwungenen Umstand der politischen und rechtlichen Nichtexistenz nicht akzeptiert und ihren Widerstand gegen Unterdrückung, Entrechtung und Gewalterfahrung fortsetzen wird. In einem breiten und lebendigen Beteiligungsprozess haben sich Vertreterinnen und Vertreter von rund 60 Organisationen, politischen Parteien und Gruppen aus allen Teilen Kurdistans (bis auf die in Südkurdistan herrschende PDK) im vergangenen Jahr auf den Weg gemacht, um die wesentlichen Handlungsfelder abzustecken und einen Maßnahmenkatalog zu entwickeln, um aus kurdischer Perspektive gegen den Vertrag von Lausanne Stellung zu beziehen. Eine gemeinsame Koordinierungsgruppe hat aus ihren Vorschlägen schließlich einen schweizweiten Aktionsplan erarbeitet, der nun vom KNK vorgestellt wurde.
Mit dem Lausanner Vertrag wurde die Lunte am Pulverfass Nahost gezündet
„Der Vertrag von Lausanne brachte den Kurdinnen und Kurden nur Spaltung, Zersplitterung, Massaker und Leid. Dieser Zustand dauert bis heute an“, erklärte Ahmet Karamus als Ko-Vorsitzender des KNK. Der Politiker betonte die Wichtigkeit einer gemeinsamen Haltung der kurdischen Parteien und eines übergreifenden nationalen Widerspruchs, um den „Verrat von Lausanne“ zu überwinden und damit einen Ausweg aus Krieg, Vernichtung und Verfolgung zu finden. „Mit dem Aushandeln des Lausanner Abkommens nahm der Konflikt um Kurdistan seinen Ausgangspunkt, denn die Lunte am Pulverfass Nahost wurde gezündet. Aus der kurdischen Frage [vor und während des Vertrages von Sèvres, der neben armenischer Unabhängigkeit kurdische Autonomie und klare Bestimmungen für Minderheiten in kurdischen Siedlungsgebieten vorsah] wurde ein ‚Kurdenproblem‘ [Gründung der modernen Türkei, das Ignorieren der Protokolle von Amasya und die Unterzeichnung des Lausanner Vertrages], das bis in die Gegenwart anhält.“
Kurdische Einheit unabdingbar für Überwindung von Lausanne
Laut Karamus sei die Gefahr groß, dass das kurdische Volk auch weiterhin der Aggression der herrschenden Nationalstaaten ausgesetzt sein wird, und auch von internationalen Hegemonialmächten als Verhandlungsmasse benutzt wird. Ebenso sieht der KNK-Vorsitzende bereits erreichte Status – wie etwa in Rojava (Nord- und Ostsyrien) oder Başûr (Kurdistan-Region Irak) und erkämpfte Errungenschaften des kurdischen Volkes in Gefahr. Der Hauptgrund sei die Zerstrittenheit kurdischer Parteien. „Als KNK sind wir in ständiger Bemühung, unsere innerkurdischen Differenzen zu überwinden und eine gemeinsame Haltung zu entwickeln. Dies ist von existenzieller Bedeutung für den Kampf um die Rechte, die dem kurdischen Volk in Lausanne genommen worden sind. Das Zusammenfinden auf nationaler Ebene muss uns gelingen. Geschieht dies nicht, werden wir die dauerhafte Niederlage nicht abwenden können.“
Kurdistan-Tribunal zum Abschluss der Aktionstage
Im Rahmen des Aktionsplans entstand unter anderem ein Programm mit Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Protesten, Informationsabenden und kulturellen Veranstaltungen rund um den Lausanner Vertrag und Kurdistan. Der Startschuss wird nach Angaben der Historikerin und KNK-Sprecherin Nilüfer Koç noch im Februar fallen, das genaue Datum soll demnächst verkündet werden. Die meisten Demonstrationen wird es in den großen Schweizer Städten rund um den 24. Juli geben, auf Lausanne ist ein Sternmarsch geplant. Beendet wird das Programm im Oktober mit einem spektakulären Finale: Ein „Kurdistan-Tribunal“ wird den ambitionierten Versuch unternehmen, das zu leisten, was die die Staatengemeinschaft und internationale Justiz nicht schaffen: Eine Abrechnung mit dem Lausanner Vertrag, der indirekt den Massenmord an Kurd:innen sowie Armenier:innen, Christ:innen und anderen Minderheiten billigte, die Aufarbeitung der Verbrechen gegen das Völkerrecht, die Wiedergutmachung der Entrechtung.