Pogrom von Maraş seit 42 Jahren straflos

Im Dezember 1978 fand in Maraş ein pogromartiges Massaker rechtsradikaler Islamisten und Paramilitärs an Aleviten statt. Offiziell starben 111, nach inoffiziellen Zahlen sogar bis zu 1.000 Menschen. Die Mörder wurden nie zur Rechenschaft gezogen.

Zwischen dem 19. und 26. Dezember 1978 fand in der Stadt Maraş (kurdisch: Gurgum) ein pogromartiges Massaker rechtsradikaler Islamisten und Paramilitärs an der kurdisch-alevitischen Bevölkerung statt. Tagelang wütete ein faschistischer Mob unter der Parole des Imams Mustafa Yıldız: „Mit Fasten und Beten wird man kein Wallfahrer, wer einen Aleviten umbringt, der gewinnt so viel an Wohltätigkeit, wie wenn er fünfmal nach Mekka pilgern würde. Alle unsere Glaubensbrüder müssen sich gegen die Regierung, Kommunisten und Ungläubigen auflehnen. Wir müssen unser Umfeld von Aleviten und ungläubigen sunnitischen Anhängern der CHP säubern.“ In alevitischen Stadtvierteln wurden systematisch Geschäfte angegriffen, Menschen aus ihren Häusern herausgezerrt und auf bestialische Weise massakriert. Frauen wurden vergewaltigt und Kinder und ältere Menschen kaltblütig ermordet.

Die Tatsache, dass die alevitischen Häuser Tage zuvor penibel in Nazi-Manier markiert worden waren, erzeugte den Eindruck eines gezielten und gut durchdachten Massenmords. Der Staat griff tagelang nicht ein, Sicherheitskräfte zogen sich in ihre Häuser zurück und sahen von ihren Fenstern aus zu. Offiziell starben 111, nach inoffiziellen Angaben zwischen 500 und 1.000 Menschen bei den Übergriffen. Hunderte weitere Alevitinnen und Aleviten wurden bei den Überfällen verletzt.

Die Mörder von Maraş sind nie zur Rechenschaft gezogen worden, und das Pogrom hat wie andere Massaker nie einen Raum in der aktuellen Geschichtsschreibung der Türkei gefunden. Eine historische Aufarbeitung wird den Opfern verwehrt, das Pogrom wird als „Ereignis“ abgetan. Ein Gedenkort in der nunmehr fast ausschließlich von sunnitischen Türken bewohnten Stadt fehlt bis heute. Anlässlich des 42. Jahrestags des Pogroms von Maraş veröffentlichen wir einen Artikel aus dem Jahr 2018, der die Dimensionen der Massaker in Erinnerung ruft:

Am 19. Dezember 1978 sollte in Maraş (kurdisch: Gurgum) im Çiçek-Kino der Film „Zeynel und Veysel“ vorgestellt werden. Kurz zuvor wurde der Film „auf Wunsch“ ausgetauscht und das extrem-nationalistische Machwerk „Wann geht die Sonne auf“ gezeigt. Der antikommunistische Streifen dreht sich in extrem türkisch-nationalistischer Weise um den Kampf der „Türken“ auf der Krim gegen Russland. In der damals linken Hochburg Maraş detonierte während der Filmvorführung eine Schockgranate. Die Granate, die niemanden verletzte, bot den Vorwand und Auftakt für den Mord an Hunderten kurdisch-alevitischen Männern, Frauen und Kindern.

Vor 1978 hatte es zuvor in der Türkei wichtige Entwicklungen gegeben. Als bei den Wahlen 1977 die CHP unter Ecevit gewann, ging die geschwächte nationalistische Rechte zum Angriff über.

Schritt für Schritt zum Massaker

Die erste Nachricht kam aus Erzîrom (Erzurum). Dort war der Dozent Dr. Orhan Yavuz von Rechten entführt, mit acht Messerstichen verletzt und zum Sterben in einem Waldstück zurückgelassen worden. Noch bevor die Todesnachricht von Yavuz verklungen war, wurde ein Jugendlicher beim Plakatieren in Ankara und der Vorsitzende des Volkshauses von Fatsa ermordet. Danach starben fünf weitere Linke bei einem Gefecht in Ankara. Die Zahlen der Toten stiegen täglich, die Überschriften der Zeitungen brachten jeden Tag eine neue Todesnachricht und die Unruhe nahm zu. Eine Nachricht folgte auf die andere; in Ankara wurden drei Cafés und in Kilis ein Lehrerlokal mit Kugeln durchsiebt, an der Universität Istanbul wurden 44 Studierende bei einem Bombenanschlag schwer verletzt.

