Mord an Mehmet Sincar: IHD warnt vor drohender Verjährung

Obwohl schon im Untersuchungsbericht zum Susurluk-Skandal anerkannt wurde, dass der Mord an dem kurdischen DEP-Abgeordneten Mehmet Sincar von staatlicher Seite aus verübt worden war, sind die wahren Täter nie zur Rechenschaft gezogen worden.

Der Menschenrechtsverein IHD hat mit Blick auf die nächste Verhandlung im Prozess um den Mord an dem kurdischen Politiker Mehmet Sincar vor einer drohenden Verjährung gewarnt. „Auch wenn die Parteien wechselten, ist das Einvernehmen hinsichtlich der Politik der Straflosigkeit für die Mörder von Kurdinnen und Kurden bis heute erhalten geblieben”, sagte die Menschenrechtsanwältin Meral Danış Beştaş am Mittwoch in Amed (tr. Diyarbakir). Zwar sei die Ära Tansu Çiller längt vorbei, so die Juristin, die zugleich HDP-Vizefraktionsvorsitzende im türkischen Parlament ist. Doch mit dem Vorsitzenden der rechtsextremen MHP, Devlet Bahçeli, sei Çillers Wille allgegenwärtig. Anforderungen an Aufklärung gebe es praktisch nicht, sagte Beştaş. Diese „omnipräsente Ignoranz” habe sich zuletzt im Handeln der zuständigen Staatsanwaltschaft bemerkbar gemacht. In weniger als zwei Wochen wird der Prozess im Mordfall Sincar fortgesetzt. Ihr Pladoyer hat die Anklagebehörde bis heute nicht eingereicht.

Der Mord

Mehmet Sincar war Lehrer und Abgeordneter der kurdischen Demokratiepartei (DEP) für den Wahlkreis Mêrdîn (Mardin). Am 4. September 1993 wurde er im Alter von 39 Jahren in Êlih (Batman) auf offener Straße erschossen. Der Lokalpolitiker Metin Özdemir kam ebenfalls ums Leben, ein weiterer Parlamentarier, Nizamettin Toğuç, wurde schwer verletzt. Sincar und Toğuç waren aus Ankara angereist, um den Mord an Habib Kılıç, dem Kreisvorsitzenden der DEP in Êlih, zu untersuchen. Dieser war erst wenige Tage zuvor am 2. September geschehen.

Ab 1978 arbeitete Mehmet Sincar etwa ein Jahr lang als Lehrer in Dersim. Weil er an einer Boykottaktion aufgrund des pogromartigen Massakers rechtsradikaler Islamisten und Paramilitärs an Aleviten in Maraş teilnahm, wurde er an eine Schule in der westanatolischen Stadt Afyon verbannt. Seinen Dienst antreten konnte Sincar dort aber nicht, da er von rechtsextremen Gruppen bedroht wurde. Foto: Cihan Sincar

 

Die tödlichen Schüsse auf die parlamentarische Delegation kamen von mehreren Unbekannten. Ein anonymer Anrufer übernahm wenig später im Namen der „Türkischen Rachebrigaden“ (Türk İntikam Tugayları, kurz TİT) die Verantwortung für den Anschlag. Die paramilitärische Organisation des tiefen Staates hatte bereits in den 70er Jahren Attentate auf kurdische Zivilist:innen und politische Morde verübt, als die Konflikte zwischen links und rechts herbeigeführt wurden.

Die kurdische Politikerin Leyla Zana, die damals Fraktionskollegin von Sincar war, berichtete am 5. September 1993: „Die staatliche Konterguerilla hat den Mordanschlag gesteuert. Am Tag des Attentats verschwanden seltsamerweise sämtliche Polizisten, die die Parlamentarier seit ihrer Ankunft in Batman scharf überwacht hatten. Drei Minuten nach dem Anschlag hatten die Sicherheitskräfte jedoch bereits die gesamte Stadt abgeriegelt und eine Ausgangssperre verhängt.“ Die Regierung hatte derweil nichts anderes zu tun, als nacheinander die PKK, armenische Kreise und die religiös-extremistische Terrororganisation Hizbullah (nicht zu verwechseln mit der Hisbollah im Libanon) der Urheberschaft zu beschuldigen.