Die „nicht endende Wut“ der nationalistischen Jugend wurde vom damaligen Führer der MHP, Alparslan Türkeş, angeheizt. Er hatte gesagt: „Diese Regierung wird mit Sicherheit verschwinden!“, „Das ist erst die Warnung“ und bereitete so den kommenden Massakern den Weg. Das Morden ging weiter. Diesmal wurden sieben Personen in Ankara durch Kugeln hingerichtet aufgefunden. Ein Bus der Stadtverwaltung von Ankara wurde mit Kugeln durchsiebt, zwei Menschen getötet und mehr als zwanzig verletzt. Ständig wurden Paketbomben an Bürgermeister, Gouverneure etc. geschickt. Dabei ging es darum, eine Grundlage für ein Militärregime zu schaffen. Der beste Weg dafür war, das Land in einen Bürgerkrieg zu steuern. Die Rechten, die den Putsch vorbereiteten, versuchten in den Städten die Sunniten gegen die Aleviten aufzuhetzen und verbreiteten Angst und Schrecken. Dies galt insbesondere für Xarpêt (Elazığ), Ezirgan (Erzincan), Gurgum und Meletî (Malatya). In diesen Städten sollte ein Kampf zwischen Sunniten und Aleviten herbeigeführt werden, wobei die Aleviten als links und die Sunniten als rechts definiert wurden.

In den kurdischen Städten herrschte die Assimilation, der Staat hatte die Demografie verändert und sich insbesondere durch das Sunnitentum organisiert. So wurde die Basis für den kurdisch-türkischen Konflikt gelegt. Zu sagen, man sei Kurde, wurde als Verstoß gegen den Islam unterdrückt. Die kurdischen Sunniten in den Großstädten wurden auf diese Weise turkisiert und in Stellung gegen die Aleviten gebracht.

Die Bombe vom 19. Dezember

Die Rechte setzte alles daran, um die Regierung zu beseitigen und einen Militärputsch durchzusetzen. Offensichtlich reichten die täglichen Todesmeldungen einigen nicht und sie bereiteten ein größeres Massaker vor.

Am 19.  Dezember wurde trotz tagelanger Ankündigung in letzter Minute statt des geplanten Films der nationalistische Hetzfilm „Wann wird die Sonne aufgehen“ gezeigt. Die nationalistische Jugend schaute sich den Film geschlossen an, als eine Schockgranate im Kinosaal explodierte. Die Menschenmenge rannte aus dem Kino und schrie: „Die Linken haben das Kino bombardiert.“ Die Nachricht verbreitete sich rasend in der gesamten Stadt. Eine Menschenmenge strömte unter dem dschihadistischen Schlachtruf „Tekbir“ und schrie: „Wir wollen keine Aleviten“. Die Bevölkerung sollte aufgestachelt werden. Der Nationalistische Jugendverein (ÜGD) brachte Faschisten aus den umliegenden Orten in die Stadt. Sie riefen „Auch wenn unser Blut fließt, der Sieg gehört dem Islam“ und griffen das Gebäude der CHP an.

Der Angriff wurden von dem Vorsitzenden der ÜGD-Maraş, Mehmet Leblebici, und seinem Stellvertreter Mustafa Kanlıdere angeführt. Die Bombe im Kino war von Ökkeş Kenger gelegt worden. Alle diese Namen werden später auf der politischen Bühne eine wichtige Rolle spielen.

Parole: „Tötet die Aleviten“

Diejenigen, die glaubten es sie ein normaler Aufstand irrten sich. Die Planer hatten den Befehl für ein Massaker ausgegeben, das in die Geschichte eingehen würde. Noch bevor die Unruhe sich gelegt hatte, detonierte am Abend des 20. Dezember in einem alevitischen Café eine Bombe. Es gab dutzende Verletzte, die aus Angst nicht in Krankenhaus gehen konnten. Am 21. Dezember wurden zwei alevitische Lehrer ermordet.

Das, was auf der Beerdigung der Lehrer geschah, kündet von der Gewalt die folgen sollte. Der Imam der Bağlarbaşı-Moschee Mustafa Yıldız, in welche die Leichen der Lehrer gebracht werden sollten, sagte in seiner Predigt: „Mit Fasten und Beten wird man nicht zum Hadschi, jeder der einen Aleviten umbringt erreicht soviel Gnade Gottes, wie als wäre er fünfmal auf die Hadsch gegangen. Alle meine Glaubensbrüder müssen gegen die Regierung, die Kommunisten und die Ungläubigen aufstehen; wir werden unsere Umgebung von den Aleviten und den Atheisten von der CHP säubern.“ Nach der Predigt zog die Menge unter der Parole „Aleviten beten nicht“ los und griffen die Teilnehmer der Beerdigung an. Der faschistische Mob zog anschließend durch die Stadt und verwüstete alevitische Läden. Bei den Kämpfen kamen an diesem Tag drei weitere Menschen ums Leben.

Das große Massaker beginnt

Am folgenden Tag zogen bewaffnete Faschisten erneut durch die Straßen behaupteten, die Aleviten würden sich auf einen Angriff vorbereiten. Sie riefen die sunnitische Bevölkerung auf, sich zu bewaffnen. Nicht nur das, sie verteilten Waffen an die Bevölkerung der sunnitischen Viertel. Dann begann das große Massaker. Die Faschisten griffen jeden an, den sie für „kommunistisch, links, alevitisch, ungläubig oder gottlos“ hielten. Sie verwüsteten und brandschatzten. Jeden, den sie sahen brachten sie um. Die Polizei war die Institution, dies sich von Anfang an an die Ausgangsperre hielt. Aus Ankara kam weder militärische Hilfe, noch wurde das Thema überhaupt diskutiert. Niemand außer Faschisten, die auf Lastwagen geladen und nach Maraş gebracht wurden, betrat die Stadt.

Die Faschisten griffen neben den alevitischen Stadtvierteln Yenimahalle, Serintepe, Mağaralı, Karamaraş, Yörükselim auch alle anderen alevitischen Viertel von allen Seiten an. Sie markierten zunächst die Türen der Häuser mit Kreuzen, bevor die Häuser beschossen, bombardiert und angezündet wurden. Den brennenden Häusern schaute man zu. Für die Verletzten gab es keine Hilfe, sie verstarben vor Ort. Diejenigen, die versuchten in ein Krankenhaus zu kommen, wurden erschossen, die Leichen konnten nicht weggebracht werden. Frauen, Kinder, Junge, Alte, Schwangere und Kranke; alle wurden umgebracht. Während all ddas geschah, rieben sich die Rechten die Hände und zählten die Tage bis zum Putsch.

Nach offiziellen Angaben wurden beim Massaker von Maraş 111 Personen getötet. Inoffizielle Quellen halten eine Zahl von 500 Ermordeten durchaus für möglich und kritisieren die niedrigen offiziellen Angaben. Es wurden mehr als 200 Häuser und etwa 70 Läden zerstört. Am 26. Dezember lebte kein einziger Alevit mehr in der Stadt. Die Überlebenden waren aus der Stadt geflohen. Die türkischen Medien stellten die Geschehnisse als Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken dar. Die rassistischen Medien zeichneten das Bild von Toten in einer Auseinandersetzung und verleugneten den Charakter des Massakers an der Zivilbevölkerung. Die internationalen Medien griffen dies auf und stellten dies in den Kontext eines sich entwickelnden Bürgerkriegs in der Türkei und eines „Durcheinanders“ im Mittleren Osten.

Was hat der Staat verborgen?

Das Massaker von Maraş wird als entscheidender Auslöser für den Militärputsch vom 12. September 1980 betrachtet. Nach dem Massaker wurde der Wunsch nach dem Notstand erfüllt und über 13 Städte eine Ausgangssperre verhängt. Aber die Verantwortlichen für das Massaker, die MHP zeigte sich wiederrum nicht zufrieden. Das politische Klima entwickelte sich nicht in ihrem Sinne. Der Prozess wegen des Pogroms von Maraş dauerte bis 1991. Über 800 Menschen standen vor Gericht. Einer der bekanntesten Angeklagten des Massakers war Ökkeş Kenger (später änderte er seinen Namen in Şendiller); er wurde freigesprochen. Şendiller zögerte nicht, sich ins politische Leben zu stürzen. Im Jahr 1991 wurde er zum Abgeordneten der islamistischen Refah-Partei in die türkische Nationalversammlung gewählt. Er wird immer als Auslöser des Massakers und Auftragsmörder in Erinnerung bleiben. Auch seine Weggefährten stiegen in die Sphären der Macht auf. Ünal Osmanağaoğlu, Haluk Kırcı, Bünyamin Adanalı, Ahmet Ercüment Gedikli… sie alle waren damals in Maraş, aber die Verfahren gegen sie wurden 1991 im Rahmen des Antiterrorgesetzes eingestellt. Nur zwei Jahre später wurde am 2. Juli 1993 in Sivas (kurdisch: Sêwas) ein Massaker an alevitischen Intellektuellen und Künstler*innen verübt. Die Geschichte zeigt: Wenn das Massaker von Maraş wirklich gerecht verfolgt worden wäre, dann hätte es das Pogrom von Sivas nicht gegeben.