Der Susurluk-Skandal

Im November 1996 kam es an der nördlichen Ägäis in der Nähe der Stadt Susurluk zu einem Verkehrsunfall, der die Verflechtung von Staat, organisierter Kriminalität und Politik und die Existenz eines geheimen Konterguerilla-Netzwerkes zu Tage fördern sollte: Der tiefe Staat. In dem gepanzerten Mercedes-Benz 600, der auf einen einbiegenden Lastkraftwagen prallte, befanden sich der wegen mehrfachen Mordes und Heroinhandels per Interpol gesuchte Abdullah Çatlı, der zudem Funktionär der faschistischen „Idealistenverbände“ war, der hochrangige Polizeifunktionär Hüseyin Kocadağ, ehemals Kommandant der Spezialkräfte in Colemêrg (Hakkari) sowie Vize-Polizeichef von Diyarbakir, der Parlamentarier Sedat Bucak und die einstige Miss Türkei, Gonca Us. Von den vier Insassen überlebte nur Bucak, ein kurdischer Stammesführer aus Sêwreg (Siverek) und Mitglied der damaligen Regierungspartei (DYP) von Tansu Çiller, der in seinem Heimatort über eine Privatarmee von 20.000 Dorfschützern aus 90 Dörfern des von ihm kontrollierten Clans gegen die PKK verfügte. Für die Bereitstellung der Dorfschützer bezog Bucak staatliche Gelder in Höhe von monatlich 1,3 Millionen US-Dollar. Der Mafiakiller Abdullah Çatlı verfügte über Waffenscheine, einen Diplomatenpass und einen Polizeiausweis, der ausgestellt worden war vom damaligen Innenminister Mehmet Ağar. In der Benz-Limousine von Bucak wurden sieben High-Tech-Schusswaffen mit Schalldämpfern sichergestellt, außerdem Kokain.

Mehmet Sincar, seine Frau Cihan und zwei der drei Söhne © Cihan Sincar

Die Benennung des Staates als Auftraggeber des Mordes

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde gebildet. Kutlu Savaş, der vom Ministerpräsidenten beauftragte Ministerialinspektor in der Susurluk-Affäre, legte rund ein Jahr nach dem Unfall in einem 119-seitigen Bericht die Kontakte türkischer Staatsorgane zu der politischen Rechten und mafiösen Strukturen vor. Im Mord an Mehmet Sincar benannte er als Täter vier Auftragsmörder des tiefen Staates: Mahmut Yıldırım alias Yeşil, Alaattin Kanat, İsmail Yeşilmen und Mesut Mehmetoğlu. Die türkische Justiz hatte zuvor mit Cihan Yıldız und Ejder Arpa zwei Hizbullah-Mitglieder als vermeintliche Mörder des kurdischen Politikers ausgemacht. Letzterer ist auch heute noch flüchtig, Yıldız wurde 2007 in Österreich aufgrund einer Red Notice bei Interpol festgenommen und in die Türkei abgeschoben. Erst fünf Jahre später ging der Prozess mit einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe für den Mann zu Ende, unter anderem wegen elffachen Mordes. Doch im März 2019 wurde Cihan Yıldız aus dem Gefängnis entlassen, da sein Antrag auf ein faires Verfahren positiv beschieden worden war. Seitdem befindet er sich in Freiheit. Der neue Prozess gegen ihn begann ein halbes Jahr später.

Beştaş: Geiselhaft neue Form staatlicher Morde

„Der Staat hält in solchen Verfahren stets zwei Optionen bereit: Verjährung oder Straffreiheit“, sagte Meral Danış Beştaş. Es seien Entscheidungen, die den Weg ebneten, weitere Kurdinnen und Kurden zu töten. „Wir leben in einem Land, in dem nicht die Mörder bestraft werden, sondern die Opfer. Dies geschieht trotz einer erdrückenden Last an Beweisen. Die Täter werden belohnt.“

Die Mentalität jener, die gestern kurdische Politikerinnen und Politiker ermorden ließen, spiegelt sich heute in der Geiselhaft inhaftierter Kolleg:innen wieder, führte Beştaş weiter aus. Dies sei die neue Form staatlicher Morde. „Sie sollen wissen, dass wir die Mörder und ihre Beschützer kennen. Ihre Drohungen von heute werden keine Wirkung auf uns haben. Denn wir führen einen gemeinsamen Kampf, den wir gewinnen werden. Mehmet Sincar ist ein Gefallener der Demokratie.“  

Nach türkischem Recht beträgt die Verjährungsfrist bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, dreißig Jahre. Die nächste Hauptverhandlung im Prozess zum Mordfall Mehmet Sincar, der an der 6. Großen Strafkammer zu Diyarbakir verhandelt wird, ist für den 6. September angesetzt.